Es ist mir ein Bedürfnis, mal was Grundsätzliches zum Camp #occupyfrankfurt, zum Leben im Camp, zur Interaktion, zur Dynamik und zu der ganzen unerfreulichen Kiste mit den Infiltrationsversuchen (von mehr als nur einer bestimmten Seite) zu sagen.
Der einzigartige Charakter dieses Camps - offen für jeden, der mitmachen möchte - bringt es mit sich, dass sich hier die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten biografischen, politischen und weltanschaulichen Hintergründen treffen. Oft erlebe ich, wie bei der Außenbetrachtung des Camps eine Homogenität in das Camp hineinprojiziert wird, die hier nicht existiert. Das, was hier passiert, ist auf fast allen Ebenen das glatte Gegenteil von Homogenität. Es ist ein wildes Durcheinander von Menschen, die vor knapp zwei Wochen beschlossen haben, ihre Zelte aufzuschlagen, jeder einzelne aus seinen ureigenen Motiven, deren gemeinsamer Nenner eine Kritik/Unzufriedenheit am derzeitigen System ist.
Keiner dieser Menschen (von ein paar Eingeweihten und Initiatoren abgesehen) hatte zu jenem Zeitpunkt vor zwei Wochen auch nur irgendeine andere Menschenseele hier gekannt. Wir waren uns wildfremd. Wir hatten keine Ahnung, wer im Nachbarzelt lag. Wir hatten noch weniger Ahnung, was in all diesen anderen, wildfremden Köpfen vor sich ging. Zunächst war uns das auch zweitrangig, denn unser oberstes Anliegen war ganz klar: in dieser kleinen Zeltstadt von Wildfremden eine Infrastruktur aufzubauen, die halbwegs funktioniert und den menschlichen Basisbedürfnissen gerecht wird (schlafen, essen, Wärme, Wasser, Stromversorgung über Generatoren, Sicherheit besonders nachts usw. usw.).
Täglich kommt es vor, dass diese Infrastruktur - die im Prinzip steht - partiell wieder zusammenbricht, weil halt irgendetwas Unvorhergesehenes passiert oder etwas schief läuft oder, im Einzelfall, gezielte Sabotageakte stattfinden. Täglich entstehen teils massive Konfliktsituationen aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Camps zum Frankfurter Bahnhofsviertel. Täglich stehen wir vor der Herausforderung des organisierten Diebstahls und des Missbrauchs der von uns geschaffenen Infrastruktur. Und jeden Tag, den der Herrgott gibt, raufen wir uns irgendwie zusammen und bringen das, was aus dem Ruder läuft, wieder in einen Zustand der - prekären - Balance, in dem alle in Ruhe schlafen, essen, sich wärmen und miteinander leben können. So lange, bis das nächste Ding aus dem Ruder läuft.
Das permanente Aufrechterhalten dieser Infrastruktur ist auch deshalb so wichtig, weil täglich neue Menschen zum Camp stoßen. Neue, wildfremde Menschen, die keiner von uns 'Altcampern' kennt; wildfremde Menschen, von denen keiner eine Ahnung hat, was in deren Köpfen vorgeht (siehe oben). Es geht also, in gewissem Sinne, jeden Tag, den der Herrgott gibt, wieder von vorne los, um die Neuankömmlinge in die bestehende Infrastruktur zu integrieren oder um diese Infrastruktur zu erweitern und zu stabilisieren oder um erneut Hand anzulegen, weil halt wieder mal irgendetwas zusammengekracht ist, ein Zelt aufgeschlitzt oder ein Hauptkabel zerlegt wurde.
Inmitten dieses alltäglichen Gewusels und Geschaffes, dem dabei naturgemäß stattfindenden Sichkennenlernen, Sichnäherkommen, Sympathien entwickeln, Antipathien entwickeln - schlagen wir uns jetzt mit den Problemen (auch: Gerüchten!) des Unterwandertwerdens herum. Da den 'Unterwanderern' die Unterwanderungsabsichten nicht auf der Stirn geschrieben stehen, haben wir damit zu leben, dass die Unterwanderer mitten unter uns leben.
Um es ganz platt zu sagen: Es gibt kein "Wir" (die 'Guten' mit den lauteren politischen Absichten) und "die anderen" (die 'Bösen' mit den unlauteren Hintergedanken), denn diese dubiosen "anderen" gehören automatisch zum "Wir", ob "uns" das passt oder nicht. Wir müssen damit leben. Es geht nicht anders. Es ist ein offenes Camp, dessen Stärke und Schwäche darin besteht, dass es ein offenes Camp ist.
Alles, was "wir" tun können, um professionellen Hijackern das Handwerk zu legen, ist: wachsam bleiben, ohne paranoid zu werden; offen nach allen Seiten bleiben, ohne blauäugig zu werden; das ungute Gefühl ertragen, dass der nette Kumpel von gestern abend möglicherweise ein Fall von einstudierter Nettigkeit war; gesundes Misstrauen entwickeln, ohne sich vom Misstrauen beherrschen zu lassen. Mit einem Wort: sich nicht verrückt machen lassen. Denn wenn wir alle anfangen am Rad zu drehen, ist das Ende des Camps vorprogrammiert.
Es gab hier schon Tage, da waren Zersetzungsprozesse in der Camp-Atmosphäre mit Händen greifbar - du läufst da durch, hörst dich hier um, redest dort mal mit jemandem, bleibst einfach mal irgendwo stehen, um alles auf dich wirken zu lassen und spürst, dass etwas Zersetzendes am Gären ist. Vorgestern war so ein Tag. Fühlte sich grässlich an. Du denkst: Mist, das Ganze geht den Bach runter.
Und dann geschehen merkwürdige - kann man sagen: 'gruppendynamische'?, ich weiß es nicht, bin an der Stelle völlig überfragt - Prozesse, die dazu führen, dass das gesamte Camp sich wieder fängt und in die Spur findet; als ob das Camp einen kollektiven Beschluss gefasst hat, sich gemeinsam am Schopf aus dem Zersetzungsmorast wieder herauszuziehen. Nur: Da hat niemand etwas beschlossen, da wurden keine Durchhalteparolen ausgegeben, da hat keine Plenumsdiskussion stattgefunden, da steht nichts Sinngemäßes am schwarzen Brett, und trotzdem - das Camp fängt sich und lässt es nicht zu, dass die vom Umkippen bedrohte Atmosphäre länger als einen Tag andauert. Diese Stärke, diesen Willen, diese unsichtbare Integrationskraft zu erleben ist etwas sehr Einzigartiges. In solchen Momenten liebe ich das Camp.
Ich muss aus meiner persönlichen Sicht dazu sagen: Es kommt vor, dass sich im Laufe nur eines Tages meine Einschätzung des Camps bzw. #occupyfrankfurt mindestens zehnmal ändert. Es gibt Tage, da bin ich nur am Fluchen, weil mich alles nervt. Während der letzten zwölf Tage habe ich bestimmt schon fünfmal beschlossen, mein Zelt abzubrechen und nachhause zu gehen. Das Komische ist: Ich bleibe. Egal, wieviel ich fluche, genervt bin oder an schlechten Tagen denke: ist doch alles für die Katz'. Ich stehe dann ganz erstaunt neben mir und nehme zur Kenntnis: Nanu, du bist ja immer noch hier.
Ja. Sieht so aus, als ob ich bleibe. Und viele andere bleiben auch. So weit ich das mitbekomme, springt hier kaum einer ab. Obwohl fast alle, die ich kenne, temporär am Fluchen sind und mal wieder die Schnauze gestrichen voll haben. Manchmal fluchen, schimpfen und lästern wir mit vereinten Kräften, um anschließend festzustellen: Das war jetzt wie eine erfrischende Dusche, hat gut getan, hat gereinigt, hat Raum geschaffen für Konstruktives, Freundschaftliches, Politisches, Wichtigeres als situatives Verstimmtsein. So etwas trägt, gibt Kraft und macht immer neugieriger auf das, was dieses Camp noch so alles hervorbringt.
Und dann diese Begegnungen vor dem Küchenzelt, wenn der Hunger zuschlägt:
"Wie, du bist ja immer noch da?"
"Klar, wo soll ich denn sonst sein?"
"Sagtest du nicht gestern, du wolltest...?"
"Spinnst du?"
"Nö, aber sagtest du nicht gestern...?"
"Mensch, das war gestern!"
"Ach so. Kann es sein, dass du gestern ein bisschen gesponnen hast?"
"Kann sehr gut sein."
"Ist ja auch egal. Hauptsache, du bist immer noch da."
Und dann holen wir uns heiße Suppe und setzen uns ins Gras und die Sonne scheint und das Camp wuselt um uns herum und wir schlürfen geräuschvoll Suppe und gucken uns an und müssen fürchterlich lachen. Weil wir beide immer noch da sind. Obwohl der andere Suppenkasper bereits vorgestern angekündigt hatte, ihm würd's jetzt allmählich reichen. Wir bleiben. Und fluchen. Und schlürfen. Und lachen.
Und bleiben.