Montag, 10. Oktober 2011

Jeder darf mal



Die Spielwiese des Herrn ist groß. So groß, dass, wo ein gefräßiger Bulle sich den nimmersatten Wanst vollhaut, auch ein goldenes Kälblein ein wenig abgrasen darf. Am gestrigen Sonntag, dem Tag des Herrn, gab es auf Wall Street, New York City, eine feierliche Prozession, in deren Mittelpunkt ein schwer symbolträchtiges goldenes Kalb stand, wenn auch nur eines aus Pappmaché, aber immerhin.

Das biblische Pappkalb hörte auf den Namen "Gier" ("greed") und trampelte als solches in Nachtigallenlautstärke in den metaphorischen Fußspuren seines bulligen großen Bruders, der sich vor lauter Schreck über die jungdynamische Konkurrenz flunderflach weggeduckt haben soll.


Die Kalbs-Show ging auf das Konto einer Gruppe interkonfessioneller Geistlicher, die damit 1. ihre Solidarität mit #occupywallstreet, 2. ihren religionsmythologisch hinlänglich dokumentierten Abscheu vor der Götzenverehrung des Geldes und 3. das zum Ausdruck brachte, was momentan fast jeder zum Ausdruck bringt: Wie schön, dass es plötzlich eine attraktive Protestbewegung gibt, an die man sich so easy andocken kann, nachdem andere die Dreckarbeit an der Basis verrichtet haben.

Es bedarf dazu - nebst eines zünftigen Pappkalbes - nur eines zündenden Slogans und schwupp, schon sitzt man komfortabel auf dem Trittbrett der protestierenden 99 Prozent und muss dann nur noch in Sprechchören singen: "Jesus is with the 99 %."

Jessas aber auch.

9 Kommentare:

  1. Ich bin sehr angetan von deinen Zeilen, den Bildern, dem Witz, hoffe aber, dass du mit deinem Pessimismus nicht Recht behälst. Die Rede von den 99% gehört meiner Meinung nach zu den Gerüchten, die mit böser Absicht gestreut werden, um die Occupy-Initiativen im Keim zu ersticken. Ich weiß nicht, wer die 99% erfunden hat, vielleicht jene Politiker (wie Obama) oder Banker, die im Augenblick den Versuch machen, den wenigen Kritischen und Aktiven durch Umarmung die Luft zum Atmen zu nehmen. Im Augenblick sehe ich die Dinge mit anderen Augen. Es ist ein Wendepunkt erreicht, die TINA-Politik ist am Ende, der Neoliberalismus in der Ecke, seine Muster sind fadenscheinig geworden. Meine Hoffnung: Es sind nicht 99%, aber vielleicht kriegen die den Hintern hoch, denen es unterm Arsch brennt. Sie müssen sich verweigern und zugleich teuer machen. Es nimmt ihnen niemand etwas ab.

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  2. Die "99%" sollen keinen exakten statistischen Wert abbilden, vielmehr handelt es sich um eine schlagkräftige rhetorische Figur, die von #ows gezielt benutzt (wer die "99%" letztendlich "erfunden" hat, weiß ich nicht) und, am wichtigsten, von breiten Bevölkerungsschichten auf Anhieb verstanden wird. Also definitiv kein "Gerücht", sondern der auf #occupyamerica-Sloganpappen derzeit der am häufigsten zu lesende Spruch.

    Ich und pessimistisch? Jetzt aber! Woran liest du denn das ab? Nimm das sofort zurück ;)!

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  3. Meiner Meinung nach entstammen die 99% der grob gerundeten Werteverteilung, nach der die Hälfte der Besitztümer einem Prozent der Bevölkerung zuzuordnen sind, während sich 99 Prozent die um die andere Hälfte kloppen dürfen.

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  4. @ Mrs Mop und @ R@iner
    O.K., es wird so sein, wie ihr das sagt und ich habe eine Infolücke. 99% als Parole heißt dann: wir wollen soviele werden, was dann aber auch nicht glücklich gewählt ist, weil es etwas super-übertriebenes hat und die Lethargie befördert. Sei wie es sei - es bleibt dabei: Die müssen den Hintern hoch kriegen, denen es zu warm geworden oder immer schon zu kalt gewesen ist, ob das nun 99% werden oder "nur" 9% s i n d, die es tun - schon das wären so wunderbar viele, dass man sagen kann, der spinnt, der sowas erwartet. Das wäre der qualitative Sprung.

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  5. @Ernst Otte: Die 99 beinhaltet zwei Informationen an die Zielgruppen: "Wir sind viele" und "Ihr seid wenige".

    Vielleicht hast Du ja Lust, das folgende zu lesen: Feynsinn - "15.10.: Ich hab nen Hals und trag ihn auf die Straße"

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  6. Tz tz tz, fast schäme ich mich, bemühe ich mich doch im allgemeinen um einen gewissen Informationshintergrund. Natürlich habe ich vielfach die 99% gesehen, aber die diesbezüglichen Kontexte immer überlesen, weil mir die Zahl nicht behagte bzw. mein Vorturteil und Verdacht gegen eine bestimmte Propaganda (siehe oben) stark waren. In der Medienforschung gibt´s die Rede von der Vermeidung einer kognitiven Dissonanz beim Lesen oder Hören. Man liest nur das, was man lesen möchte. Danke für eure Geduld. An sich finde ich den jetzt endlich wahrgenommenen Slogan nicht blöd.

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  7. Gratuliere ;)!

    Ich denke, in Zeiten wie den unseren ist das Zulassen von kognitiver Dissonanz der entscheidende Schritt, um mental die richtigen Weichen zu stellen.

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  8. *bigsmile*

    Einen gutgelaunten, erfolgreichen 15. Oktober in Hamburg!

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