Dienstag, 31. August 2010

Steuergeschenk


Heute früh in der Kaffeepause traf mich ein scharfer Seitenblick von Frau Übermop, gefolgt von der Frage: "Was guckst du so brummig?" Ich seufzte angenervt und antwortete, ich müsse heute noch meine Einkommenssteuererklärung erledigen. "Welches Einkommen?", fragte sie halb verwundert, halb sarkastisch weiter - damit zart andeutend, dass es zumindest in unser beider gastronomischem Wirkungsbereich noch keiner vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft habe, womit sie, wie üblich, den Nagel auf den Kopf traf.

"Wer hier arbeitet, braucht Geld" ist einer von Frau Übermops Lieblingssprüchen. Ich finde, der Spruch gehört mit bunten Kreuzstichen auf eine blütenweiße Schürze gestickt und - einem Transparent ähnlich - über den Hintereingang gehängt. Normalerweise betont sie dabei überdeutlich das Wort "Geld", um klar zu machen, worum es geht. Heute brachte sie ihren Spruch wieder aufs Tapet, diesmal mit starker Akzentuierung des Wortes "braucht", um - dem Thema Steuern angemessen - zu ergänzen mit "...der hat keins zu verschenken."

Ich finde, damit ist eigentlich alles zu meiner diesjährigen Einkommenssteuererklärung gesagt. Ausgesprochen sinnig wäre es, dem Finanzamt ein nettes Grußkärtchen mit Frau Übermops Leitspruch zu schicken, mit dem Vermerk auf dem Umschlag oben rechts "Entgelt bezahlt der Empfänger" - wenn nur das Finanzamt nicht so bekannt wäre für seine humorresistente Herangehensweise. Vermutlich hätte ich die Steuerfahndung schneller am Hals als ich meine paar Kröten auf den Kopf hauen könnte.

Nützt aber alles nichts. Ich muss da jetzt durch. Morgen ist Stichtag. Ich wünschte, es wäre übermorgen.

Montag, 30. August 2010

Wiedersehensfreude


War dann doch nicht so dramatisch wie befürchtet - mein Wiedereinstieg ins prekäre Arbeitsleben. Zwar schaufelte ich mich die erste Viertelstunde auf dem Fahrrad fluchend durch gigantische Schlammhalden, Pfützen so groß wie der Bodensee und mit einer Laune zum Davonfahren. Aber merkwürdig, etwa auf halber Strecke legte sich so eine Art Hebel in mir um, und plötzlich dachte ich: Du fährst jetzt da hin, wo du hingehörst. Irgendwie war das beruhigend. Keine Ahnung, wieso.

So richtig unwiderruflich legte sich der Hebel um, kurz nachdem Frau Übermop mir die Tür im Hinterhof zum Restaurant geöffnet hatte. Dieses allmorgendliche Türöffnen hat stets den gleichen fast ritualhaften Ablauf: Frau Übermop kommt die vier Stufen vom Restaurant herab, öffnet mit einer Hand die Tür, dreht sich bereits im Öffnen wieder ab mit dem Rücken zur Tür, stapft die vier Stufen wieder hoch, ich betrete den Hausflur und stapfe ihr hinterher, sie ruft durchs Treppenhaus "Morgen!", ich rufe zu Frau Übermops langem Rücken "Morgen!". Dann betreten wir das Lokal, erst sie, dann ich, sie geht zum Tresen, schrubbt dort irgendwas, ich stelle meinen Rucksack ab und fummele meine Sachen heraus; in der Zeit dreht sich Frau Übermop zu mir um und schaut mir zu. Erst in diesem Moment sehen wir einander zum ersten Mal an - nachdem also Frau Übermop genügend Zeit zum Mich-abchecken gehabt hat. Sie ist schon ein alter Fuchs, irgendwie.

Als sie sich heute früh vom Tresen weg zu mir umdrehte, habe ich in ihr Gesicht geschaut und gesehen, dass sie sich freute. Sie freute sich, dass ich wieder da war. Das mag jetzt nach nichts Besonderem klingen, aber bei Frau Übermop kommt das einem emotionalen Vulkanausbruch gleich; sie ist halt nun mal nicht exakt das, was man sich unter einem Emo-Knuddel vorstellt. Darum war es heute früh so etwas Besonderes, als ihr kerniges, markantes Gesicht vor Freude leuchtete. Es hat mich so froh gestimmt.

Was die Übermop selbstredend nicht davon abgehalten hat, prüfend die Augenbrauen zu heben und zu meinen: "Na, so furchtbar erholt siehst du aber nicht aus", worauf ich ihr beschied, dass es normal sei um diese Uhrzeit, unerholt auszusehen, was sie zu der Bemerkung nötigte: "Unsinn - gib's zu, du hast eine Woche lang gelumpt!", worauf ich frohgestimmt die Waffen streckte und wahrheitsgemäß "Ja" sagte.

Sie schaute mich an und freute sich. Ich mich auch.

Sonntag, 29. August 2010

Herbstblues


Zwölf Grad. Dauerregen. Windböen, die einen kalten Schwall stechender Wassertropfen ins Gesicht prusten. Kommt der Windstoß ungünstig, ist die kalte Dusche fies vermengt mit der trüben Gischt aus all den riesigen Pfützen, durch die das Fahrrad rauscht. Morgen noch nasser, übermorgen noch kälter. Es ist aufs ekelhafteste Herbst geworden.

Kein Wunder also, dass mein Hund Blues breit und aufgeweckt auf dem Sofa sitzt (statt unter ihm zu liegen) und bei allem mitreden will. Das Schöne am Blues ist, dass er ein rücksichtsvoller Hund ist und mir auf dem Sofa immerhin noch eine taschentuchgroße Fläche zum Mitsitzen übrig gelassen hat. Da hocken wir also.

Das Lieblingsthema von Blues ist die mörderische Rückkehr in den Putzalltag, morgen früh, bei acht Grad, Dauerregen, Windböen, Pfützenduschen, und das auch noch im Halbdunkel eines schlechtgelaunten Tagesanbruchs. Auf dem Thema kann er stundenlang mit wachsender Begeisterung herumreiten. Ich kann es schon fast nicht mehr hören. Aber ich kenne meinen Hund, man muss ihn einfach so lange herumnölen lassen, bis er vor lauter Nölen hungrig wird, was er - gottlob - in wachem Zustand häufig wird, deshalb gehe ich uns jetzt eine gute Mahlzeit kochen, damit der verfressene Kerl endlich Ruhe gibt, denn eins steht fest: satter Hund gleich müder Hund.

Samstag, 28. August 2010

Blues in the night


Oh, oh, oh. Am vorletzten Abend meines Urlaubes regen sich bei meinem Hund Blues die Lebensgeister. Unterm Sofa herrscht Unruhe.

Ja, der Hund spürt, dass eine wunderschöne, volle, lebenspralle Zeit ihrem Ende entgegengeht. Da müssen wir jetzt durch, mein Hund Blues und ich.




Freitag, 27. August 2010

SM wie Supermarkt


Wenn es um den Einkauf von Lebensmitteln geht, sollte die Wahl des Einkaufsortes mit Bedacht getroffen werden. Nichts ist unklüger, als unter Zeitdruck zum nächstbesten Supermarkt zu rennen, um an der Kasse festzustellen, dass das dort befindliche Reptil - vulgo: Kassenschlange - sich nicht von der Stelle rührt. Und sich, zum Stillstand gezwungen, zu fragen, warum man so blöd war, trotzdem in gerade diesen Supermarkt zu rennen, schließlich kennt man seine Pappenheimer im Stadtteil (wissenschaftlich: relevant set) und weiß aus Erfahrung, wo einen welcher Stressfaktor erwartet.

Seit ich um die Firma Rewe einen großen Bogen mache, hat sich mein relevant set verkleinert, was die Wahl des Einkaufsortes ein wenig stressfreier gestaltet, denn bekanntlich fällt jegliche Art von Auswahl - ob beim Lebensmittelkauf oder beim Lebenspartner - umso leichter, je weniger Alternativen sich anbieten.

Weil es heute in kurzen Abständen mal regnete, mal nicht, entschied ich mich für den kürzesten Weg zwischen zwei Wolkenbrüchen und strebte den nächstgelegenen Supermarkt, den Discounter Penny an; wohlwissend, dass die Penny-Filiale in meinem Stadtteil ganz unten rangiert in meinem persönlichen Supermarkt-Ranking, aus mehreren Gründen:
1. Es riecht dort immer ganz dubios. Wobei schlechte Gerüche per se unerfreulich sind, aber wenn die Geruchsmischung noch nicht einmal einem bestimmten Geruchsverursacher zuzuordnen, sondern einfach nur ein barbarischer Gestankmix ist, ist meine Toleranz ausgeschöpft.
2. Der Boden dort ist fast immer klebrig, vorzugsweise an dichtfrequentierten Stellen, so dass jeder Schritt ein hässlich schmatzend-qietschendes Geräusch produziert. Mich macht das ganz krank.
3. Die Kassenschlange ist regelmäßig hypertrophiert. Meine vergleichenden Studien haben ergeben, dass sie bei Penny am längsten brauchen, bis eine zweite oder dritte Kasse geöffnet wird - eigentlich tun sie es erst dann, wenn das Reptil sich so aufgebläht hat, dass es die Fensterfront zu sprengen droht. Den richtigen ( = kundenfreundlichen) Zeitpunkt verpennen sie regelmäßig - wahrscheinlich haben sie deshalb den Laden liebevoll 'Penny' genannt.

Egal, dachte ich heute - du hast Urlaub, also Zeit, außerdem hast du Urlaubslaune, also gute Nerven. Letztere sollten auf eine harte Probe gestellt werden. Wo? An der Kasse natürlich. Es zog sich ein buntes multiethnisches XXL-Reptil durch den halben Laden. Ich hatte das Pech, direkt vor mir eine Frau mit Kinderwagen zu haben, aus dem heraus ein mörderisches Gebrüll abgesondert wurde. Neben dem Kinderwagen standen zwei kleine Mädchen; eines von beiden versuchte den Kinderwageninhalt zu besänftigen, indem es das Gefährt ganz sachte ein wenig auf und ab schaukelte, den Zeigefinger auf die Lippen legte und leise "Psst, psst" ins Wageninnere flüsterte, was das Brüllmonster völlig ungerührt ließ. Hochtourig brüllte es weiter. Das Reptil vor und hinter mir gab schnaubende Atemgeräusche von sich.

Unsanft schubste die Brüllmonstermutter das kleine Mädchen weg vom Kinderwagen, dabei schimpfend: "Lässt du meinen kleinen Jungen in Ruhe!" Das Mädchen gehorchte sofort und wich zurück. An den erschrocken aufgerissenen Augen war abzulesen, dass es die Schwester des Brüllmonsters sein musste. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Mutter je ihre Tochter "mein kleines Mädchen" genannt hat. Aus dem Kinderwagen randalierte es fortgesetzt. Die Mutter griff nach ihm und begann ihn sachte zu schaukeln, beugte sich über ihn und sagte in sanftem, fast zärtlichem Tonfall etwas zu ihrem kleinen Jungen, was ich nicht verstand und auch keiner mir bekannten Sprache zuordnen konnte. Die beiden kleinen Mädchen standen schweigend daneben und verfolgten die Szene. Der Kinderwagen brüllte weiter Zeter und Mordio.

Ob diese beiden Mädchen jemals so laut, so ausdauernd, so tyrannisch gebrüllt haben? Oder wurde es ihnen beizeiten ausgetrieben? Man weiß es nicht. Während sich das Reptil im Zeitlupentempo nach vorne schob, gingen meine Gedanken spazieren und kehrten zurück mit dem geschlechtssensiblen Sprichwort: "Mädchen, die pfeifen und Hühnern, die kräh'n, soll man beizeiten die Hälse umdreh'n." Halt so typische Kassenschlangen-Gedanken.

Schließlich kam ein Ende in Sicht: Die Kinderwagenmutter vor mir war mit Bezahlen dran.

"13 Euro 81 bitte."

Sie legte dem Kassierer eine Handvoll Kleingeld auf die Ablage und sagte:

"Ist genau gezählt, Sie nix nachzählen."

Der Kassierer wäre kein guter Kassierer, hielte er sich an diese Empfehlung. Er zählte nach. Das dauerte. Es waren viele 20- und 10-Centmünzen und noch viel mehr 5-, 2- und 1-Centmünzen. Endlich war er durch.

"Es fehlen ein Euro und 72 Cent."

Die Frau stellte sich in Pose, wies mit einer dramatischen Handbewegung auf die unzähligen Münzen und rief, keinen Widerspruch duldend:

"Ist genau gezählt - Sie nix können zählen?"

Der Mann an der Kasse bewahrte die Ruhe, schüttelte den Kopf, hielt die Hand auf und wiederholte:

"Noch einen Euro und 72 Cent, bitte."

Ein Schwall böser, nichtdeutscher Beschimpfungen ergoss sich über ihn; der Kinderwagen randalierte fortissimo; die Frau griff in ihren Einkaufswagen, zog eine Tüte H-Milch heraus, pfefferte sie dem Kassierer vor die Nase und rief in (wie mir schien, gut einstudierter) Erregung:

"Da, basta, jetzt zufrieden?"

Der Mann an der Kasse blieb bewundernswert cool, schüttelte den Kopf und sprach geduldig wie zu einem kleinen Kind:

"Sie wissen doch, dass ein Liter H-Milch weniger als einen Euro kostet."

Ohne Rücksicht auf Verluste zog die Drama Queen ihre Nummer weiter durch. Der Kinderwagen vibrierte vor Gebrüll. Zwei weitere Penny-Mitarbeiter wurden zu Hilfe geholt (die sich im übrigen längst hätten an eine zweite Kasse setzen können, aber - Penny ist nun mal Verpenny, wie schon erwähnt). Die ganze Prozedur zog sich in unerträgliche Länge. Das multiethnische Reptil gab deutliche Anzeichen der Gereiztheit von sich. Es wurde unruhig. Es wurde laut.

Als erste meldete sich die - wie immer - ungeniert sprachgewaltige italienische Fraktion zu Wort:

"Eh - pronto, pronto!",

dicht gefolgt von einem spanischen Ehepaar - sie: Fäuste in die Taille gestemmt, er: heftig Richtung Kasse gestikulierend:

"Vamosnos, senora!"

Es folgten türkische und jugoslawische Ausrufe, die ich nicht verstand, aber Tonlage wie Lautstärke waren unmissverständlich - Ärger, Genervtheit, Wut. Vor allem der Reptilschwanz war stinksauer.
Draußen ergoss sich der nächste Wolkenbruch; drinnen schien sich ähnliches zusammenzubrauen.
Auf Deutsch war zunächst nur ein verhaltenes, unverständliches Murren zu vernehmen, was dadurch als deutsch zu identifizieren war, dass es eben nur ein verhaltenes, unverständliches Murren war.
Dem Spanier war solcherart Gehemmtheit fremd; wie ja überhaupt die Südländer bei angemessener Provoziertheit die expressive Selbstartikulation bevorzugen, statt sich, wie die meisten Deutschen, erst einmal ein Magengeschwür zuzuziehen, bevor sie ihrem Ärger Luft machen.

"Ay, que puta!",

brüllte der Spanier quer durch den Laden (bitte nachschlagen, so unfeine Kraftausdrücke gebe ich nur unübersetzt wieder).
Das verhaltene deutsche Murren schwoll leicht an, blieb aber immer noch im unteren Dezibelbereich.
Die jugoslawische Front schimpfte erregt und wie immer melodisch Richtung Kasse; die Türken gaben sich lautstarkem, clan-übergreifendem Fluchen hin.

"Puta estupida!!",

steigerte sich der Spanier, um schließlich mit

"Puta madre!!!"

zur Hochform aufzulaufen.

Das Reptil war am Rocken.

Wie gesagt, die Deutschen brauchen immer einen gewissen Vorlauf, bevor sie ihre Contenance aufgeben. Offenbar war jetzt endlich der point of no return erreicht. Eine junge deutsche Mutter mit Kleinkind auf dem Arm explodierte als erste.

"Haben Sie eigentlich ein Rad ab, Sie da vorne?",

schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Der deutsche Gefühlsstau kam in Bewegung.

"Wegen Ihnen müssen wir hier alle warten, hamsiese noch alle?",

donnerte es direkt hinter mir - ein rüstiger Rentner mit Hackenporsche entlud sich. Allmählich kamen die Deutschen in Fahrt:

"Wird's bald, wird's bald - sonst helfen wir gerne nach!",

keifte es vom Schwanzende (man beachte die solidarische Wir-Form!). Aus der Ferne erkannte ich eine alte Frau, gebeugt über einen Krückstock, und der bracchiale Ton, in dem sie ihre Nachhilfe angeboten hatte, ließ keinen Zweifel offen, dass sie um die Multifunktionalität eines Krückstockes wusste.

Und ich? Ich machte Atemübungen, tagträumte von meinem Urlaub und dachte bei mir: Wie gut, dass du ein Blog hast.

Alsbald war das anfangs noch in stumm leidender Wartepose erstarrte Fossil von Kassenschlange zu einem wüst zeternden, laut brüllenden, wild fuchtelnden Reptilmonster mutiert. Der Volkszorn entlud sich so ohrenbetäubend, dass ich, die ich direkt hinter der zahlungsunfähigen Mutter samt Kinderwagen stand, basserstaunt feststellte: Im Kinderwagen war es muckmäuschenstill geworden. Was lernen wir? Vor großen Reptilmonstern haben kleine Brüllmonster Respekt. Wenn schon nicht vor Müttern und Schwestern.

Unvorsichtigerweise wagte ich, die Frau darauf aufmerksam zu machen, dass jetzt wohl ein Wort der Entschuldigung an die tobende Kassenschlange angebracht wäre, worauf sich ein bösartiger fremdsprachiger Wortschwall über mich ergoss, die Frau hoch erhobenen Hauptes den schweigenden Kinderwagen zur Tür hinausschob, gefolgt von zwei kleinen verschüchterten Mädchen, die sich noch ein paar Mal zu dem rasenden Reptil umdrehten, womit sie sich einen finalen Anschiss von ihrer Mutter einhandelten.

Ich geh' jetzt aufs Konzert. Heute wieder lange Nacht der Rumba, des Bolero und der wiegenden Hüften. Wieder multiethnisch, aber irgendwie anders, ganz anders als bei Penny.

Donnerstag, 26. August 2010

Freistil


Langanhaltender Starkregen ist ja nicht unbedingt das, was die Laune verbessert. Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel dann, wenn im Freien eine Musiksession stattfindet mit einer ganzen Flotte von unterschiedlichen Trommeln, es plötzlich anfängt wie aus Kübeln zu schütten, in wilder Hektik all die Pötte ins Trockene gebracht werden, wozu sich ein der Nähe befindliches Vordach gut eignet, und dann alle dumm herumstehen und darauf warten, dass es zu regnen aufhört.

Es hörte aber nicht auf zu regnen. Es kübelte Hunde und Katzen. Ohne Unterlass.

Irgendwann tippte einer ungeduldig mit den Fingerkuppen auf einer Conga herum, ein zweiter wuschelte aus Langeweile mit dem Besen auf dem Schlagzeug, der Regen prasselte unaufhörlich aufs Vordach, nach und nach stand hinter jedem Pott jemand und gab beiläufig, was ihm gerade so einfiel. Diejenigen, die ganz außen unterm Dach an den Instrumenten standen, wurden am Rücken und Hintern platschnass; keinen hat es geschert, denn es war schön warm.

Der Regen hat alle zum Trommeln animiert. Das Vordach vibrierte. Die Trommeln plauderten. Ein paar haben gesungen.

Es war das zauberhafteste, verrückteste Freiluftkonzert, dem ich je beigewohnt bin.

Mittwoch, 25. August 2010

Kopf verdreht


Überzeugungen sind schwer zu erschüttern, besonders wenn sie fest sind.

Ich zum Beispiel war heute den ganzen Tag felsenfest davon überzeugt, heute schon gebloggt zu haben. Nun komme ich kurz vor Torschluss nach Hause und muss feststellen, dass ich einem Irrtum zum Opfer gefallen bin, was meine Überzeugung schwer erschüttert und mich ebenfalls.

Vorher auf dem Fahrrad dachte ich noch, Mensch, du musst unbedingt nochmal lesen, was du heute morgen geschrieben hast, denn ich hatte vor lauter Muckenumtrieben vergessen, was ich heute morgen geschrieben habe, war aber felsenfest davon überzeugt, dass ich etwas geschrieben habe. Nun sitze ich mit ungläubig abgesackter Kinnlade da und hätte gern ein weißes Kaninchen, finde aber noch nicht mal einen Zylinder.

Es muss wohl das flirrende brasilianische Flair gewesen sein, dem ich heute ausgesetzt war, da wird der Mensch irgendwie kopflos, hört auf zu bloggen und denkt, er hätte gebloggt. Vielleicht lag es auch an einem Song, der heute abend gespielt wurde, über den ich erst kürzlich etwas geschrieben hatte, allerdings über die Originalversion, während die Brasilianer sich begeistert über jenen Song hergemacht und etwas ganz Neues, eigenartig Wunderschönes hervorgezaubert haben. Wenn das kein Grund zum Bloggen ist.


Dienstag, 24. August 2010

Alltag im Urlaub


Heute mache ich einen Tag Urlaub vom Urlaub.

Das klingt jetzt reichlich abgedreht, macht aber Sinn, denn mein mehrtägiges Schlafdefizit hat mich heute nacht daran erinnert, dass es mal wieder Zeit zum Chillen ist. Ich schlief tiefer, schnarchte lauter und träumte heftiger als mein Hund Blues es je getan hat. Selbst im Wachzustand tapere ich in einer Verfassung durch die Wohnung, die sich nur als neben der Kappe bezeichnen lässt. Ein umgeschmissener Kaffeefilter (voll, nass), eine am Boden zertretene Banane (barfuß) und ein Pfirsichfleck auf dem T-Shirt (weiß, frischgewaschen) geben mir recht: Es ist Zeit für eine Auszeit.

Ganz aus freien Stücken treffe ich diese Entscheidung freilich nicht. Eine meiner Lieblingsmucken wurde überraschend von heute auf morgen verschoben, und da dachte ich, heute gibst du dich hemmungslos der Faulenzerei hin. Was einerseits bedeutet, dass ich mich gleich zum zweiten Mittagsschläfchen des Tages auf den Balkon fläzen werde; andererseits der in den letzten Tagen (infolge hemmungslosen Groovens) doch arg vernachlässigte Haushalt wieder auf Vordermann gebracht werden muss.

Also all das aufräumen, was ich in den letzten Tagen (vielmehr Nächten) einfach nur stehen, liegen und fallen gelassen habe. Nicht zu vergessen ein bisschen Saubermachen hier und da - so bleibe ich in Übung und verfalle nicht völlig dem Entzug. Ganz wichtig: leere Flaschen wegbringen; ohne Flaschenboy, mit Rucksack.

Die Operation Pfandflaschen sorgte für kurzen, durchaus nicht urlaubskompatiblen Ärger bei der Firma Rewe, weil a) deren Rückgabeautomaten zu dumm sind, um die bei der Firma Rewe gekauften Flaschen als selbige zu erkennen, b) die beiden Aushilfskräfte zu ungeschult sind, um zu checken, dass der Fehler nicht bei der dummen Kundin, sondern beim dummen Automatenhirn lag, und c) die auf mein Drängen herbeigeholte Filialleiterin zu unhöflich war, um sich bei der starrköpfigen Kundin zu entschuldigen. So kam es, dass die Firma Rewe mir zwanzig Minuten meines kostbaren Urlaubes geklaut hat, was insofern weitreichende Folgen haben wird, als ich mein Lebtag nicht mehr meinen Fuß über die Schwelle eines Rewe-Geschäftes setzen werde. Wenn ich etwas sein kann, dann konsequent.

Gottlob brach während der zwanzig Minuten stumpfsinniger Warterei draußen die Sonne durch und reaktivierte beim Verlassen besagten Saftladens ruckzuck meine Urlaubslaune.

Letztere war in den frühen Morgenstunden schon einmal in ernsthafte Gefahr geraten, als ich von den Frühnachrichten geweckt und sodann von einem Interview gepeinigt wurde, in dem eine schnarrende Schnöselstimme in schneidendem Tonfall etwas herunterbetete von wegen "...nachdem der Kalte Krieg durch die glückliche Vereinigung unseres Vaterlandes beendet wurde..." - ich hielt mir die Ohren mit einem Kissen zu, aber der Schnarrschnösel drang durch - und fortfuhr mit einer Eiseskälte in der Stimme, die direkt aus einer Hochleistungstiefkühltruhe zu kommen schien "...unsere Soldaten haben nämlich gelernt zu gehorchen...", was mir augenblicklich die Frage aufdrängte, ob es in Kuba eigentlich wirklich so schlimm zugeht, wie von allen Seiten mit Nachdruck behauptet wird, oder ob unser deutsches Vaterland in Sachen rhetorisches Strammstehen den tanzenden Zuckerjungs aus der Karibik nicht längst um mehrere Nasenlängen voraus ist.

Vielleicht waren es ja auch nur meine Ohren, die in den letzten Tagen und Nächten derart sensibilisiert worden sind auf Klänge, Klangfarben, Unter- und Zwischentöne aller Art, dass mir ein solcherart pathetisiert-zackiger deutscher Sprachgebrauch gar nicht mehr als das vorkommt, was er eigentlich ist: nämlich längst zur allseits akzeptierten Normalität geworden.

Doch wie schon gesagt, die Sonne scheint unbekümmert, mein Mittagsschlaflager auf dem Balkon ist bereitet, aus den Boxen umschmeichelt mich ein weiches, sehnsuchtsvolles Timbre und erinnert mich sanft pochend daran, wohin ich gehöre. Ich freue mich so auf morgen.


Montag, 23. August 2010

Zeitgefühl


Die Macht der Gewohnheit kann zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt zuschlagen, nämlich dann, wenn man sowieso aus der Zeit gefallen ist.

Wie ein Blitz traf es mich heute irgendwann zwischen Nacht und Morgen, im Groove-Vollrausch befindlich - siedend heiß durchfuhr es mich plötzlich: Morgen (vielmehr heute) ist ja Montag, da musst du wieder früh raus, was treibst du dich mitten in der Nacht auf Mucken rum? Ich war wie vom Donner gerührt.

So viel zur unguten Macht der Gewohnheit. Ich habe mich einfach längst daran gewöhnt, am Sonntagabend frühzeitig besorgt auf die Uhr zu schauen, meine Siebensachen zusammen zu raffen und von den anderen als bedauernswerter Spielverderber verabschiedet zu werden. Dabei fängt morgen, also heute, am Montag nämlich, mein Urlaub eigentlich erst an, denn schließlich wollte ich ja Urlaub von der Putzerei machen.

Der Schreck-lass-nach-Moment dieser freudigen Erkenntnis hat eine ganze Weile gedauert, dann aber mit voller Wucht eingesetzt und mich - wie könnte es anders sein - hellwach gemacht. Wie ich jemals wieder zu meinem früheren Tag- und Nachtrhythmus zurückfinden soll, ist mir völlig schleierhaft, aber auch völlig egal, gottseidank.

Ich habe jetzt Besseres zu tun. Schließlich habe ich nur noch eine Woche Zeit, um mich daran zu gewöhnen, dass ich im Urlaub bin.

Sonntag, 22. August 2010

Versklavt


Irgendwann (war es früh? war es spät?) bin ich dann doch auf allen Vieren nach Hause geschlichen, um mir eine Mütze Schlaf zu besorgen. Jetzt sitze ich auf dem Balkon und meditiere über die Farbe Rosa. Mit der Farbe Rosa kann man mich in allen Lebenslagen bis zum Nordpol jagen - in fast allen. Nur, wenn die Sonne gerade aufgeht und die paar hellgrauen Wolkenfetzen am Himmel von unten rosarot anstrahlt, werde ich all meinen Prinzipien untreu.


I'm a slave to the rhythm.

Samstag, 21. August 2010

Lust auf mehr


Irgendwie bin ich aus der Zeit gefallen.

Gestern, nach meinem ersten Urlaubstag, kam ich spät nachts nach Hause, war hellwach und blieb es bis zum frühen Morgen. Etwa um die Uhrzeit, wo ich normalerweise aufstehe, ging ich ins Bett, um es zwei Stunden später wieder zu verlassen - hellwach. Heute abend dachte ich: Bist du mal vernünftig und gehst früher nach Hause, du brauchst endlich Schlaf, denn morgen ist wieder volles Programm, und was ist? Ich bin schon wieder hellwach. Oder immer noch. Ich habe einfach keine Lust auf Schlafen. Ich habe Lust auf Wachsein und Musik und Leben und Musik und Tanzen und Musik und kann den Hals gar nicht voll kriegen.

Eben gehe ich auf den Balkon - die Luft ist unglaublich samtig und warm und verführerisch, es steht ein fetter Fastvollmond am wolkenfreien Himmel, und was der Gipfel ist: Von gar nicht weit weg höre ich dumpf wummernde Reggaebässe, die mir irgendwie so in die Magengrube fahren. Da muss etwas Open-Airiges im Gange sein. Ich glaube, ich muss noch mal um die Ecken ziehen. Ich glaube, so fühlt sich Urlaub an.

Freitag, 20. August 2010

Cuba Libre


Raus aus der Kneipe.

Rauf aufs Fahrrad.

Koffer hinten drauf.

Nochmal stramm aufpumpen.

Sonne so heiß.

Himmel so blau.

Me voy para Cuba.
Siento, siento tanta alegria
al jugar este son
este son tan bonito
porque lo siento al fondo de mi alma
y poder ver nos otra vez despues de tantos anos...
Ich habe solche Sehnsucht.


Donnerstag, 19. August 2010

Schwarmintelligenz


Ich muss schon sagen, der große Blonde mit dem schweren Schlafsack hat Nerven wie breite Nudeln. Wie ich heute früh in den Park einbiege und mich seelisch-moralisch für einen harten Augenblick wappne, liegt der doch glatt an seinem angestammten Platz, zusammengekringelt (nix Partisanenschlafhaltung!) wie ein sattes Baby, in seinem Schlafsack und tut, als ob gestern nichts gewesen sei. Während ich mich zuerst auf dem Fahrrad, danach auf meinem Blog ausheule.

Zumindest nehme ich an, dass es sich bei der Gestalt im Schlafsack um den großen Blonden handelte - man kann ja nie wissen. Theoretisch könnte sich ein anderer Freischläfer gestern nacht das unverhofft freie Schlafplätzchen unter den Nagel gerissen haben; allerdings lag der Schlafsack exakt an derselben Position wie immer, nämlich schräg unterhalb der steinernen Tischtennisplatte (Wind- und Regenschutz!), und wie immer stand rechts neben dem Kopfende eine kleine Wasserflasche mit exakt demselben Etikett wie sonst auch. Mithin kann es kein Vertun geben - er muss es gewesen sein. Wer sonst.

Ich gebe zu, mich wie ein Kind gefreut zu haben. Als ich an ihm vorbeifuhr, wurde mir ganz giggelig zumute: Ob er wohl meine Fahrradreifen auf dem Kies knirschen hört? Im Halbschlaf? Im Traum? Ziemlich geräuschvoll zischte ich 'Psst!' zu ihm hinüber, aber das hat ihn nicht gerührt; jedenfalls hat er sich nicht gerührt. Na gut. Hauptsache, er ist wieder da, Hauptsache, ich habe mich gefreut.

Das bisschen Freude am frühen Morgen konnte ich gut gebrauchen, denn am späten Morgen gab es geschwollenen Ärger. Als ich in den Hinterhof des Restaurants trat, um leere Flaschen aus Kunststoffwannen heraus in den Flaschenboy zu deponieren, war kurz zuvor ganz überraschend die Sonne herausgekommen - auch dies ein Grund zur Freude, eigentlich. Uneigentlich hielt sich die Freude dann doch in Grenzen. Gefühlte 92 leere Flaschen lagen in der prallen Sonne, die meisten davon Rot- und Weißweinflaschen (es muss gestern abend mal wieder mächtig gebrummt haben, umsatzmäßig).

Leider erwies sich die Mehrzahl der Flaschen als nicht leer; speziell die Rotweinflaschen enthielten Rückstände an Rotwein. Mit Rückständen meine ich nicht so ein paar Tröpfchen, sondern mehrere Fingerbreit je Flasche. Gut, mich geht's ja nichts an - aber ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal auch nur eine einzige Flasche mit so vielen Weinresten drin entsorgt hätte. Bei mir wird seit Jahren nichts, absolut nichts mehr weggeworfen, was ess- oder trinkbar ist. (Sollte jetzt jemand fragen: auch nichts Verdorbenes?, nein, auch nichts Verdorbenes, denn bei mir verdirbt seit Jahren nichts mehr, weil ich alles aufesse und -trinke, bevor es verdirbt.)

Ich stand also sinnierend vor all den halbleeren Flaschen, kam mir schon vor wie Tante Hildegunde, die aus der Nachkriegszeit erzählt ("...euch geht's zu gut! Ihr wisst nicht, was Hungern heißt!"), bückte mich schließlich inmitten der warmen, alkoholdunstgeschwängerten Luft - da schwirrte ein aufgeschreckter Wespenschwarm aus der Flaschendeponie und es kam, wie es kommen musste: Ein Stich, ein Schrei - gute Laune vorbei. Innenseite linker Oberarm, da, wo die Haut besonders dünn und und der stechende Schmerz am wirkungsvollsten ist. Ich tobte. Ich fluchte. Ich verfluchte die Gastronomie mitsamt ihren verpeilten Servicekräften, von denen - zu ihrem Glück, zu meinem Leidwesen - keiner anwesend war.

Gottseidank hat die Gastronomie auch ihr Gutes, nämlich überall Zwiebeln und Zitronen zur Hand. Nach einer halben Stunde war ich wieder in einem annähernd menschenwürdigen Zustand. Noch jetzt prangt an meinem linken Arm ein fetter Flatschen, noch jetzt verströme ich einen durchdringenden Geruch nach feinsten französischen Rotzwiebeln. Roh genossen kommt der Zwiebelgestank ja immer am besten.

Was soll ich sagen? Mittlerweile bin ich - endgültig, unwiderruflich und wild entschlossen - urlaubsreif.

Mittwoch, 18. August 2010

Abschied


Frühmorgens beim Radfahren kann es vorkommen, dass es mich ohne Deckung voll erwischt. So emotional, meine ich. Weil diese morgendlichen Fahrten wie kleine Reisen sind: weg von A, aber noch nicht angekommen bei B. Unterwegs sein eben - allein mit dem Wetter, der Luft und der Bewegung der Gedanken. Diese Reisen früh am Tage sind wie Zwischenräume, in denen alles mögliche passiert und passieren darf, ohne dass zensierende Instanzen sich einschalten und das vorbeihuschende innere und äußere Geschehen in 'vernünftige' Bahnen lenken.

Zum Beispiel husche ich jeden Morgen an jener schlafenden Gestalt vorbei, lasse den flüchtigen Gedanken vorbeihuschen, dass mich dieser gewohnte Anblick irgendwie beruhigt, ohne das Gedachte, Gehuschte zu hinterfragen. Es tut einfach gut, jeden Morgen zur selben Zeit dieselbe Gestalt am selben Ort liegen zu sehen.

Die Gestalt liegt dort fest vermummt in einen Schlafsack, schläft meistens auf dem Rücken (in Partisanenschlafstellung), mal schnarchend, mal ruhig. Natürlich habe ich keine Ahnung, wer das ist, wie alt dieser Mensch ist, seit wievielen Jahren er dort liegt (seit anderthalb Jahren auf jeden Fall), ob er dick ist, dünn, krank oder gesund; ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.

Seit heute früh weiß ich: Es ist ein Mann, jung, hochaufgeschossen, hager, blonde halblange Haare, blonder Stoppelbart, aufrechte Haltung, durchdringender Blick. Woher ich das weiß? Weil er heute früh nicht, wie gewohnt, an 'seinem' Platz lag. Der Platz war leer. Es lag auch kein Schlafsack an seinem Platz. Auch keine sonstigen Hinterlassenschaften, nicht einmal eine Getränkedose oder ein vergessener Socken. Der Platz war einfach leer, trostlos leer.

Als ich an dem unbehausten Platz vorbeifahre, werde ich von einer merkwürdigen inneren Unruhe erfasst; plötzlich bekomme ich Herzklopfen. Mein Instinkt sagt mir, dass etwas nicht in Ordnung ist; meine Vernunft quatscht dazwischen, dass es für die Abwesenheit der Gestalt ja alle möglichen, durchaus undramatischen Gründe geben könnte. Weil ich im Zwischenraum unterwegs bin, übernimmt der Instinkt die Regie.

Ich fahre gedankenverloren aus dem Park heraus, Richtung Autobahnzubringerstraße, und da steht er: Er hat mir den Rücken zugewandt, halb im Profil, blickt suchend mal rechts, mal links die Straße entlang und trägt einen Schlafsack. Also, er trägt den Schlafsack nicht unterm Arm, sondern wie man ein Kleidungsstück am Leib trägt; ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Der bodenlange Schlafsack hängt schwer an seinem Körper herunter und sieht aus wie eine olivgrüne Mönchskutte, mit weiten Fledermausärmeln und einer großen, integrierten Känguruhtasche vor dem Bauch, die oben von einem Gummizug zusammengehalten wird. Zu seinen Füßen liegt ein undefinierbares Bündel. Sein Kopf ist unbedeckt.

Er hört hinter sich das über den Kies knirschende Geräusch meines Fahrrads, dreht sich ruckartig um und schaut mich mit durchdringenden Augen an. Ohne nachzudenken, entfährt es mir: "Was ist los?" Sein Blick wird feindselig. Er mustert mich von oben bis unten und fragt knapp zurück: "Was soll los sein?" Ich bremse und antworte: "Sie waren heute nicht auf Ihrem Platz!" Darauf er, abweisend: "Na und?" Dann sage ich etwas, was ich zu keiner anderen Tageszeit und an keinem anderen Ort als eben jenem frühen, einsamen Zwischenraum sagen würde, es rutscht einfach so aus mir heraus: "Ich habe Sie vermisst."

Der Mann starrt mich lange schweigend an; es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Dann fragt er: "Sind Sie das, die jeden Morgen um diese Zeit an mir vorbeifährt?" Mir fällt nichts ein; zwar sind die morgendlichen Zwischenräume einsam, aber trotzdem bin ich weiß Gott nicht der einzige Radfahrer, der um diese Stunde durch den Park fährt. Dann sage ich: "Ich weiß nicht", was ziemlich dumm von mir ist, denn schließlich weiß ich ganz genau, dass ich jeden Morgen an dem Mann vorbeifahre. Eigentlich will ich zum Ausdruck bringen, dass ich nicht weiß, ob es ausgerechnet mein Fahrrad ist, was er jeden Morgen hört, denn vermutlich hört er eine ganze Menge Fahrräder an sich vorbeifahren.

Der Mann betrachtet die Reifen meines Fahrrades (tiefe Profile), dann mich - immer noch scharf und durchdringend, aber das Feindselige ist verschwunden. "Doch, das müssen Sie sein", meint er endlich, "so wie Ihr Fahrrad gerade eben geklungen hat, müssen Sie das sein." Das haut mich um. Da erkennt ein Mensch einen anderen Menschen am Klang dessen über den Kies fahrenden Fahrrades - wenn er nicht gerade schnarcht, der Mensch mit dem feinen Gehör.

"Die Polizei war da", erklärt der Mann im Schlafsack dann kurz und bündig. Er sagt es in einem Ton, der keine Antwort erwartet. Ich sage nichts. Nach einer Weile frage ich ihn: "Dann sind Sie morgen früh wahrscheinlich nicht mehr an Ihrem Platz?" Er antwortet: "Höchstwahrscheinlich nicht." Mein Herz klopft schon wieder. In meinem Hals wird es eng. Ich steige auf mein Fahrrad. Bevor ich in die Pedale trete, sage ich zu ihm: "Sie werden mir fehlen." Er schaut mir aufmerksam in die Augen, lächelt ein wenig schief, dann sagt er: "Sie mir auch."

Ich fahre weiter Richtung Putzstelle und heule wie ein Schlosshund.

Dienstag, 17. August 2010

Urlaubsreife


Es herbstet mit Macht. Trotzdem sind wir mitten im Hochsommer, was sich vor allem daran bemerkbar macht, dass die Alltagskonversationen von zwei Fragen beherrscht werden: 1. Warst du schon im Urlaub? und/oder 2. Wo warst du in Urlaub? Nun ist mir persönlich die erste Frage lieber. Denn ich kann sie mit einem knappen Nein beantworten, um sodann den Smalltalk umzulenken auf Themen, die mich mehr interessieren und zu denen ich mehr zu sagen habe, zum Beispiel zum aktuellen Wetter - da kann ich vollkompetent mitreden.

Bei der zweiten Frage wird es komplizierter. In aller Regel wird sie gestellt von einer Person mit stark gebräuntem Gesicht und einem für die derzeitige Witterung allzu offenherzigen Outfit, der den Blick auf ein Zuviel an weiteren braungebrannten Körperteilen ermöglicht, was mich immer etwas frösteln lässt, denn, wie gesagt, es herbstet. Das Gespräch verläuft dann häufig so:
(braungebrannte Person:) Wo warst du in Urlaub?
(ich:) Ich war nicht in Urlaub.
(braungebrannte Person:) Wann fährst du in Urlaub?
(ich:) Ich fahre nicht in Urlaub.
(braungebrannte Person:) Ach.
(ich:) Ja.
(braungebrannte Person:) Ach ja?
(ich:) Ja.
An der Stelle fällt der braungebrannten Person meistens nichts mehr ein, weshalb sie irritiert die Augenbrauen hebt und mich fragend anschaut, so als ob ich ihr eine Antwort schuldig geblieben sei; dabei habe ich doch zu allen Fragen wahrheitsgemäß und lückenlos Stellung bezogen.

Für mich gibt es dann zwei Verhaltensoptionen, je nach meiner aktuellen Gemütslage:

Bin ich gerade stoisch drauf, hebe ich meinerseits die Augenbrauen, um zu signalisieren, dass nicht ich, sondern die braungebrannte Person an der Reihe ist weiterzufragen. Meistens geht das Gespräch dann so weiter:
(braungebrannte Person:) Äh, wie, du meinst...?
(ich:): Was?
(braungebrannte Person:) Ja gut, also, man muss ja auch nicht unbedingt jedes Jahr in Urlaub fahren.
(ich:) Stimmt.
(braungebrannte Person:) Wo warst du denn letztes Jahr in Urlaub?
(ich:) Letztes Jahr war ich auch nicht in Urlaub.
Spätestens etwa um diesen Dreh herum wird es der braungebrannten Person sehr unbehaglich, so dass sie sich bemüht, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, was mir willkommen ist, denn dann brauche ich das nicht zu tun. Wobei das Restgespräch meist außerordentlich kurz zu verlaufen pflegt, was mir dann auch recht ist.

Bin ich dagegen eher genervt, sei es von der Fragerei selbst oder von irgend etwas anderem, trachte ich danach, möglichst schnell auf den Punkt zu kommen, schließlich habe ich meine Zeit auch nicht gestohlen. Dann setzt sich das Gespräch wie folgt fort:
(ich:) Ich habe kein Geld, um in Urlaub zu fahren.
(braungebrannte Person:) Oh - äh, ah ja. Mhm. (Pause.) Das tut mir leid für dich.
(ich:) Muss dir nicht leid tun.
(braungebrannte Person:) Ähm, ja. (Pause.) Na ja, ich würde dir einen Urlaub schon gönnen.
(ich:) Das ist nett.
(braungebrannte Person:) Ja, also - Mensch, du, vielleicht klappts ja nächstes Jahr mit in Urlaub fahren!
(ich:) Glaub' ich eher nicht.
Spätestens etwa um diesen Dreh (meist aber schon früher) beende ich unverbindlich das Gespräch, worüber, wenn mich nicht alles täuscht, die braungebrannte Person irgendwie ziemlich erleichtert zu sein scheint. Ich auch.

Wer jetzt denkt, ich könne einem schönen Urlaub nichts abgewinnen, der irrt. Ende Juli habe ich nämlich spontan beschlossen, im August eine Woche Urlaub von der Putzerei zu machen und dies der Frau Übermop mitgeteilt. Das Gespräch verlief so:
(Frau Übermop:) Wo fährst du denn hin in Urlaub?
(Mrs. Mop:) Ich fahre nicht in Urlaub, ich bleibe zuhause.
(Frau Übermop:) Wie, du bleibst zuhause? Ich denke, du willst Urlaub machen?
(Mrs. Mop:) Will ich auch. Wer sagt, dass ich irgendwohin fahren muss, um Urlaub zu machen?
(Frau Übermop:) Du spinnst.
(Mrs. Mop:) Wieso?
(Frau Übermop:) Dann kannst du ja gleich hier weiterarbeiten, wenn du gar nicht wegfahren willst.
(Mrs. Mop:) Aber ich will doch Urlaub machen!
(Frau Übermop:) Kapier' ich nicht.
(Mrs. Mop:) Ich schon.
(Frau Übermop:) Du spinnst.
(Mrs. Mop:) In dem Fall nicht.
(Frau Übermop:) Doch.

Heute war, wie jeden Dienstag um 11:30 Uhr, Jour fixe für die große Besprechung von Geschäftsführung und Service. Normalerweise bin ich schon weg, wenn die ersten Teilnehmer erscheinen (frühestens um 11:45 Uhr); heute war ich ausnahmsweise noch im Restaurant und gerade im Begriff, meine Sachen zusammenzupacken. Einer der Geschäftsführer kommt mit strahlend braungebranntem Lächeln auf mich zu und ruft mit Begeisterung in der Stimme:
(Geschäftsführer:) Mensch, Mrs. Mop, du siehst ja richtig gut aus!
(Mrs. Mop:) Danke, mir geht's zur Zeit auch richtig gut.
Man ist ja dann auch blöd und lässt sich das Kompliment runtergehen wie Öl, ohne zu merken, dass von ferne eine Nachtigall angetrapst kommt.
(Geschäftsführer:) Ich habe gehört, du willst jetzt eine Woche Urlaub machen?
(Mrs. Mop:) Ja! Endlich mal!
(Geschäftsführer:) Wo fährst du denn hin in Urlaub?
(Mrs. Mop:) Ich fahre nicht in Urlaub, ich bleibe zuhause.
(Geschäftsführer:) Wie, du bleibst zuhause? Ich denke, du willst Urlaub machen?
(Mrs. Mop:) Will ich auch. Wer sagt, dass ich irgendwohin fahren muss, um Urlaub zu machen?
(Geschäftsführer:) Äh, ja - also, ich meine, dabei siehst du so gut aus - überhaupt nicht urlaubsreif!
Da hörte sogar ich die Nachtigall elefantengleich trampeln. Schnelles Reagieren war gefragt.
(Mrs. Mop:) Pass nur auf, wie gut ich erst aussehen werde, wenn ich aus dem Urlaub zurück komme!
(Geschäftsführer:) Äh, na ja, wahrscheinlich werden wir alle vor Neid erblassen. Sag' mal, äh, wenn du gar nicht wegfährst in Urlaub, könntest du dann nicht nächste Woche ein bisschen einspringen, weil, ausgerechnet nächste Woche wird es wohl ein wenig eng...
(Mrs. Mop:) Vergiss es.
(Geschäftsführer:) Aber warum denn?
(Mrs. Mop:) Ich mache Urlaub.
(Geschäftsführer:) Mein Gott, bist du stur. Man wird ja wohl noch fragen dürfen.
(Mrs. Mop:) Klar. Man wird ja wohl noch Urlaub machen dürfen.
(Geschäftsführer:) Aber warum denn ausgerechnet nächste Woche?
(Mrs. Mop:) Weil das mein Urlaub ist.
(Geschäftsführer:) Dabei siehst du so gut aus, als ob du gerade aus dem Urlaub kommst.
(Mrs. Mop:) Das kommt daher, weil ich mich so auf meinen Urlaub freue.
(Geschäftsführer:) (seufzend) Was haben wir uns bloß mit dir eingehandelt.
(Mrs. Mop:) Eine Putzfrau, die seit anderthalb Jahren keinen Urlaub gemacht hat.
(Geschäftsführer:) Mach doch, was du willst.
(Mrs. Mop:) Eben.
(Geschäftsführer:) Musst du immer das letzte Wort haben?
(Mrs. Mop:) In dem Fall schon.

Seit heute zähle ich die Tage bis nächste Woche und hol' jetzt schon mal meinen großen alten Koffer aus dem Keller. Weil, ich fahre zwar nicht in Urlaub, aber irgendwie eben doch, so unter uns. Wohin? Na, ist doch wohl klar. Psst, nicht weitersagen.


Montag, 16. August 2010

White Rabbit


Willst du dir den Tag versau'n,
musst du in den Spiegel schau'n.

Was spricht das Spieglein an der Wand heute morgen? Dass meine Augen aussehen wie die eines gedopten Kaninchens nach drei Tagen Schlafentzug. Dabei habe ich immerhin drei Stunden geschlafen. Es hätte noch schlimmer kommen können - aber vor drei Stunden habe ich meine segensreiche Texterei beendet, einen fetten Punkt gemacht, und ich sah, dass mein Werk gut war. Ich habe es sogar noch geschafft, Korrektur zu lesen und dabei festgestellt, dass ich zweimal - es kann sich also um keinen Zufall handeln - das Wort Tiefkühltruhe ohne t geschrieben hatte. Also, nicht etwa am Anfang, sondern in der Mitte, Tiefkühlruhe. Wäre ich darüber nicht in hysterisches Kichern verfallen, hätte ich drei Stunden und zehn Minuten schlafen können.

Jetzt können die Millionen rollen.

Doch zunächst fährt die Millionärin wie jeden Morgen zum Putzen. Verrückt.
Am verrücktesten ist, dass ich es, gerade heute, gar nicht mal ungern tue. Verstehe ich selber nicht. Manchmal bin ich mir ein Rätsel.

Jetzt aber erst mal aufs Rad und dem System Frischluft zuführen. Jede Wette, dass die Kaninchen heute nicht vor mir weglaufen wie sonst.


Sonntag, 15. August 2010

Eins führt zum andern


Kettenreaktionen sind immer dann am schönsten, wenn man eigentlich etwas anderes, namentlich Wichtigeres zu tun hat.

Gehe ich heute früh runter in den Hof, weil es mir bei dem heftigen Sturm (ist eigentlich schon Herbst? 17 lausige Grad. Celsius!) die Wäsche vom Balkon geweht hat. Klaube die frischgewaschenen Teile wieder zusammen - da fällt mir ein, dass im Keller ein Buch sein muss, welches ich gut gebrauchen kann für meinen Text, der heute fertiggestellt werden muss.

Nun ist mein Keller seit meinem Umzug noch nicht in allerbester Ordnung; vor allem die Bücher sind viele und in keiner Weise nach Sachgebieten oder ähnlichem sortiert. Mit der Wäsche überm Arm mache ich mich auf die Suche, steige über Kisten und Kästen, remple ein Regal um, so dass eine Menge Bücher auf den Boden fallen, welche allesamt höchst interessant ausschauen und schon lange nicht mehr in meinen Putzfrauenhänden ruhten. Zwar ist das dringend gesuchte Buch nicht darunter, was ich aber in dem Augenblick vergesse, wo ein anderer vielversprechender Schmöker aufgeschlagen auf dem Kellerboden gelandet ist und ich nicht widerstehen kann, mal kurz einen Blick hineinzuwerfen.

Aus dem einen Blick werden zwei, dann drei, dann setze ich mich auf eine Kiste, polstere sie vorher ab mit der Wäsche, die sowieso noch mal in die Maschine gesteckt werden muss, fange an zu lesen und bedaure, dass es im Keller keinen Kaffee gibt. Aber das Buch erweist sich als so spannend, dass ich sogar den Kaffee vergesse. Als ich ein Kapitel gerade zu Ende habe, höre ich ein Klopfen am Lattenverschlag, so dass ich vor Schreck das Buch in eine geöffnete Kiste fallen lasse und bei der Gelegenheit sehe, dass sich in besagter Kiste ein Regalteil für die Tür meines Kühlschrankes befindet, welches ich schon lange gesucht und nirgends gefunden habe.

Hinter (oder vor, je nachdem) dem Lattenverschlag steht eine Nachbarin und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahe, antworte "zumindest im Prinzip, mit Kaffee wär's gemütlicher", was die nette Nachbarin veranlasst, mich zum Frühstücken zu sich einzuladen. Plötzlich stelle ich fest, einen Bärenhunger zu haben, bin entzückt, klaube Wäsche, Buch sowie noch ein paar andere interessant aussehende Bücher (jedoch nicht das gesuchte, da nicht gefundene) mitsamt dem Kühlschranktürregalteil und dem Wäschebündel zusammen und folge der Gastgeberin. Vorher gehe ich noch schnell in meine Wohnung, stopfe die Wäsche in die Maschine und lasse sie laufen. Die Maschine, nicht die Wäsche.

Tolles improvisiertes Frühstück bei der Nachbarin mit Oliven, Ziegenkäse und Rührei, wie ich es in der Qualität schon lange nicht mehr genossen habe. Danach zurück in meine Wohnung, Maschine hat sich schleudernd ausgerumpelt, Wäsche aufgehängt. Wäscheständer in der Küche aufgestellt, weil, ich bin ja nicht blöd und stelle das Ding ein zweites Mal auf den Balkon bei diesen Windböen, die da heulend um die Ecken pfeifen (Dachgeschoss, Balkon ohne Abdeckung).

Ich freue mich über das wiedergefundene Kühlschranktürregalteil und fange an, es in die Kühlschranktür reinzupfriemeln. Sagen wir, ich versuche es. Wie immer liegt die Tücke im Objekt - irgend etwas klemmt. Da ich nach dem vorzüglichen Frühstück mit der fabelhaften Nachbarin nicht in der Stimmung bin, mich geduldig mit Verklemmtheiten auseinanderzusetzen, wende ich ein wenig rohe Gewalt an, nur ein ganz klein wenig, wirklich nicht viel, aber es hat gereicht, die bereits in der Kühlschranktür befindlichen Regalteile aus den Angeln zu heben und quer durch die Küche zu schleudern.

Was nicht weiter tragisch wäre, schließlich kann man alles Heruntergefallene wieder aufheben, wie ich bereits von meiner abgestürzten Wäsche wusste, nur waren es natürlich nicht bloß die blöden Regalteile, sondern ebenso alles, was auf ihnen gestanden hatte - unter anderem ein Becher Schlagsahne (geöffnet), ein Glas selbstgekochte Brombeermarmelade sowie ein Glas Dijonsenf extrascharf, meine Lieblingssorte. Die Flugbahn der drei Objekte verlief folgendermaßen: Während der Becher Schlagsahne im Tiefflug über den Wäscheständer segelte und sich dabei partiell entleerte, landete das Glas mit der Brombeermarmelade auf dem Boden direkt neben dem Wäscheständer, wo es zerbarst. Das Senfglas fiel rücksichtsvollerweise auf den Wäscheständer, wo es zunächst ruhig und unbeschädigt liegen blieb, dann jedoch, der Schwerkraft folgend, zwischen den Wäschestangen nach unten durchrutschte und direkt unter der aufgehängten Wäsche mit einem lauten, hässlichen Knall ebenfalls zerbarst.

Brombeeren mit Schlagsahne und Senf ergeben auf heller Wäsche aparte, rorschachtest-ähnliche Klecksbilder, die meiner Phantasie augenblicklich Flügel verliehen hätten, hätte es mein Nervenkostüm nicht vorgezogen, einen barbarischen Brüll abzusondern und sodann aufs unflätigste zu fluchen ohne Rücksicht auf den Umstand, dass ich nicht allein im Wald wohne, sondern in einem urbanen Mietshaus, was die nette Nachbarin (sie wohnt links unter mir) veranlasste, über ihren Balkon besorgt zu mir hochzurufen, ob alles in Ordnung sei?

Das gab mir den Rest. Ich beugte mich übers Geländer und sagte "Nein!", mit einer von jener psychopathischen Sanftheit geprägten Stimme, die andere Leute schon hat übers Kuckucksnest fliegen lassen.

Danach ging alles von vorne los. Die nette Nachbarin meinte, ich solle mich doch erst mal bei einem zweiten starken Kaffee bei ihr erholen, welchselbiger Aufforderung ich gerne folgte, nicht ohne zuvor die verdammte Wäsche ein drittes Mal in die Waschmaschine zu stopfen und sodann die Wohnungstür hinter mir zuzuknallen.

Als ich wenig später gestärkt zurückkehrte, empfing mich ein durchdringend stechender Geruch nach Senf mit Brombeeraroma. Ich lüftete und fing an zu putzen. Danach fand ich, es sei Zeit für einen vorgezogenen Mittagsschlaf. Aus diesem bin ich soeben mit rasendem Puls erwacht, weil mir alpträumte, ich hätte heute ein Text zu schreiben über schnelldrehende Big Macs, bestrichen mit Brombeersenf und Fleckensalz.

Jetzt aber endlich an die Arbeit.

Samstag, 14. August 2010

Fleisch und Blut


Nach meinem gestrigem Kraftakt habe ich heute das Bedürfnis nach einem kraftvollen musikalischem Abbinder, nach einer Stimme aus Muskeln, Blut und Knochen - zur Faust geballt.

Dazu fällt mir nichts Treffenderes ein als der amerikanische Sänger und Gitarrist Tennessee Ernie Ford mit seinem Song Sixteen Tons. Das sozialkritische Lied (veröffentlicht 1955) bezieht sich auf das tägliche Joch der Arbeiter in den Kohlebergwerken von Kentucky; es wurde zu einem riesigen Erfolg in den damaligen Charts.

Merle Travis, der Verfasser des Songtextes, wurde zu dem Chorus ("St. Peter, don't you call me, 'cause I can't go...") des Stückes inspiriert von seinem Vater, der, von Nachbarn nach seinem Beruf gefragt, zu antworten pflegte: "I can't afford to die. I owe my soul to the company store." (Travis' Vater war Minenarbeiter in Kentucky.) Merle Travis geriet aufgrund des Songs Sixteen Tons (erstmals veröffentlicht 1947) in die Mühlen des Kalten Krieges der späten 40er Jahre, wurde als kommunistischer Sympathisant verdächtigt, und FBI-Agenten empfahlen deshalb den Radiosendern, das Abspielen seiner Songs zu unterlassen.

Ernie Ford starb im Jahr 1991 unter nicht völlig geklärten Umständen. "Er erkrankte 1991, nach einem Dinner mit Präsident George H.W. Bush im Weißen Haus. Er starb am 17. Oktober 1991, genau 36 Jahre nach der Veröffentlichung von Sixteen Tons, an Leberversagen." (Wikipedia)

Sixteen Tons

Some people say a man is made out of mud
A poor man's made out of muscle and blood
Muscle and blood, skin and bones...
A mind that's weak and a back that's strong

You load sixteen tons, and what do you get?
Another day older and deeper in dept
St. Peter, don't you call me, 'cause I can't go
I owe my soul to the company store

I was born one mornin' and the sun didn't shine
I picked up my shovel and I walked to the mine
I loaded sixteen tons of number nine coal and
the straw boss said, "well bless my soul"

You loaded sixteen tons, and what do you get?
Another day older and deeper in dept
St. Peter, don't you call me, 'cause I can't go
I owe my soul to the company store

I was born one mornin' it was drizzlin' rain
fightin' and trouble are my middle name
I was raised in a crane-brake by an old mama lion
can't no high-toned woman make me walk no line

You load sixteen tons, and what do you get?
Another day older and deeper in dept
St. Peter, don't you call me, 'cause I can't go
I owe my soul to the company store

If you see me comin', better step aside
A lot of men didn't, a lot of men died
One fist of iron, the other of steel
If the right one don't get you, then the left one will

You load sixteen tons, and what do you get?
Another day older and deeper in dept
St. Peter, don't you call me, 'cause I can't go
I owe my soul to the company store


Bless my soul, Ernie.

Freitag, 13. August 2010

Fraktionszwang


Normalerweise bin ich nicht der Typ, der unter Schreibblockaden leidet, aber im Moment hat es mich voll erwischt. Stieren Blickes sitze ich vor dem Bildschirm und bekomme weder einen Fuß auf den Boden noch einen Satz zu Papier. Ich sollte über etwas Bestimmtes schreiben - jedoch, dauernd rutscht mir der Fokus aus dem, nun ja, Fokus eben. Zwar fallen mir tausend und eine messerscharf gewetzte Wendungen ein - allein, mir wurde messerscharf eingeschärft, dass die stumpfe Klinge das Mittel der Wahl und alles andere unerwünscht sei.

"Bitte, beleuchten Sie das Thema von allen Seiten, enthalten Sie sich subjektiver oder gar polemischer Zuspitzungen, bleiben Sie sachlich und ausgewogen, und sehen Sie zu, dass wir bis Montag einen wohltemperierten, gut lesbaren Text zu dem zugegebenermaßen nicht unheiklen Thema von Ihnen auf dem Tisch haben." So oder ähnlich hatte es geheißen, an jenem Abend, dem ein vermuffelter Nachmittag vorausgegangen und eine wüste spätabendliche Schimpferei gefolgt war.

Heute ist Freitag, und in drei Tagen ist Montag. Nackt und leer glotzt mich der Bildschirm an. Stumpf und lustlos glotze ich zurück. Ich habe keine Lust auf sachliche Ausgewogenheit, bin vielmehr unglaublich subjektiv drauf, stoße kleine polemische Pestwölkchen aus und wüsste nicht, wann ich jemals so unwohltemperiert gewesen wäre wie im Augenblick. Das muss sich ändern, denn heute ist Freitag, und in drei Tagen ist Montag.

Worum geht es? Bei aller gebotenen Diskretion, die mir dieses mein (im vorliegenden Zusammenhang nicht ganz unheikles) Blog auferlegt, nur so viel: Es geht um gesunde und ungesunde Ernährung, um fettleibige Erwachsene und übergewichtige Kinder, um Fastfood, um 'gutes' und 'böses' Essen sowie, platt gesagt, um gute und böse Menschen. Der allerletzte Punkt wurde von mir, sozusagen ad lib, freihändig ergänzt; meine zwischenzeitlichen Recherchen und sogenannten Expertengespräche haben mich dazu veranlasst. Schreiben werde ich zu diesem letzten Punkt natürlich nichts, sonst droht mir Honorarabzug, und wer will das in meiner nicht unheiklen finanziellen Situation schon riskieren.

Das Dumme ist jetzt nur, dass ich am liebsten sofort loslegen und etwas höchst subjektiv Gepfeffertes über gute und böse Menschen absondern möchte - werde dafür aber leider nicht bezahlt und tröste mich deshalb mit unbezahltem, dafür maulkorbfreiem Bloggen. Wahrscheinlich kommt am Ende dabei nichts über gute oder böse, sondern einfach nur dumme Menschen heraus. Mal sehen.

Die Frage, die mich umtreibt, ist eine ganz schlichte: Wieso wird mittlerweile derart hasserfüllt gesprochen über Menschen, die dem Fastfood zugetan sind? Man kann zu Fastfood stehen, wie man will, man kann es ablehnen, geißeln, kritisieren oder sich auch gelegentlich mal selbst gönnen, frei nach Gusto - aber woher kommt dieser ungezügelte Hass auf Menschen, die das schnelle Essen gewohnheitsmäßig konsumieren? Woher rührt dieses ungeniert hasserfüllte, manische, fast schon obsessive Abgrenzungsbedürfnis, wohlgemerkt nicht gegen Fastfood, sondern gegen die Leute, die es sich einverleiben? In einer aggressiven Weise, dass ich mich des Gefühles nicht erwehren kann, die Fastfood-Konsumenten sollten an den Pranger gestellt, wenn nicht zum Abschuss freigegeben werden?

In dem Zusammenhang fällt mir auf, dass der Bäh-Begriff Unterschicht von immer mehr Menschen schon gar nicht mehr in den Mund genommen wird; lieber wird geschmeidig von der 'Fastfood-Fraktion' gesprochen, und alle freuen sich, dass alle wissen, was gemeint ist, ohne dass sich einer mit jenem schmutzigen Wort die Finger schmutzig machen müsste.

So recht delikat wird das Gerede über das Geschmeiß - nichts anderes verbirgt sich hinter dem Gebrauch des Wortes Fastfood-Fraktion - aber dann, wenn die so Redenden sich selbst ungeniert dem Fastfood oder anderem ungesunden Fraß hingeben, dies jedoch in der gehobenen Preisklasse tun und sich somit jenseits von Gut und Böse - ich korrigiere: jenseits von Böse - wähnen. Es gibt nämlich - Genosse Trend lässt grüßen - ein wachsendes Segment von hochwertigem Fastfood für den anspruchsvollen Kundenkreis.

Zum Beispiel gibt es in den besseren Innenstadtlagen - dort, wohin sich kein billiger McDo verirrt - Nobelbräter mit organisch gewachsenen Hackbuletten zwischen handgemahlenen Dinkelschrotsemmeln, wo die Leute bis auf die Straße Schlange stehen, gerne bis zu einer geschlagenen Stunde, wozu hat man eine Mittagspause. Ist ja auch ein gutes Feeling, wenn andere Leute sehen können, dass man beim Nobelbräter außen ansteht, sich die Zeit dafür nimmt und das Geld dafür hat. Vermutlich darf, wer bereit ist, sich für ein Fastfood-Produkt so lange anzustellen, mit dem Edelwhopper in der Hand behaupten, das sei doch gar kein Fastfood, sondern, ja, was eigentlich? Vermutlich Slow Food.

Nicht zu bestreiten ist, dass dem derart veredelten und geadelten Schnell-Burger womöglich ein gewisser Gesundheitsbonus innewohnt, verglichen mit den preiswerteren Großen Macs des Klassenfeindes. Nur, Fastfood bleibt Fastfood, da helfen keine gesundheitsideologischen Verrenkungen.

Ähnliches gilt für die Star-Leckerlis von Starbucks, wo ein ordinärer Schoko-Cookie 2,50 Euro kostet, weil er angeblich nicht so ordinär ist wie ein Keks aus der Prinzenrolle, und wir wollen das ja auch gerne glauben, wo wir schon sonst an nichts mehr glauben, aber an irgendwas will man halt glauben. Nur, süß und schwer bleibt süß und schwer, und Dickmacher bleibt Dickmacher.

Ich selbst bin kein Starbuckskunde, komme aber öfters an den großen Glasscheibenfronten vorbei, die mir einen ungehinderten Blick auf solche Konsumenten erlauben, denen jeder Ernährungsexperte vom Verzehr der süßen Edel-Kalorienbomben dringend abraten würde - würde sich denn der Experte nicht ausschließlich mit billigen, sondern auch überteuerten Süßigkeiten sowie deren Klientel beschäftigen.

Da gibt es die handgerührte Deluxe-Eiscreme aus Demetermilch für 4,50 Euro die Kugel in den ausgeflipptesten Geschmacksrichtungen; auch sie besteht maßgeblich aus Fett und Zucker (mag es auch brauner, nicht raffinierter Vollrohrzucker sein), aber was soll's.

Gar nicht erst reden will ich von böser Schokolade, welche, aus handverlesenen Kakaobohnen im Fass gereift aus den Hochlanden Ecuadors stammend, im Handumdrehen von der zahlungskräftigen Kundschaft zu guter Schokolade umgepolt wird.

Die Auflistung von 'guten', weil kostspieligen Fastfood- oder ungesunden Produkten ließe sich beliebig fortsetzen. Aber leider drängt meine Zeit, denn eigentlich sollte ich, siehe oben, längst über anderes schreiben. Nur, jetzt mal ohne elitären Bluthochdruck und dinkel-veredelten Fressdünkel - Fastfood bleibt Fastfood, und ungesund bleibt ungesund, und fett bleibt fett, oder täusche ich mich da?

Und noch was: Doppelmoral bleibt Doppelmoral. Sie scheint sich in diesen Zeiten epidemisch zu verbreiten, und keiner findet etwas dabei. Fastfood, das sind immer nur die anderen. Die von der Fastfood-Fraktion eben. Das Messen mit zweierlei Maß droht zum Volkssport zu werden, sofern es erlaubt ist, die Edel-Fastfood-Fraktion zum Volk zu rechnen.


Der Rant musste raus. Ich musste erst mich meiner grüngelben Galle entledigen, bevor ich mich ans Werk mache, um mich sachlich, ausgewogen und wohltemperiert über das zugegebenermaßen nicht unheikle Thema auszulassen. In so eine Verfassung muss man sich ja erst mal bringen. Irgendwie muss ich meine Pestwölkchen sortiert kriegen, sonst sitze ich am Wochenende vor einem leeren Bildschirm und habe Gallensteine. Und kein Geld verdient. Und so weit lasse ich es nicht kommen, so viel steht fest.

Neben meinem Computer steht eine 1,5-Liter-PET-Wasserflasche mit dem Produktnamen 'Elitess' auf dem Etikett, aus dem Hause Lidl. Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund kann ich mich über den Anblick genau in diesem Moment über alle Maßen amüsieren.


Nachbemerkung: Dies ist kein Post über Fast Food, ungesundes Essen und Übergewicht; dies ist ein Post über Dummheit, Hass und Doppelmoral.

Donnerstag, 12. August 2010

Blues zu Fuß


Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Problemlösungen: Ich nehme jetzt meinen Hund Blues immer auf die Arbeit mit. Sonst werde ich zu unruhig, denn wer weiß, was mich erwartet, wenn ich nach Hause zurückkehre, unters Sofa schaue und da ist kein Hund mehr! Weil der Blues sich während meiner Abwesenheit auf dem Sofa breitgemacht hat!

Also heute früh mit dem Blues im Schlepptau aufgebrochen - ich auf dem Fahrrad, der Blues zu Fuß - und ich dachte erst noch, ob das wohl gut geht? Ist ja schon ein alter Penner, der Blues, und die Strecke zur Putzstelle ist beträchtlich, nämlich satte 40 Minuten, per Fahrrad wohlgemerkt. Ich hatte schon befürchtet, den Hund huckepack auf dem Gepäckträger transportieren zu müssen, was bei dem XXL-Format vom Blues durchaus beschwerlich hätte werden können. Aber nix da. Kaum waren wir im Freien, zischte das Tier ab wie eine Mittelstreckenrakete, so dass ich (ja, ich!) Mühe hatte, ihm auf den Fersen zu bleiben.

Rennt der Blues also mit fliegenden Ohren und weit heraushängender Zunge davon und ich genauso hinterher - hat der mich auf Trab gehalten! Ständig musste ich einen Gang höher schalten, ein ums andere Mal aus dem Sattel steigen; die Pedale waren ebenso einem Härtetest ausgesetzt wie meine Waden. Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr gehechelt hat. Jedenfalls, an das Denken irgendwelcher Gedanken war heute nicht zu denken.

Für den Hund war's ein echtes Erlebnis, ich sage nur: all die wilden Karnickel, die ja frühmorgens recht zahlreich rumkarnickeln. Die haben den Blues natürlich fasziniert. Allerdings hat er schnell gemerkt, dass Hakenschlagen nicht so sein Ding ist, und sich dann würdevoll zurückgehalten, denn die kleinen Flitzer hätten ihm bloß auf der Schnauze herumgetanzt, und das wollte er sich nicht bieten lassen.

Und selbstverständlich hat er erst mal Bauklötze gestaunt über die vielen frühen Gassi-Hunde. Aber wie gesagt, der Blues ist kein Dummkopf - auch das hat er gleich gerafft, dass die (überwiegend) wohlgestriegelten Mittelschichts-Wuffis in einer anderen Liga spielen als er. Also ließ er von ihnen ab. Es gab auch so noch genug zu erschnüffeln für ihn.

Richtiggehend gereizt hat er auf die rudelartig auftretenden Nordicwalker(innen) reagiert; das alberne Geklappere mit den Stöcken kann der Blues überhaupt nicht ab. Es erinnert ihn wohl irgendwie an Märsche und ähnliches Zeug, und da fährt er ganz schlecht drauf ab, mein Blues. Geknurrt hat er wie ein Kampfhund - ich habe mein verschnarchtes Haustier nicht wieder erkannt. Die Nordic-Damen traten dann auch gleich sehr respektvoll an den Wegrand (so Spalier-mäßig, was zu der Klack-Klack-Marschiererei ja gut passt) und ließen uns passieren, was, wenn ich allein auf dem Fahrrad unterwegs bin, keineswegs der Fall ist. Braver Hund.

Hochinteressant fand der Blues dagegen jenen Park-Freischläfer, der mir täglich begegnet, seit ich im Frühtau zu Putze unterwegs bin. Der Hund blieb abrupt stehen und spitzte die Ohren: Die sägewerk-artigen Geräusche aus dem Schlafsack haben ihn wohl an irgend etwas erinnert - ein Fall von Seelenverwandtschaft, vermutlich. Ich musste den Blues fast mit Gewalt zum Weiterlaufen bewegen.

Viel zu früh (wegen des mörderischen Tempos) erreichten wir das Restaurant. Ich öffnete die Tür - der Hund checkte kurz die fremde Umgebung, sauste im Endspurt mit wehenden Ohren an Frau Übermops sperrangelweit geöffnetem Mund vorbei, peilte zielsicher die Ecke mit dem Klavier an, und - pardauz! - ließ sich mit einem homerischen Ächzen unterm Klavier nieder, streckte alle Viere von sich und sonderte für den Rest des Vormittags nur noch eine Schnarchfanfare ab, dass die Klavierbeine wackelten. Ich schickte ein Stoßgebet sonstwohin, dass dabei nicht das ehrwürdige Piano hoffnungslos verstimmt wurde - sonst könnte es Ärger geben.

Frau Übermop schaute erst den Hund an, dann mich, schüttelte ungläubig den Kopf und brummte dann resignierend: "Ich wusste es schon immer - du spinnst".


Mittwoch, 11. August 2010

Am Leben sein


Alles fügt sich und erfüllt sich
Musst es nur erwarten können.
Das klingt nach Poesiealbum und ist von Christian Morgenstern.

Aber ich schreibe frühmorgens kein Poesiealbum, sondern sitze auf dem Fahrrad und knete und trete und spüre den Rhythmus meiner Tritte und den Widerstand in den Pedalen, spüre diesen Widerstand wachsen beim Bergauffahren und höre meinen Atem, der zu lautem Schnaufen wird, über vier Pedaltritte ein geräuschvolles Ausatmen nach zwei Pedaltritten Einatmen, rolle bergab mit einem langgezogenen Stöhnen der Erleichterung und trete erneut bergauf, ein-ein-aus-aus-aus-aus, und plötzlich sind sie da, diese beiden Zeilen, kommen einfach aus dem Nichts und gehen dort auch wieder hin, aber erst mal bleiben sie und fahren mit, auf vier Pedaltritte eine Zeile, immer beim Ausatmen, alles fügt sich und erfüllt sich, mit der '1' auf 'fügt', also mit Auftakt, rolling the count, rolling the bike, und es kommt mir nicht in den Sinn, dass diese Zeilen von Morgenstern stammen, weil es mich frühmorgens auf dem Rad gar nicht interessiert, von wem welche Zeilen stammen, denn heute waren es diese Zeilen und an anderen Tagen sind es andere Zeilen, die kommen und mich begleiten und wieder gehen, genau wie all jene losen, undomestizierten Gedanken, die auf meinen frühen Fahrten aus dem Nichts auftauchen, herumgeistern, ein Stückchen mitfahren und dann wieder abspringen, als ob sie per Anhalter unterwegs sind, und es ist unmöglich, diese Gedanken zu ordnen oder gar festzuhalten, denn sie führen ein Eigenleben und wollen einfach nur mal kurz gedacht werden, bevor sie sich wieder verabschieden und einen ihrer ebenso flüchtigen Kollegen vorbeischicken, der ein ähnlich verhuschtes Spiel treibt und es ablehnt, sich im Kopf einzunisten, aber trotzdem Spuren hinterlässt, all diese Gedanken, die wie aufgewirbelte Sedimente herumschwirren und sich in verborgenen Nischen wieder niederlassen, während ich in die Pedale trete und schnaufe und keuche, ein-ein-aus-aus-aus-aus, und für einen kurzen Moment ist plötzlich Coco Schumann zu Gast in meinem Kopf und singt Ausgerechnet, ausgerechnet heute abend, obwohl es doch früher Morgen ist, aber das kümmert Coco Schumann so wenig wie mich, er singt und das Lied glitzert wie Tau, bevor er wieder verdunstet, eben war er noch da und schon ist er fort, und auf einmal laufen Tränen herunter, die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen, obwohl das kleine Lied doch so harmlos klingt, es aber überhaupt nicht ist, und die Tränen spülen das Lied wieder weg, bevor sie versiegen und Platz machen für den Regen, der rauscht und rauscht und immer größere Pfützen hinterlässt, durch die das Fahrrad surrt und schnürt, wodurch der Rhythmus unregelmäßig wird und eigensinnige Akzente setzt und verhindert, dass Monotonie aufkommt, und ich fahre und trete und schnaufe weiter und weiß nicht mehr, woher ich komme und wohin ich gehe, aber ich weiß, dass das mein Leben ist und sich irgendwie, irgendwann schon alles fügen wird.


Christian Morgenstern: Stilles Reifen
Coco Schumann: Ausgerechnet heute abend (Infotext von 'KraftgegenFreude' - lesen, lesen, LESEN!)
Play Your Own Thing, DVD-Trailer (Coco Schumann an der Gitarre bei 2:06 min.)

Dienstag, 10. August 2010

Holzauge


Ich habe mal gelesen, dass es Tiere gibt, die mit offenen Augen schlafen, habe aber vergessen, welche Tiere das sein sollen. Hunde gehören aber nicht dazu, meine ich mich zu erinnern.

Aus diesem Grund macht es mich etwas nervös, dass mein Hund Blues zwar schläft und dabei weltmeisterlich schnarcht, jedoch neuerdings ein Auge dabei geöffnet hat. Nicht richtig offen, nur so halb, so transusig irgendwie, aber immerhin, das linke Auge ist eindeutig nicht völlig geschlossen.

Ich weiß jetzt nicht, soll ich meinem Gehör trauen (Geschnarche) oder dem Augenschein (linkes Auge auf Halbmast)? Eigentlich bin ich ja der Typ, der sich auf seine Ohren wesentlich mehr verlässt als auf seine Augen, und bin damit immer gut gefahren. Jemand, der mich gut kennt, hat mal zu mir gesagt: Du siehst mit den Ohren. Da ist was dran. Manchmal, wenn die Leute über irgend etwas reden, mache ich die Augen zu und kriege dann sehr viel besser mit, was gemeint ist, vor allem, wie es gemeint ist.

Andererseits gibt es diese Redensart, dass man bloß nicht die Augen verschließen sollte vor irgend etwas, und da ist ja nun auch was dran. Wenn also mein Hund seine Augen nicht verschließt, zumindest nicht sein linkes, sollte ich ihn vielleicht ebenfalls im Auge behalten. Weil, sonst rennt er am Ende noch laut schnarchend, aber mit weit aufgerissenen Augen durch mein Leben, so eyes-wide-shut-mäßig, und dann könnte es zu spät sein.

Montag, 9. August 2010

Hundeleben

Ich und mein Hund, heute früh:


Erst Bettflucht um zwanzig nach drei.
Dann keine Internetverbindung.
Schlackerndes Netzwerk.
Und kein Kaffee im Haus.

Knurr.

Sonntag, 8. August 2010

Mobile Triebkontrolle


Man macht sich ja über alles mögliche so seine Gedanken, besonders an verregneten Tagen wie heute. Trotzdem, bisher wäre es mir nie im Leben eingefallen, mir über das Geschlecht von Mobiltelefonen den Kopf zu zerbrechen. Das Handy, der Handy, die Handy? Heißt es der, die oder das Blackberry? Ich bin verwirrt. Sind Mobiltelefone weiblich? Wohl schon, denn alles Übel stammt bekanntlich vom Weibe, und wer seine Finger nicht von seinem gottlosen Blackberry lassen kann, dem kann neuerdings geholfen werden.


Dieser schicke kleine Überzieher (pardon, Überzieherin) ist jetzt in Saudi-Arabien erhältlich - was heißt erhältlich, er ist Pflicht für jeden Blackberry-Benutzer.
'Mit der Blackberry Burka können die Leute immer noch ihre Mobiltelefone benutzen', sagte ein saudischer Regierungssprecher, 'allerdings wird der kleine Sehschlitz auf dem Display sie daran hindern, Emails zu lesen oder im Internet zu surfen.'
Jetzt also verschleierte Mobiltelefone - der Sehschlitz erlaubt gerade noch, Uhrzeit und Datum abzulesen; der ständig lauernden Verführung durch das Internet jedoch ist endlich ein Riegel vorgeschoben.

Wie zu lesen ist, trifft die niedliche kleine Burka (ist sie nicht nachgerade sexy?) auf ungeteilte Zustimmung bei religiösen Hardlinern in den Golfstaaten:
'Hätte Allah den freien Zugang zum Internet gutgeheißen, hätte er uns mit Web Browsern in unseren Köpfen erschaffen.'
Hat er aber nicht.
'Nirgendwo im Koran findet sich eine Erwähnung von Textbotschaften, und an keiner Stelle ist überliefert, dass sein Prophet Mohammed oder eine seiner elf Ehefrauen jemals Dinge gesagt hat wie LOL, ROFL oder PSML.'
Saudische Blackberry-Benutzer wissen die textile Vermummung ihres edelsten Teiles durchaus zu schätzen, denn diese:
'...gibt mir die Freiheit, in der Öffentlichkeit mit meinem Blackberry herumzulaufen ohne das Gefühl, dass alle Welt begehrliche Blicke auf meine Multimedia-Applikation wirft. Darüber hinaus mindert es mein Schamgefühl, kein iPhone zu besitzen.'
Doch, die meinen es ernst, die Saudis: Wer sich weigere, sein Blackberry züchtig in einer Miniburka zu verhüllen, solle hart bestraft werden:
'Ich werde nicht verraten, worin die Bestrafung bestehen wird', sagte der Justizminister, 'aber es genügt wohl anzudeuten, dass es nicht leicht sein wird, mit den Fußzehen SMS einzutippen.'
(Leider ist mir die saudi-arabische Originalquelle nicht zugänglich, vermutlich weil eine Burka drübergehängt wurde. Gottlob gibt es NewsBiscuit.)

Samstag, 7. August 2010

Viva La Cumbia!


Gestern abend war ich auf einem Open-Air-Konzert mit lateinamerikanischer Musik: kolumbianisch-venezolanische Cumbia und Rumba (hier der Klassiker La Colegiala). Das Ganze auf brachliegendem Bauland, bisschen pampa-mäßig, lauer Sommerabend, viel latino-gebraute Cerveza und eigentlich fast überall nur tanzende Menschen, wie sich das gehört. Wer nicht getanzt hat, sah irgendwie so aus, als ob ihm das peinlich sei. Gut so. Leider Gottes ist es viel zu häufig andersherum. Irgendwie. Hierzulande, meine ich.

Die Menge wogte, groovte und pulsierte also, und nach jedem Stück trat der kolumbianische Sänger oder der venezolanische Keyboarder ans Mikrofon und machte die Ansagen. Einmal, gegen Ende des Konzert, traten beide vors Mikrofon. Erst alberten sie ein wenig herum; ein Wort gab das andere. Von lauten Rufen aus dem Publikum angefeuert, lieferten sie schließlich eine Nummer ab, die nur als geniale, durchtriebene Politpantomime zu bezeichnen war.

Der Kolumbianer - klein, drahtig, koboldhaft, mit gestutztem Bart - stand an der Seite des Venezolaners - groß, massig, breitschultrig, fleischiges Gesicht. Beide reichten sich die Hände, mit der Art von Grandezza, wie es Politiker vor Fernsehkameras gerne tun. Das Publikum wurde immer erregter. Der Große schüttelte heftig an der Hand des Kleinen. Schließlich riss der Venezolaner mit der rechten Hand die linke des Kolumbianers in die Höhe und brüllte pathetisch "Mi amigo, mi amigo!", während der Kolumbianer wie eine Marionettenpuppe mit ins Gesicht getackertem Showlächeln das Bad in der Menge genoss. Die Menge tobte.

Ich brauchte eine Zeitlang, bis ich verstand, was da im Publikum immer lauter skandiert wurde. Es waren zwei Worte, die ständig wiederholt wurden; das erste Wort war "Fuera!", das verstand ich, heißt "Raus!". Das zweite Wort war mir ein Buch mit sieben Siegeln. Im Publikum wurde gekreischt, gepfiffen und gejohlt. Der kleine Kolumbianer lief schauspielerisch zur Hochform auf - sein Gesicht erstarrte zu einer unglaublich dämlichen, dauergrinsenden Fratze, der große Venezolaner zerplatzte fast an seinem aufgeblasenen Pathos und die ganze Szene wirkte derart absurd und politgrotesk, dass es mir auf einmal wie Schuppen vor die Augen fiel und ich begriff, was da frenetisch gegrölt wurde: "Fuera Ahmadinejad! Fuera Ahmadinejad!"

Es handelte sich um eine Anspielung auf den Besuch des iranischen Präsidenten Ahmadinejad letztes Jahr in Venezuela. Mit großem Pomp, rotem Teppich, militärischen Ehren und markigen Worten war er von Venezuelas Staatschef Chavez empfangen worden. Genosse Hugo hatte sich sogar dazu verstiegen, den persischen Gast mit den Diktatoren Idi Amin und Robert Mugabe zu vergleichen, wogegen nichts einzuwenden wäre, hätte Chavez dies nicht im positiven Sinne getan. Dem kleinen iranischen Gernegroß war das runtergegangen wie Öl.

Ob das venezolanische Volk diesen Gastauftritt genauso prickelnd gefunden hat, weiß ich nicht; aber ich weiß, dass gestern abend klare Ansagen gemacht wurden - auf der Bühne, vor der Bühne. Clubbing mit Diktatoren? No hombre! Fuera! Wobei ich dem venezolanischen Präsidenten vieles zutraue, aber eines nicht, nie, nie, nie im Leben: Dass er seinen Landsleuten die Musik verbietet. Die würden ihn umgehend auf eine heiße Stange spießen, teeren, federn und im tiefsten venezolanischen Ölbohrloch versenken.

Nochmal La Cumbia, nochmal der unwiderstehliche Rodolfo y Su Tipica, diesmal con movimiento.


Tabaco y Ron. Baila!

Freitag, 6. August 2010

Gotteswort und Teufelswerk


Eigentlich war ich heute wild entschlossen, ein Blogpäuschen einzulegen. Der gestrige Übersetzungsmarathon sitzt mir noch in den Knochen. Aber dann passieren Sachen in der Welt, die lassen einem dann doch keine Ruhe.

Musik sei nicht kompatibel mit islamischen Werten, verkündet der iranische Ayatollah Ali Khamenei druckfrisch. Musik ist für ihn offenbar des Teufels. Ein 21-jähriger treu ergebener Staatsbürger hatte beim Obermufti nachgefragt, ob er wohl zum Geldverdienen Musikunterricht geben dürfe und erhielt eine barsche, wenn auch wohlbegründete Abfuhr: Es sei besser, "unsere teure Jugendgeneration" verwende ihre "wertvolle Zeit" mit dem Büffeln von Wissenschaften und dem Erlernen anderer "essentieller und nützlicher" Fähigkeiten, wie zum Beispiel Sport und "gesunden Freizeitaktivitäten", aber bitte nicht mit Musik.

Ein ehemaliger Mithäftling von Khamenei (ja, der saß zu Zeiten vor der islamischen Revolution mal im Knast und gehört da schleunigst wieder hin mitsamt seiner Musikparanoia) namens Houshang Asadi erinnert sich noch gut, dass Khamenei es absolut nicht verknusen konnte, wenn Asadi in der gemeinsamen Zelle ein iranisches Volkslied geträllert habe. Er möge das gefälligst bleiben lassen, wurde ihm von seinem Zellengenossen beschieden, und stattdessen zu Gott beten. "Er hat Musik von Anfang an gehasst", erzählt Asadi.

Jetzt, wo Khamenei längst wieder auf freiem Fuß und wichtigstes Mitglied der Regierung ist, weiß auch Präsident Ahmadinejad sich gut unterstützt von dem religiösen Hardliner an seiner Seite: Seit seiner Wahl 2005 griff er hart durch in allen musikalischen Belangen; war es zunächst nur westlich orientierte Musik, die auf dem Index stand, sind es inzwischen auch einheimische Künstler, die sich der populären iranischen Musiktradition verschrieben haben. Der Vertrieb von immer mehr Alben wird ebenso verboten wie öffentliche Konzerte (die einer amtlichen Genehmigung bedürfen).

Musikkonzerte, muss man wissen, sind der iranischen Obrigkeit auch deshalb ein Dorn im Auge, weil sie den oppositionellen Kräften im Lande eine willkommene Gelegenheit bieten, ihrer Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen Luft zu machen. Der erfolgreiche und politisch engagierte iranische Sänger Mohammad Reza Shajarian erklärt es so:
Sie haben Angst vor meinen Konzerten, weil in jenen Augenblicken unmittelbar vor Konzertbeginn, wo die ganze Halle in Schweigen und Dunkelheit gehüllt ist, plötzlich einer anfängt zu brüllen 'Tod dem Diktator', und dann brüllt das gesamte Publikum mit, so dass es unmöglich ist, denjenigen zu identifizieren, der das Gebrüll losgetreten hat.


Eat this, Khamenei.

Donnerstag, 5. August 2010

Kultur der Armut


Gestern abend zu (für meine Verhältnisse) später Stunde bin ich auf einen Text gestoßen, der mich umgehauen hat. Mit offenem Mund saß ich vor dem Bildschirm und war todmüde, aber elektrisiert, und blieb noch lange vor dem Bildschirm sitzen.

Da schreibt jemand über Dinge, die ich schon lange mit mir herumtrage und von denen ich noch nicht weiß, wie ich sie in Worte fassen soll; weil ich noch keine Worte gefunden habe, die verhindern, dass ich hart am Sozialkitsch vorbeischramme. Lieber halte ich den Mund. Aber hier findet einer die richtigen Worte - einfache, schmerzhaft klare Worte, mit denen er den Finger auf klaffende gesellschaftliche Wunden legt, ohne Angst, missverstanden zu werden, denn wer ihn missverstehen will, der soll es seinetwegen eben tun.

Ein halb unsichtbarer satirischer Metallicfaden ist in das Textgewebe eingesponnen. Er schillert ein wenig ätzend und kann Gänsehaut verursachen. Der den Text gewebt hat, heißt Dmitry Orlov, ist Russe und lebt in Amerika. Er schreibt ein phantastisch gutes, mutiges, eigenwilliges Blog, in dem er sich den american way of life in der Krise vorknöpft. Seine Texte pflegt Orlov mit 'Kollapsnick' zu zeichnen; damit gibt er bereits die Richtung seiner Gedanken vor - als Russe kennt er sich hervorragend aus mit Systemabstürzen.


In seinem aktuellen Text widmet Orlov sich dem american way of life nach der Krise. Er schreibt über Armut und Glück, über Sozialhilfe, über faule Arme und faule Reiche, über Gehirnwäsche, über Lenin, über die Nazis, über das verarmte Amerika, über die Russen im allgemeinen und die Russen in Amerika im besonderen, über gesunden Hunger.

Sein Hauptthema aber ist die Kultur, genauer: die Kultur der Armut.

Das Streben nach Elend
Während ich dies schreibe, bin ich unterwegs nach Washington zu einer Konferenz - einer Konferenz (unterstützt von der Community Action Partnership) zum Thema "Die neue Realität: Wie sich das arme Amerika einstellt auf kommende härtere Zeiten". Auf dem Programm stehen Diskussionen über Erwerbstätigkeit, Ernährung, Wohnverhältnisse, Gesundheitswesen, Sicherheit, Bildung, Transportwesen, und sogar solche gefühligen (touchy-feely) Themen wie Gemeinschaftszusammenhalt (community cohesion), Kommunikation und - last but not least - vor der Cocktailpause: Kultur. Die Empfehlungen dieser Konferenz werden in einen Bericht eingearbeitet und die Schlussfolgerungen auf der jährlichen CAP-Konferenz noch diesen Monat präsentiert werden.

Das arme Amerika wird möglicherweise ein Land sein mit nur wenigen guten Jobs, mit scheußlichem Essen, mit heruntergekommenen Wohnungen, mit einem unerschwinglichen Gesundheitswesen, mit einer beklemmenden, aber dennoch unwirksamen inneren Sicherheit, mit einem Bildungsprogramm vollgestopft mit Dinosaurier reitenden Jesussen (Jesuses), mit einem Verkehrswesen bestehend aus abgetakelten Kleinlastwagen und Straßen voller Schlaglöcher, mit nicht viel mehr Gemeinschaftszusammenhalt als momentan und mit einer Kommunikation, die immer noch dominiert sein wird von den unternehmenseigenen Medien.

Aber andererseits - was wird aus diesem sonderbaren kleinen Diskussionsthema werden, welches ganz am Ende der Agenda auftaucht: die Kultur? Zwar erwarten wir künftig ein Heer von Armen, unkultiviert, ungebildet, ungehobelt; aber sollten wir darüber hinaus nicht erwarten, dass sich eine Kultur der Armut entwickeln wird als eine Anpassungsleistung ans Armsein? Für einen Anthropologen stellt Kultur einen Mechanismus der Anpassung dar, welcher sich herausbildet, um die Menschen zum Überleben zu befähigen und ihnen zum Gedeihen zu verhelfen, gemäß den sie umgebenden Bedingungen. Gut, für andere Leute mag Kultur darin bestehen, einen Freudentanz aufzuführen oder auf einem Instrument zu klimpern. Für mich ist Kultur in erster Linie eine Frage der Literatur.

Der russische Autor Eduard Limonov schrieb einmal über seine Erfahrungen mit Armut in Amerika: Zu seiner Freude hatte er festgestellt, dass er seine Einkünfte mit Mitteln aus der Sozialhilfe aufbessern konnte. Jedoch musste er alsbald feststellen, dass es ratsam war, ebendiese Freude besser geheimzuhalten; nämlich dann, wenn er (bei der Behörde) erschien, um sich sein Geld abzuholen. Kurioserweise nämlich erhalten in Amerika nur die Elenden und Geknechteten Sozialhilfe, nicht aber diejenigen, die zwar der Sozialhilfe bedürfen, aber ansonsten ein völlig zufriedenes Leben führen. Und obwohl es in Amerika - genau wie überall sonst in der Welt - durchaus möglich ist, zugleich arm und glücklich zu sein, ist man in Amerika gezwungen sich zu entscheiden: Um zu vermeiden, in alle möglichen unerfreulichen Situationen zu geraten, sollte man in diesem Land sorgsam darauf bedacht sein, entweder seine eigene Armut zu vertuschen oder aber den Umstand, dass man glücklich ist. Will man Sozialhilfe bekommen, bleibt einem nur die Wahl zu leugnen, dass man ein glücklicher Mensch ist.

Ein weiteres Kuriosum besteht darin, dass unzählige Amerikaner - egal ob reich oder arm - für ein Verhalten wie das von Limonov nichts als Verachtung übrig haben: Ein ausländischer Autor lebt in Amerika von Sozialhilfe, obwohl er doch durchaus etwas Geld verdient! Nun mag es einleuchten, dass die Reichen auf einen Limonov so reagieren; denn wenn man die Armen nicht zu Elenden machen kann, was nützt es dann überhaupt, reich zu sein? Nur - warum regen sich die Armen genauso über einen Limonov auf? Auch dies ist eine typisch amerikanische kulturelle Eigenart: Was die Leute hierzulande empört, ist nicht etwa das Verschleudern von Staatsgeldern. Erzähl' den Leuten etwas über die Billionen, die an nutzlose militärische Projekte vergeudet werden, und sie werden mit nichts als einem Gähnen reagieren - weil das schließlich business as usual sei. Aber erzähl' ihnen etwas über irgendeinen bedürftigen Menschen, der etwas umsonst bekommt (eating a free lunch), und sie werden augenblicklich vor Entrüstung schäumen. Erstaunlicherweise glauben ausgerechnet die Amerikaner felsenfest an das revolutionäre geflügelte Wort von Lenin: "Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen!" Eine der rüpelhaftesten Fragen, die man von Amerikanern gestellt bekommt, ist "Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt? (What do you do for a living?)". die einzig angemessene Antwort darauf ist "Wie bitte?", gefolgt von einem selbstzufriedenen Grinsen und einem steinernen Schweigen - weil sie dann vermuten, dass du ein unabhängiger reicher Sack bist, vor dem sie kriechen können.

Am schockierendsten ist der Umstand, dass es viele arme Amerikaner gibt, die zu stolz sind, staatliche Unterstützung zu akzeptieren, trotz ihrer augenfälligen Bedürftigkeit. Hingegen würden die Russen so eine Einstellung als absurd betrachten: Sie würden sich fragen, womit diese armen Idioten ein Problem haben - mit dem Umstand, dass es sich um Geld handelt, oder mit dem Umstand, dass es das Geld umsonst gibt? Es gibt in Amerika lebende Russen, die, weil sie sich unbedingt an die amerikanische Gesellschaft anpassen wollen, eine hohe Dosis der hier üblichen Heuchelei verinnerlicht haben; aber selbst diese Russen werden einräumen (zumindest in ihren weniger heuchlerischen Momenten), dass es geradezu töricht wäre, free money abzulehnen. Und seien Sie versichert - auch diese Russen würden das Geld bis auf den letzten Penny herausleiern. Mutter Russland hat nämlich keine Schnullerpuppen (dummies) großgezogen.

Aber wir wollen diesen Opfern nicht ihre Haltung zum Vorwurf machen. Denn was diese bedauernswerten Seelen veranlasst, frei erhältliches Geld einfach auf dem Tisch liegen zu lassen, ist ganz simpel: Sie haben eine Gehirnwäsche verpasst bekommen. Schließlich werden die Massenmedien - besonders das Fernsehen und die Werbung - bewirtschaftet von den Reichen, und die hämmern den Leuten unaufhörlich die Botschaft ein, dass harte Arbeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit tugendhaft seien, während sie die Faulen und die Armen dämonisieren. Dieselben Leute, die amerikanische Arbeitsplätze nach China und Indien ausgeliefert haben, um ihre Profite zu steigern, wollen es zum common sense machen, dass die daraus resultierende Misere ausschließlich das Versagen der Elenden ist. Und während die Rolle des Profitmotivs zwar eine maßgebliche ist, sollte keinesfalls vernachlässigt werden, die bedeutsame Tatsache zu erwähnen, dass das Produzieren von Massenarmut ein vordringliches Ziel an und für sich ist.

Sehen Sie, es sind schwierige Zeiten für reiche Leute. Früher einmal hat der Besitz von einer Million Dollars aus Ihnen einen Millionär gemacht; diese Zeiten sind vorbei! Um heutzutage ein absolut sicheres und von der ökonomischen Realität vollisoliertes Leben zu führen, brauchen sie mindestens zehn Millionen, wenn nicht noch mehr, und je mehr Sie haben, desto nervenzermürbender werden für Sie die heftigen Wellenbewegungen der Finanzmärkte und die düsteren Prognosen der Experten. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie können das Vermögen einer Person, über den Daumen gepeilt, realistisch einschätzen, wenn Sie danach gehen, wie nervös und elend diese Person aussieht.

Neulich hatte ich Gelegenheit zu erleben, wie ebendieses Elend zur Schau gestellt wird. Wir machten eine Woche Urlaub in Cape Cod. Wir nahmen ein Segelschiff hin und zurück (den Wind gab's gratis) und ankerten (die Vertäuung wird kommunal zur Verfügung gestellt, ist also erschwinglich). Wir paddelten bis zur Küste und wieder zurück zum Schiff in unserem selbstgebauten Sperrholzboot. Dann fuhren wir mit dem Fahrrad durch die Gegend und sammelten essbare Pilze entlang des Radweges. Nun wird um die Jahreszeit dieser Teil von Massachusetts komplett überrannt von wildgewordenen Massen der allerneuesten blinkenden SUVs mit Kennzeichen aus New York und New Jersey. Sie werden gefahren von den verschiedensten Exemplaren mittelalter betuchter amerikanischer Büro-Menschenfresser (Office Ogre) - der Rechtsanwalt, der Arzt, der Zahnarzt, der Banker, der Lobbyist mitsamt dem Unternehmer - von Leuten also, die versuchen, mit ihrer gesamten geraubten Beute (loot) irgendwohin abzuhauen. Allerdings wird die hoheitliche Inszenierung irgendwie gestört von jenen griesgrämigen, missmutig dreinschauenden Menschenfressern mit ihren Reibeisenstimmen sowie ihren schlaffen, übermedikamentierten Ehefrauen mit Stimmen wie ungeölten Türscharnieren. Wenn sie nicht irrlichternd in ihren SUVs herumfahren, sitzen sie in exklusiven Restaurants der oberen Preisklasse, spielen mit ihrem Essen herum und klatschen und tratschen, dass einem angst und bange werden kann. Längst haben sie vergessen, was es bedeutet, glücklich und sorgenfrei zu sein, und ihre schwerfälligen Versuche, Freude am Genuss vorzutäuschen, sind schmerzvoll zu beobachten. Glauben Sie mir: Der Anblick von armen, aber glücklichen Leuten bringt sie zur Weißglut.

Nun ist es keineswegs so, dass ich mich daran weide. Nein, wirklich, mir tun diese armen reichen Leute leid, und ich habe sogar eine gute Nachricht für sie: Ihr Zustand ist alles andere als unheilbar. Ich kenne Leute, die sind vorzeitig ergraut, haben an Gewicht verloren und sind schon vor Schrecken schreiend aufgewacht, während sie ihre letzten 500.000 Dollar an Ersparnissen ins Nichts dahinschrumpfen sahen, begraben unter einem Haufen Schulden - aber wenn erst einmal das ganze Geld abgefackelt ist und die hartnäckigen Gläubiger sich davonmachen mit den Überbleibseln ihres Besitzes, dann haben diese Menschen ein viel, viel sorgenfreieres Leben, und das wird ihnen die Chance geben, nochmal von vorne anzufangen und zu gewichten, was im Leben wirklich wesentlich ist und was ihnen wirklich Freude bereitet. Wir sehen also: Wo Gram ist, wächst Freude nach. Darum müssen wir uns nicht übermäßig grämen über die armen reichen Leute, denn so wie die Dinge stehen, lösen sich ihre Probleme wohl ganz von selbst. Und vergessen Sie eines nicht: Verglichen mit den respektablen, oft unüberwindlichen Herausforderungen, vor denen jene stehen, die versuchen, ihrer Armut zu entkommen, fällt die sich nach unten orientierende Mobilität kinderleicht und kann mit ein bisschen Weitblick so komfortabel wie stilsicher vollzogen werden.

Für die Armen Amerikas habe ich ebenfalls gute Nachrichten. Obwohl es zwar extrem unwahrscheinlich ist, dass sie jemals um einen Deut reicher werden, sind sie bereits jetzt reich genug. Neulich hörte ich eine Story auf NPR über eine arme Familie, die auf Jagd zu gehen pflegt nach herabgesetzten Lebensmitteln, dann jedoch vor der Vorratskammer ihres eigenen privaten Minivans innehielt! Eine arme Familie also, die etwas besitzt, was in vielen Teilen der Welt auf ein komplettes Busunternehmen hinauslaufen würde! Weil, selbst wenn sie nicht genug herabgesetzte Lebensmittel auftreiben könnten, hätten sie immer noch genug, um ihre Kinder durchzufüttern, während die Erwachsenen eben eine Mahlzeit ausfallen ließen. Das ist gesund: Hunger ist symptomatisch für einen guten Appetit, und bei dem gegebenem Leibesumfang der meisten Amerikaner ist periodisches Fasten eine vernünftige Wahl. Mehr noch, diese Familie klang irgendwie ziemlich glücklich mit ihrem Lebensschicksal.

Was ich damit sagen will: Eine arme, aber sorgenfreie Zukunft mag auf sehr viele von uns warten, sowohl auf die faulen Reichen als auch auf die faulen Armen - wie eine einzige glückliche, wenn auch weitgehend verarmte Familie. Nur, um dies zu erreichen, müssen wir die Kultur verändern. Es sollte sich unbedingt herumsprechen, dass free lunch in der Tat eine sehr gute Sache ist, ganz egal, wer ihn isst und warum er das tut, und machen Sie sich nichts draus, dass Lenin einst sagte "Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen." Und wo wir gerade dabei sind, lassen Sie uns auch verzichten auf auf das abgedroschene Sprichwort von wegen "Arbeit macht frei", welches den Nazis gefiel, weshalb sie es in Schmiedeeisen gefasst oben auf die Tore ihrer Konzentrationslager plazierten. Lassen Sie uns die Kommunisten und die Faschisten und die Kapitalisten dem sprichwörtlichen Schrotthaufen der Geschichte übergeben! Lassen Sie uns stattdessen, völlig unentgeltlich, Jesus zitieren: "Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen. Sie arbeiten nicht und sie spinnen auch nicht. Und doch, sage ich euch, Salomo in all seiner Pracht und Herrlichkeit war nicht so geschmückt wie sie. ... Darum sollt ihr nicht besorgt sein: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? oder Womit sollen wir uns kleiden? ... Daher sorget euch nicht um die Übel des morgigen Tages. Denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag hat seine eigenen Übel." Amen.

(Übersetzt von Mrs. Mop mit freundlicher Genehmigung des Autors.)