Das Leben schreibt Geschichten, die glaubt kein Mensch.
Sind aber wahr, ich schwöre es.
Wie ich heute früh unausgeschlafen (die
gestrigen Aufwallungen haben mich senkrecht im Bett stehen lassen) aufs Restaurant zu radle, trifft mich fast der Schlag: Das Fernsehen ist da. Mit mal locker 15 bis 20 Mann (und Frau), Kameras, so weit das Auge reicht, das Lokal von außen grell von Scheinwerfern angestrahlt - bitte, um sechs Uhr morgens! -, der Wahnsinn, und zwar der helle. Es riecht nach
action, so was gefällt mir immer. Ich bin wach.
Drinnen eine noch wuseligere Szenerie: Kameras, Scheinwerfer, Kabelrollen, Leinwände und Menschen, Menschen, Menschen, von denen ich nur einen einzigen kannte, nämlich Frau Übermop, und die erkannte ich sofort an ihrer wadenlangen weißen Schürze, weil beim Fernsehen offenbar konsequent schwarz getragen wird.
Beim Betreten des Restaurants steuerte mich ein wichtig aussehender TV-ler - schwarze Jeans, schwarzes Polo - an und fragte mich höflich, ob ich die Geschäftsführerin sei, was ich zu meinem Leidwesen verneinen musste, worauf er leicht schwerenöterisch weiterfragte, ob ich die Frau des Geschäftsführers sei, was ich wiederum verneinte, wenn auch nicht zu meinem Leidwesen. Daraufhin verlor das schwarze Polo das Interesse an mir. Ich strebte weiter Richtung Küche.
Auf dem Weg dorthin fing mich eine wichtig aussehende Frau mit schwarzem Jackett und schwarzer Hornbrille ab und fragte mich, ob ich die Schauspielerin sei. Da ich inzwischen, wie gesagt, hellwach war, haben mich augenblicklich meine gestrigen Bühnenphobien eingeholt und ich konnte nicht anders als zu antworten: Ja, aber ich glaube nicht die, die Sie suchen. Die Hornbrille guckte irritiert. Mir war es für einen Moment lang wurscht. Dann meinte die Hornbrille verwirrt: "Wieso, Sie sind doch genau der Typ, den wir besetzt haben", eine Bemerkung, die mir keine Spur aus meinem Hangover herausgeholfen, vielmehr mich noch tiefer in die kurze Wahnvorstellung getrieben hat, dass ja eigentlich das Fernsehen ruhig mal einen Film über eine akademische Putzfrau drehen könnte, besetzt mit einer akademischen Putzfrau.
Na ja. Lange lässt sich so eine Halluzination nicht aufrechterhalten. Ich drückte mein grundehrliches Bedauern hinsichtlich der Verwechslung aus und strebte weiter Richtung Küche. Stieg wie ein Storch über Kabelsalate. Fast hatte ich es bis zum Kücheneingang geschafft, da empfing mich hinterm Tresen eine dreiviertelwichtig aussehende Frau mit schwarzem T-Shirt, einem schwarzen Klemmbrett in der einen sowie einem - ich kann nichts dafür - schwarzen Kugelschreiber in der anderen Hand. "Sie gehören zu den Komparsen, richtig!" Richtig - sie fragte nicht, sie stellte fest.
Es half nichts, auch von dieser meiner letzten Castingchance musste ich mich verabschieden. Hach, wäre ich gern Komparse gewesen; wenigstens Komparse. Es hat nicht sollen sein. Stattdessen quetschte ich das schwarze Klemmbrett aus, was hier eigentlich abginge.
Dreharbeiten zu einem Spielfilm, erfuhr ich. Aha, deswegen waren die ganzen Brauereilogos verhängt und Sonnenschirme entfernt worden. Von wegen Schleichwerbung, Product Placement, pfui. Etwa Tatort?, fragte ich hellauf begeistert, weil, das hätte mir schon gefallen, einen regional verdichteten Krimi an meinem Arbeitsplatz zu drehen, mit so bisschen Gastrofolklore. Ich weiß von gußeisernen Pfannen, denen das Potential fliegender Untertassen nachgesagt wird.
Nein, erklärte das Klemmbrett, es handle sich um einen eher leichten Filmstoff, zwar mit Problemhintergrund, aber am Ende werde alles gut. Die Hauptfigur, eine Frau, durchlaufe ein schweres Schicksal und habe es nicht leicht im Leben (wieso ist der Stoff dann leicht?), komme am Schluss aber mit heiler Haut davon (ach so). Mehr denn je interessierte ich mich für die Rolle der Hauptdarstellerin. Hielt natürlich den Mund. Frau Übermop guckte schon, wieso die ganzen TV-ler mich anquatschten. Wahrscheinlich weil ich keine weiße Schürze trug.
Weil die Küche zu einem völlig fachfremden Kabel- und Gerätelager umfunktioniert worden war, beließ ich dort alles im Urzustand und widmete mich der Kellerreinigung. Im Keller wird man von keinem TV-ler angequatscht, kann sich vielmehr so ungestört wie methodisch dem Wahn hingeben - das entspannt.
Kurz nach acht kam der italienische Feinkostlieferant stoßatmend die Kellertreppe herunter, beladen mit dreimal so vielen Gemüsekisten wie sonst. "Muss leise sein auf der Treppe, haben die Leute vom Fernsehen gesagt", keuchte er beim Absetzen der Kisten. Kurz darauf erschien der deutsche Hähnchenmann (so nennt Frau Übermop den Geflügellieferanten), auch er ein Opfer der Lärmschutzmaßnahmen, gefolgt vom Ehemann der spanischen Putzfrau aus dem ersten Stock, der vor dem "Wahnsinnskrach dieser Fernsehleute" geflohen war. Nur wenig später kam Frau Übermop die Treppe herunter, brummte kopfschüttelnd "...die haben doch alle ein Rad ab", und hockte sich auf die unterste Kellerstufe - etwas, was Frau Übermop sonst niemals machen würde.
Der Keller füllte sich. Zehn vor neun stand die senegalesische Küchenhilfe auf der Treppe: Die Fernsehfuzzis hätten ihr gesagt, sie dürfe die nächsten zwei Stunden keine Kartoffelgratins in der Küche zubereiten, weil der Backofen dringend als Zwischenlager für Spezialkabel benötigt werde und die beiden Spülen von Ersatzstativen blockiert seien. Mit genervtem Augenaufschlag ließ sie sich längs auf der zweituntersten Kellerstufe nieder, schlug graziös die unglaublich langen Beine übereinander, stützte das Kinn in die Hand und sagte gedehnt unter schweren Lidern: "Je m'ennuie." Ich langweile mich. (Französisch ist Landessprache in Senegal.)
Ich bekam erneut einen leichten halluzinatorischen Schub und fragte sie, ob sie Marlene Dietrich kenne.
Moi, je m'ennuie. Sie fragte, wer Marlene Dietrich sei. Ich antwortete: So eine wie du, bloß in weiß. Sie lachte und meinte, sie könne sich nicht vorstellen, dass "
cette Marlène" sich ihr Geld mit Gemüseschneiden in einer Restaurantküche verdiene.
Da war ich wieder im richtigen Film.