Sonntag, 31. Oktober 2010

Die halbe Miete


"Selig sind die am Geiste Armen", heißt es irgendwo in der Bibel, aber ich weiß nicht so recht, ob das wirklich stimmt. Weil, vielleicht ist ja einer erst dann selig, wenn er einen Geist hat, weil er dann nicht mehr so arm ist wie ohne Geist. Vorausgesetzt, der Geist zahlt ihm seine Miete. Das klingt jetzt ziemlich wirr, wurde aber jüngst bestätigt durch eine wissenschaftliche Studie, genauer gesagt durch eine, wie vermutet werden darf, Halloween-induzierte Umfrage.

Fragt man nämlich die Leute, ob sie bereit wären, ihre Wohnung mit einem Geist zu teilen, wenn sie dafür die Hälfte weniger Miete zahlen müssten, dann bejahen das immerhin 27 Prozent aller Amerikaner. Was bedeutet, dass ich mit 27 Prozent der Amerikaner sympathisiere, denn lieber würde ich meine Wohnung mit einem Gespenst teilen als mit einem der verbleibenden 73 Prozent Amerikaner, die so etwas nicht tun würden. Logisch, oder?

Natürlich bin ich mir im Klaren, dass so eine WG mit einem Gespenst nicht ohne Kompromisse zu haben ist. Aber immer noch lieber ein halbwegs entmaterialisiertes, pünktlich zahlendes Gespenst als einen wildfremden, vollumfänglich physischen Untermieter mit womöglich schlecht riechenden Socken, geistlosen Sprüchen und ständig im Mietrückstand.

Geklärt werden müsste freilich die Frage der gemeinsamen Haushaltsführung. Was, wenn der Geist all seine Freunde zum Feiern einlädt und die mir mein ganzes Bier wegtrinken? Geht dann der Geist zur Tankstelle und holt neues Bier? Hat er dafür Geld? Oder muss ich es ihm geben? Bin ich etwa unterhaltspflichtig? Wie gesagt, kompromissbereit wäre ich, würde allerdings darauf pochen, dass der versoffene Mitbewohner sich auch an den Betriebskosten beteiligt.

Auch drängt sich die Frage auf, wie reinlich so ein durchschnittliches Gespenst sich verhält. Muss ich ihm hinterher putzen? Wer wäscht dem Gespenst seine Laken? Geht ein Gespenst aufs Klo? Verbraucht es Klopapier? Lässt ein Gespenst auch immer schön die Klobrille unten? Alles läppische Detailprobleme, aber auch diese läppern sich am Ende. Am besten drücke ich dem Geist gleich die gesamten Nebenkosten aufs Auge, zusätzlich zur halben Miete. Wieder was gespart.

Wobei, wenn ich es mir recht überlege, sollte ich das Ganze eventuell geschickter einfädeln, um den Etat (meinen) noch niedriger zu halten. Das heißt, ich lasse das Gespenst erst mal drei, vier Wochen hier probewohnen. Mit Sicherheit wird das Gespenst es bei mir sehr gemütlich finden und bleiben wollen. Kein Problem, werde ich sagen und sodann listig fragen, ob es schon mal an den unschätzbaren Komfort einer eigenen Haushälterin gedacht habe? Wow, wird das Gespenst antworten, du bringst mich auf Ideen! Daraufhin werde ich großzügig den Kühlschrank öffnen und rufen: Was mein ist, soll auch dein sein!, worauf das Gespenst - maßlos, wie Gespenster nun mal sind - ein paar Bier zu viel zischen und einen gewaltigen in der blütenweißen Krone haben wird; just bei dieser Gelegenheit werden wir vereinbaren, dass das Gespenst mir für meine haushälterische Betreuung die andere Hälfte der Miete noch obendrauf legt. Ich wäre aller Sorgen ledig, und beide lebten wir fortan in Saus und Braus.

Doch damit nicht genug - mit etwas Geschäftssinn ließe sich das neuartige Gemeinschaftswohnmodell noch lukrativer gestalten; zum Beispiel könnte ich bei meinem Vermieter nachfragen: Haben Sie vielleicht auch Wohnungen mit zwei Gespenstern und 100 Prozent Mietnachlass? Ha, runde Sache, das! Mietfreies Wohnen plus zweimal satten Haushälterinnenlohn kassieren - ein sorgenfreies Lotterleben bis ans Ende meiner Tage.

Andererseits müsste ich dafür schon wieder umziehen, und darauf habe ich keine Lust. Jetzt, wo der Winter kommt. Ich hab's: Was hindert mich daran, in den eigenen vier Wänden Gespenst zu spielen? Wo Ich war, soll Geist werden. Bisschen rumgeistern, dann betroffen den Vermieter kontaktieren und ihn zur Mietreduktion auffordern. Das wäre dann die sogenannte kleine, durchaus marktfähige Lösung - es ließe sich eine maßgeschneiderte Serviceleistung daraus entwickeln ('Suchen Sie ein Gespenst auf Zeit zur mittelfristigen Senkung Ihrer Mietkosten? Rufen Sie an.'). Betonung auf mittelfristig, weil, langfristig geht man sich ja dann irgendwann selbst auf den Geist.

Samstag, 30. Oktober 2010

Schöne neue Büroarbeitswelt


Verstehe einer das Prekariat. All diese Niedriglöhner, Zeitarbeitssklaven, Minijobber, Multijobber, Aufstocker - warum lassen die sich das alles gefallen? Warum tun die nichts gegen ihre fortschreitende Ausbeutung und Demütigung? Warum wehren die sich nicht, rebellieren nicht gegen die Schlingen, die sich immer enger um ihre Hälse legen? Was muss noch alles geschehen, damit die gebeutelte Unterschicht sich aus dem von oben verordneten Würgegriff befreit?

Fragen, Fragen, Fragen. Immer wieder gern gestellt von wohlmeinenden, 'sozialkritisch' eingestellten Angehörigen der Mittelschicht angesichts zunehmender Repressalien, Lohndrückereien und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen im Niedriglohn- oder HartzIV-Bereich. Warum lassen die sich das gefallen, fragen jene Mittelschichtler aus ihren ergonomisch geformten Bürostühlen mit stufenlos verstellbaren Rückenlehnen, aus ihren stets gleichmäßig temperierten, gutgeheizten und airkonditionierten flexiblen Großraumbüros heraus? Aus jenen Open-Space-Angestelltenkäfigen heraus, in denen sich mehrere Mitarbeiter einen Arbeitsplatz teilen, um ihren Arbeitgebern zu helfen, Kosten und Energie zu sparen? Und vor lauter komfortabler, schön gestalteter Flexibilität gar nicht mehr wahrnehmen, wie energieraubend sich der Versuch gestaltet, in solcherart Umgebung - Lärm, Hintergrundrauschen, ständige Unterbrechungen - sich auf Substantielles zu konzentrieren?

Verstehe einer die Mittelschicht. Warum lassen die sich das gefallen?

In der vergangenen Woche hatte ich wieder einmal das selten gewordene Vergnügen, zwecks Auftragsentgegennahme in so einer Großraumbüro-Legebatterie zu Besuch zu weilen. Während ich mit ein paar wenigen alten Bekannten smalltalkte und unzählige unbekannte Gesichter an mir vorüberzogen, tat das geschäftige Hühnerstalltreiben um mich herum seine Wirkung: Ich wurde nervös.

Da gab es Mitarbeiter, die beim Telefonieren schalldämpfend eine hohle Hand über den Hörer legten, um ihren Kollegen am Nachbartisch nicht über Gebühr zu stören. Ich sah Menschen am Computer sitzen mit großen gepolsterten Kopfhörern - nicht um Musik zu hören oder Diktate zu verschriften, sondern um die akustische Umweltbelästigung wegzufiltern. Einer von ihnen erkannte mich, deutete gequält auf seine Kopfhörer und meinte, man gewöhne sich an alles. Irgendwie war er von ungesunder Gesichtsfarbe, fand ich, mit so Stressdellen auf der Stirn und tiefen, altersunspezifischen Furchen um die Mundwinkel.

Als zwei seiner Kollegen sich anschickten, in seiner unmittelbaren Nähe ein Problem zu diskutieren, reagierte er mit genervtem Augenrollen und wies die beiden mit einer unwirschen Kopfbewegung dorthin, wo heutzutage offenbar Probleme diskutiert werden: ins Treppenhaus. So läuft das in der schönen neuen, an der Rendite orientierten und gestalteten Büroarbeitsplatzwelt - das Treppenhaus gilt als angemessener Ort, um Besprechungen abzuhalten.

Ich saß auf meinem ergonomischen Besucherstühlchen und wurde immer nervöser bei der Vorstellung, an einem solchen Arbeitsplatz etwas produzieren zu müssen, was mich, meine Leser und meinen Auftraggeber auch nur ansatzweise befriedigen könnte. Ich befürchtete, in einem derart auf Effizienz getrimmten Umfeld nur noch höchst ineffizient arbeiten zu können, weil mir vor lauter Ablenkungen und Störfaktoren der Zugang zur eigenen Kreativität erschwert oder verunmöglicht wäre. Ich dachte an mein winzig kleines Arbeitsplätzchen zuhause; sicherlich kein Ausbund an Komfort (was nicht allein an der unverstellbaren Rückenlehne meines nur mäßig ergonomischen Stuhles liegt), aber gesegnet mit etwas, was den modernen Büronomaden verwehrt bleibt: Ruhe. Ruhe. Ruhe. Es ist mein Arbeitsplatz, an dem ich meine Ruhe habe. Ein himmlisches Plätzchen, an dem ich in Ruhe vor mich hindenken und aus mir herausschreiben kann.

Verstehe einer die Mittelschicht. Warum lassen die sich das gefallen? Schon gut, schon gut, war bloß eine rhetorische Frage. Ich kenne die Antworten: Weil man sich an alles gewöhnt. Weil man mit der Zeit gehen muss. Weil man flexibel sein muss. Weil das Arbeitsleben nun mal kein Zuckerschlecken ist. Weil halt alles so ist, wie es ist. Weil alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Weil vielleicht alles bald noch viel schlimmer kommen wird.

Kenne ich alles. Aus dem Prekariat. Noch Fragen, Mittelschicht?


PS: Um ein Haar hätte ich mein Büro-Sightseeing-Erlebnis von letzter Woche vergessen gehabt; irgendwie schien es mir nicht der Rede wert gewesen zu sein. Das änderte sich, als ich heute morgen Zeitung las, mir noch einen Kaffee kochte, die harte, unflexible Lehne meines Stuhles vergaß und die Ruhe um mich herum genoss.

Freitag, 29. Oktober 2010

Aufs Brot geschmiert


"Und was kochst du heute?" werde ich oft von Frau Übermop gefragt.

Die Frage überfordert mich komplett, denn in aller Regel habe ich am Vormittag noch keinen blassen Schimmer, was ich nachmittags oder abends kochen werde. Anders Frau Übermop: Sie plant im voraus. Ich weiß seit vorgestern, dass es bei Übermops heute abend Kohlrouladen (legendär!) geben wird. Auch ist mir seit Tagen bekannt, was Frau Übermop am Samstagmittag auftischen wird, nämlich "nichts Besonderes, nur Kartoffelsalat (preisverdächtig!) mit Würstchen".

Ich selbst dagegen fange frühestens auf dem Fahrrad so gegen halb zwölf an, darüber nachzudenken, worauf ich heute Lust hätte. Was Frau Übermop in den Morgenstunden nicht davon abhält, mir die Frage stets aufs neue zu stellen. "Keine Ahnung", antworte ich dann stets aufs neue, und stets aufs neue schüttelt sie verständnislos den Kopf.

Heute fragte sie wieder. Statt "Keine Ahnung" sagte ich: "Nichts", weil mir sonnenklar war, dass ich heute bestimmt nichts kochen würde, denn gestern habe ich einen Wahnsinnslaib von einem Vollkornbrot gebacken, auf das ich mich schon den ganzen Morgen freute. Aha, meinte Frau Übermop, "also von hinten durch die kalte Küche", ein merkwürdiger Ausdruck, den ich weniger mit einer anständigen Brotzeit als vielmehr mit schwarzgelbem Getrickse assoziiere. Was ich aber für mich behielt. Erstens aus Prinzip und zweitens, weil das Telefon klingelte.

Frau Übermops Mann war dran. Wenn die beiden sich unterhalten, verstehe ich gemeinhin Bahnhof, weil Dialekt oder besser gesagt: Platt. Tiefstes, unkodierbares Platt. Fremdsprache mit sieben Siegeln. Satzkonstruktionen, die meine Ohren schlackern lassen, sofern ich überhaupt erfasse, worum es geht. Einen Satz verstehe ich inzwischen, weil er regelmäßig am Ende jedes Telefonates erfolgt; dann sagt Frau Übermop nämlich zu ihrem Mann: "Bring was für zum Kaffee mit!" Alles klar? Was. Für. Zum. Kaffee. Was sonst. Ein paar Stück Kuchen eben oder sonst irgendwas für zum Kaffee.

Auch heute trug sie, bevor sie den Hörer auflegte, ihrem Mann auf, was für zum Kaffee zu besorgen, und automatisch fing ich an zu überlegen, was ich noch besorgen könnte, um was für aufs Brot zu haben. Denn darum geht es ja: Wer ein gutes Brot hat, braucht was Gutes für aufs Brot. Versteht doch jeder. Ich stellte mir vor, wie ich an der Käsetheke stehen und zur Verkäuferin sagen würde: Ich brauch' was für aufs Brot. Kein Problem, würde die Verkäuferin erwidern, brauchen Sie vielleicht auch noch was für untern Käse, ein Brot zum Beispiel? Oder so.

Später fragte mich Frau Übermop in astreinem, fast steril klingendem Deutsch: "Und, was gibt es aufs Brot?" Keine Ahnung, gab ich bedauernd zurück - wo ich mich doch eben erst an das folkloristische Was für aufs Brot gewöhnt hatte. Es sollte aber noch besser kommen. Als ich um elf Uhr meine Sachen zusammengepackt hatte und bereits unter der Tür stand, rief sie mir nach: "Vergiss nicht, du brauchst noch was für zum aufs Brot!" Genau. Was, zum Teufel, brauche ich? Was für zum aufs Brot. Werde ich mein Lebtag nicht vergessen.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Rache ist süß


In diesem Blog geht es ja gelegentlich um gemeingefährliche Insekten und deren effiziente Vernichtung oder na ja, sagen wir Bekämpfung. Dabei folge man dem Königsweg der strategischen Kriegsführung, der da heißt: Schlage deinen Feind mit seinen eigenen Waffen.

Stinken dir also die Stinkwanzen, mach' sie nieder mit Gestank (hatten wir schon).
Wollen fette Schmeißfliegen sich an deiner Geburtstagstorte laben, werde zum Tortenwerfer.
Fallen die Wespen in räuberischer Absicht über deinen Kuchen her, erschlage sie mit Kuchen.
Kommt dir eine Wanze dumm, bring' sie gleich mit Pudding um.

via Kottke

Hier, an der schönen blauen Donau, werden die Viecher im Dreivierteltakt umgenietet. Mithilfe einer niedlichen kleinen Wurfmaschine, die den niedlichen kleinen Krabbelmonstern lauter niedliche kleine Törtchen um die Öhrchen ballert (sorry, Tierschützer!). Das Prinzip dahinter: Rache ist süß. So einfach wie wirkungsvoll wie unterhaltsam. Muss man nur drauf kommen.

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Schräge Vögel


Gerade eben habe ich etwas ganz Exterrestrisches erlebt. Ich bin noch immer wie verhext.

Saß auf dem Fahrrad und hatte keine Lust, den straighten Nachhauseweg zu nehmen. Entschied mich für querfeldein durch die Pampa. Wie ich so fürbass über die Scholle pedalte, drangen auf einmal fremdartige perkussive Klänge in meine Ohren, von irgendwo ganz weit her. Zu sehen war nichts, zunächst. Außer ein paar Raben. Erst waren es nur wenige, dann wurden es immer mehr, und all diese Raben hopsten und flatterten auf eine Autobahntrasse zu (sagt man Trasse? oder Viadukt? eh wurscht, jedenfalls so ein hochgelegtes Autobahnteil auf, äh, Stelzen). Von dort kamen auch die fernen fremden Klänge.

Ich den Raben hinterher. Die Rhythmen wurden lauter. Durchdringend und zugleich filigran. Klingt absurd, aber es war, mit einem Wort, betörend. Nicht nur die Rhythmen wurden beim Näherkommen immer lauter, sondern, logischerweise, auch der Verkehrslärm auf der Hochautobahn, und beides verschmolz auf so bizarr-intensive Weise ineinander, dass es mich - anders kann ich es nicht ausdrücken - betört hat. Dazu noch diese ganzen Raben. Ließen sich in respektvoller Entfernung nieder und hörten zu.

Dann sah ich den Klangproduzenten. Ein kleiner, drahtiger Mann hielt etwas in den Händen, das wie ein riesengroßes Tamburin aussah. Wie er das Trommelfell schlug und sich dazu bewegte, erzeugte er in der Trommel einen zweiten, rasselnden Rhythmus, der wie zufällig neben dem ersten herzulaufen und doch fest in ihn hineingeschmiegt schien. Und oben drüber wummerten die Autos über die Betonschwellen. Wwammm. Wwrrommm. Wwrruhumm. Irre das Ganze.

Das Instrument heißt Erbane, erklärte der Mann, ein Kurde aus Iran. Es ist tatsächlich wie ein Tamburin gebaut, nur ohne Schellen; stattdessen hängen am inneren Rand der Trommel lauter feine kurze Kettenglieder aus Metall, die beim Bewegen der Trommel ineinander und von innen gegen das Trommelfell rasseln, während der Trommler es von außen schlägt und mit der anderen Hand die Trommel bewegt.


Er komme jeden Tag zum ungestörten Üben hierher, erzählte der Trommler. Hier habe er seine Ruhe - dabei lachte er und deutete mit dem Daumen nach oben, wo der Krach herkam, "na ja, nicht wirklich". Er habe sich an die stete Geräuschkulisse gewöhnt. Inzwischen sei sie ihm sogar willkommen als eine Art musikalischer Begleitung mit unregelmäßigen rhythmischen Akzenten, wodurch er sich in seinem Spiel herausgefordert fühle. Er wolle lernen, mit den Wwammms und Wwrrommms zu gehen statt gegen sie anzukämpfen.

Seine Freude am Spiel war ihm anzusehen. Er übte weiter, versunken und tatsächlich völlig ungestört, denn er nahm den Lärm von oben nicht als Störung wahr. Mir selber ging es beim Zuhören genauso: Plötzlich schien das Rauschen und Dröhnen und Wummern der Autos einen musikalischen Sinn zu haben. Die Raben sahen das offenbar ähnlich. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Verhext, wie gesagt.

Dienstag, 26. Oktober 2010

Heilix Blechle


Ich fürchte, ich bin nur noch beschränkt kapitalismustauglich. Zumindest was die tragende Säule des Systems angeht, nämlich den Konsum. Vor den Konsum haben die Systemgötter den Kauf gesetzt, und durch den muss man erst mal durch. Sprich, durch die Innenstadt.

Ich war seit vier, fünf Monaten nicht mehr in der Innenstadt gewesen, weder zum Einkaufen noch abends, und habe die Erlebniswelt City nicht eine Sekunde vermisst. Wer die Innenstadt aufsucht, will Geld ausgeben. Ich will kein Geld ausgeben. Ich lebe frugal.

Allerdings gehören zum gelingenden frugalen Leben hin und wieder ein paar Anschaffungen, damit die Sparerei auch wirklich Hand und Fuß hat. Zum Beispiel ein Backblech. Ein zweites Backblech, um genau zu sein. Denn nur mit einem zweiten Backblech kann ich oben Kuchen und unten Brot backen - gleichzeitig - und dabei Energie sparen. Seit meinem Einzug in die neue Wohnung war es mir ein gewaltiger Dorn im Sparauge gewesen, dass meine Vormieterin mir zwar einen toughen Backofen, aber leider nur ein Backblech hinterlassen hatte. Dass ich das Projekt 'Zweites Backblech' dennoch so lange vor mir hergeschoben und monatelang Energie beim Backen verpulvert habe, schuldet sich einzig und allein meiner Abneigung gegen die Innenstadt.

Heute trat ich mir endlich in den Hintern und radelte nach geputzter Kneipe in die Innenstadt. Hatte mir die Herstellermarke des Backofens sowie das Modell notiert, das Backblech abgemessen und wusste somit ganz genau, was ich wollte. Müsste schnell abzuwickeln sein, habe ich mir gedacht. War auch bereit, etwas zu investieren in ein gescheites Backblech, vielleicht so um die zehn, zwölf Euro. Habe ich mir so gedacht.

Außerdem schien die Sonne herbstwarm, die Bäume leuchteten schön bunt, so dass ich heiteren Gemütes den Gang in die bereits dezent vorweihnachtlich dekorierte Innenstadt antrat (die harte Dekodröhnung kommt ja immer erst Anfang November). In einer Fußgängerzone sah ich im Vorbeifahren die Schaufenster eines großen Haushaltsfachgeschäftes und bremste - vor adventlich aufgebretzeltem Hintergund wurde das Thema Plätzchenbacken gefeatured; ein ganzes Fenster nur mit Backformen und -förmchen, allesamt drapiert auf spiegelblanken schwarzen Backblechen mit roten Schleifchen und dünnen roten Kerzen. Dezent, wie gesagt.
Ich nix wie rein.

So ein Haushaltsgeschäft ohne Kunden ist ja irgendwie fast wie ein Museum. All die frischgeputzten Vitrinen mit den Wahnsinns-Topfgarnituren und den 64-teiligen Mega-Geschirrservices und den immer martialischer anmutenden Messerblöcken, da traut man sich kaum näher zu treten. Ehrfürchtig blieb ich am Eingang stehen. An der Kasse ein ins Gespräch vertieftes Verkaufsdamenquartett. Vier Köpfe drehten sich in meine Richtung - völlig klar, erst muss der Kunde eingehend taxiert werden, bevor man ihn begrüßt. Schließlich eine saloppe Kopfbewegung der Alphadame: "Kundschaft!". Nach kurzer Reflektionsphase entschloss sich eine der drei andern, unwillig auf mich zu zu walzen.

Das Ganze hatte mir ein paar Sekunden zu lange gedauert. Der Blick auf meine Fahrradklamotten, meinen Kurierrucksack und meine plüschige Bollermütze war mir ein wenig zu abschätzig vorgekommen. Und die Kopfbewegung war mir eine Prise zu salopp gewesen.
Ich nix wie raus.

Draußen eitel Sonnenschein. Mittagszeit. Die Bürotiere schwärmten aus, in Rudeln. Wenn sie so im Pulk über die Zebrasteifen streben und sehr wichtig wirken, die Männer (so weit ich es überblicken konnte) alle mit straff nach hinten gezurrten Gelfrisuren (scheint Mode zu sein), in scharf geschnittenen Anzügen, stets eine Hand in der Hosentasche (soll dynamisch wirken, sieht gewollt aus), die Frauen durch die Bank etwas verfroren (in für die Jahreszeit zu kurzen Mänteln), aber dennoch irgendwie aufgedreht wirkend, dann...was wollte ich sagen? Innenstadt eben.

Ich radle durch Rudel und um Rudel herum zum nächsten Kaufhaus. Im Erdgeschoss die obligaten Parfümerien und Kosmetikdepots, in denen unglaublich viele Verkaufsdamen mit Glasreinigerflaschen herumwuseln. Haben sonst nichts zu tun. Außer Glasvitrinen polieren. Oberstes Gebot scheint zu sein, im Falle einer Kundenflaute beschäftigt zu wirken.

Rolltreppe mit Infotafel: 'Haushaltswaren, Glas, Porzellan im 3. Stock; Haushaltsgeräte und -zubehör im 4. Stock'. Ich fahre, der Backblechlogik folgend, in den vierten Stock. Werde vom vierten in den dritten Stock geschickt, vom dritten nochmals in den vierten und schließlich erneut in den dritten Stock. Suche Backbleche. Finde ein Regal mit insgesamt drei Backblechmodellen. Eines davon hat genau die richtigen Abmessungen für meinen Backofen und kostet 29 Euro neunzig. Ich falle ins Koma. Eine Verkäuferin fragt, ob ich Beratung brauche. Beratung nicht, antworte ich, aber Aufklärung: Was an so einem popeligen Backblech dran sei, dass es 30 Euro kostet, bitte?

"Dieses Backblech hat eine Extrem-Anti-Haft-Technologie", erfahre ich und weiß nicht, warum ich an extreme Haftbedingungen denken muss. "Außerdem," schnurrt die Verkäuferin weiter, "verfügt es am Boden über Abkühlnoppen." Abkühlnoppen, hauche ich ergriffen, Abkühlnoppen! "Ich brauche keine Abkühlnoppen," sage ich, "ich brauche ein ganz normales Backblech." Das zweite Backblech erweist sich als zu klein für meinen Backofen; das dritte nennt sich 'Multi-Vario' und wäre interessant, weil auszieh- und daher universal verwendbar, kostete es nicht 19 Euro neunzig. Ohne Abkühlnoppen. Finde ich zu teuer. Versteht die Verkäuferin nicht. Muss sie auch nicht. Schwupp, bin ich wieder auf der Rolltreppe. Nach unten. Nach draußen.

In den mit Wintermode dekorierten Schaufenstern des Kaufhauses hängen große Plakate. Auf denen wird angekündigt, dass in zwei Tagen, nach erfolgreichem "Abschluss der aufwendigen Umbauarbeiten in unserem Hause für unsere Kunden", ein "Mega-Einweihungs-Event" mit "Veranstaltungsmarathon" stattfinden wird. Das "Highlight für unsere Kunden", ist zu lesen, bestehe in einem drei Tage währenden sogenannten "VIP-Shopping". Was immer man sich darunter vorzustellen hat, ich schließe mein Fahrrad auf und trete die Flucht an. Ohne Backblech, aber mit dem sicheren Gefühl, dass weder die Innenstadt mich braucht noch ich die Innenstadt.

Auf dem Heimweg schaute ich kurz chéz Aldi vorbei. Waschpulver, Klopapier, Butter, Kaffeefilter, zack zack. Auf dem Weg zur Kasse fiel mein Blick auf eine Schütte mit Nonfood- Aktionsware. Ich wollte es nicht fassen: Backbleche! Made in Germany! Universal-Backbleche zum Ausziehen mit einem Sicherheitsmechanismus zum Einrasten. Vor Freude hätte ich ausrasten können. Das Stück zu vier Euro neunundneunzig.

Ja, da fliegt dir doch das Blech weg.

Montag, 25. Oktober 2010

Schöner stürzen


Ähm, ja. Was soll man dazu sagen.



Ein Model unter einer futuristischen Designer-Trockenhaube, das kurz vor dem Anpfiff auf den Laufsteg noch schnell ein Frisuren-Finish verpasst bekommt.
Aber von wegen.

Bei dem stromlinienförmigen Kopfdingens handelt es sich um einen aufblasbaren Fahrradhelm. Doch, im Ernst. Ein Airbag für den Kopf, sozusagen. Soll den Kopf des stürzenden Radfahrers schützen, ohne dabei seine Frisur zu ruinieren. Habe ich mir nicht ausgedacht - die Designer sagen das! Und weil Multifunktionsgeräte schon immer etwas teurer waren, lässt man sich den praktischen Mehrwert gern eine Kleinigkeit kosten, nämlich schlappe 450 Euro das Stück. Das Geld ist gut investiert: Mag man sich auch im Falle eines Unfalles sämtliche Knochen brechen - der Kopf bleibt obenauf und die Frisur sitzt.

Getragen wird das kleidsame Teil wie eine Art Halskrause. Eingebaute Sensoren registrieren ungewöhnlich ruckartige Bewegungen des Radfahrers und lösen dann den Luftballonmodus aus. Hm. Mit dem Ding um den Hals würde ich mich keine einzige nur mäßig hohe Bordsteinkante mehr runtertrauen, denn womöglich bläst sich das Monster dabei versehentlich auf und ich werde von der Straße weg als Terroristin verhaftet. Außer an Halloween vielleicht.

Wenn ich es mir recht überlege, wären je zwei Airbags an den Knien, den Ellbogen und den Handgelenken auch nicht verkehrt. Und - unverzichtbar! - ein großflächiger Airbag für den Rücken, auf den man bekanntlich gern fällt, wenn man vom Fahrrad fällt. Bestimmt ließe sich der smarte Helm noch weiterentwickeln und optimieren, wenn nicht nur der Schädel, sondern auch das Gesicht im Falle des Aufpralles angemessen geairbaggt würde; Makeup-schonend, versteht sich. Überhaupt, warum tüfteln die Designer nicht längst an einem Ganzkörper-Biker-Airbag-Schutz? Warum lassen manche Leute das Radfahren nicht einfach bleiben?

Sonntag, 24. Oktober 2010

Tafel, mal anders


Nein, Holyoke ist kein Gospel-Karaoke.

Holyoke ist ein heruntergewirtschafteter Vorort der ebenfalls heruntergewirtschafteten Stadt Springfield in Massachusetts, Amerika. Heruntergewirtschaftet im doppelten Sinne: Wie überall im Land hat auch in Holyoke die Wirtschaftskrise ihre Spuren hinterlassen - ausgestorbene Innenstadt, steigende Kriminalität, hochgeklappte Bürgersteige und Bürger, die sich abends lieber zuhause verschanzen als in eines der wenigen verbliebenen Restaurants essen zu gehen. Weil ihnen das Reservieren zwei Monate im voraus auf den Wecker geht. Oder weil es ihnen zu teuer ist. Mit anderen Worten, auch die gastronomische Bewirtschaftung scheint in Holyoke auf den Hund gekommen zu sein.

Und was tun die Bürger von Holyoke? Sie klappen einfach die Bürgersteige wieder runter. Sie packen Geschirr, Stühle, Tische, sogar Tischtücher ins Auto, suchen sich ein nettes öffentliches Plätzchen und fangen dort an zu tafeln. Es handelt sich um keine Party, keine Clique, keinen Insiderclub; jeder ist willkommen, sofern er etwas zu essen und eine Sitzgelegenheit mitbringt.


Sie nennen es "Bring Your Own Restaurant!" (BYOR) und bringen damit Leben in die öffentliche Tristesse von downtown Holyoke. Jeden zweiten Freitagabend suchen sie sich eine verhältnismäßig abgefahrene Location - eine Tankstelle außer Betrieb oder eine stillgelegte Fahrspur auf einer Brücke. Informiert wird übers Internet. Wer will, zieht sich schick an oder lässt es bleiben, "Dress to impress or dress to de-stress".

Überhaupt legt das Open-Air-Bürgerrestaurant Wert auf stressfreie Partizipation: "No reservations". Einfach vorbeikommen. Es ist Platz für alle* da. Stuhl nicht vergessen.

*großklicken!

Samstag, 23. Oktober 2010

Grünes Licht


Das nenne ich perfektes Timing:
"Der Jugendwahn in den Unternehmen ist zu Ende",
lässt die Bundesagentur für Arbeit druckfrisch verlauten.

Beweis:
"Waren 1999 in Deutschland noch 950.000 Ältere ohne Jobs, so hat sich deren Zahl bis zum Jahr 2009 auf 496.000 fast halbiert. Die Beschäftigungsquote für Ältere lag zuletzt bei 45,3 Prozent, sie hat sich wesentlich günstiger entwickelt als in anderen Altersgruppen. Zugleich geben die Daten keinen Hinweis darauf, dass dieser Aufbau der Beschäftigung auf dem Rücken der jüngeren Arbeitnehmer ausgetragen wird. Die Daten aus Nürnberg unterstützen die Befürworter der Rente mit 67..."
Na also, geht doch. Die passenden Zahlen zum passenden Zeitpunkt, passgenau interpretiert von der Zeitung, die so gut zum Sonntag passt.

Freitag, 22. Oktober 2010

The Bugs Strike Back


Product of Taiwan muss nicht Schlechtes bedeuten. Im Gegenteil. In diesem kleinen 3D-Horrorfilm macht sich die taiwanesische Next Media Animation ein wenig lustig über die derzeitige Wanzeninvasion in Amerika.


Zockende Wanzen beim Kartenspiel. Als Bettgenossen im Waldorf Astoria Hotel. Zu Besuch in den Büros des Wall Street Journals. Als Gesprächspartner in Börsen-TV-Talkrunden.

Tierisch gut.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Signale der Völker


Amerika, du hast es besser!
Heißt es nicht so?

Leben wie Gott in Frankreich!
Heißt es nicht so?

Man liegt derzeit wohl nicht daneben mit der Behauptung, dass Amerika es keinesfalls besser hat als Frankreich. Eher um einiges schlechter. Das hindert die Franzosen nicht daran, auf die Straße zu gehen, während die Amerikaner dies unterlassen. Dabei hätten die Amerikaner einige Gründe mehr, auf die Straße zu gehen, eben weil es ihnen um einiges schlechter geht. Aber sie tun es nicht. Dafür bloggen sie und lesen Blogs. Und was ist Topthema in amerikanischen Blogs? Der aktuelle Aufstand der Franzosen, verbunden mit der fassungslosen Frage 'Warum kriegen die (Franzosen) das hin und wir (Amerikaner) nicht?'.

Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die Gift und Galle spucken und die Franzosen ob ihrer sprichwörtlichen (und länderübergreifend bekannten) Faulheit verdammen; Stimmen der Verständnislosigkeit gegenüber dem landesweiten Protest und seiner Heftigkeit - verständnislos deshalb, weil es sich doch bekanntlich in Frankreich leben ließe wie Gott in Frankreich ('...wie, die haben da drüben fünf - fünf! - Wochen Jahresurlaub, da können die doch wohl zwei Jährchen länger arbeiten!').

Insgesamt jedoch - wenn ich mich nicht täusche - überwiegen Reaktionen der Bewunderung und des Respekts für die kämpferische Grande Nation. Fast so, als ob Frankreich es besser habe, weil es dort eine funktionierende Zivilgesellschaft gebe, deren Bürger es normal finden, die eigenen Interessen robust zu vertreten, wenn die Regierung nicht bereit ist, ihnen zuzuhören.

Am besten gefallen hat mir dieser Blogkommentar:
Wie können wir diese Franzosen bloß dazu kriegen, illegal bei uns einzuwandern? Wir könnten ein paar von denen gut gebrauchen.

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Der Hausmeister


Seit neuestem und zu meiner großen Freude gibt es einen Hausmeister. Einen Hausmeister, der einzig und allein für ein Objekt zuständig ist, nämlich für das Restaurant. 'Hausmeister' - das ist ein mindestens ebenso schöner, traditioneller, Klartext redender deutscher Begriff wie 'Putzfrau'. Jeder weiß sofort: Aha, da fühlt sich einer zuständig. Ich mag Hausmeister.

Der neue Hausmeister wohnt seit über 20 Jahren mit seiner Frau, der Aushilfsputzfrau, im ersten Stock über dem Restaurant und wird von mir aus folgenden Gründen geschätzt:

Er hat von allem Ahnung. Man kann ihn alles fragen. Er ist ein Tüftler und Improvisateur. Er ist Spanier. Seine Frau ist Spanierin. Er ist intelligent. Er hat ein Gesicht, dem anzusehen ist, dass er Sinn für Humor hat. So ein scharfgeschnittenes Gesicht mit wachen Augen, das nur darauf zu lauern scheint, ob sich eine Gelegenheit zu einem scharfen Wortwitz anbahnt. Er spricht ein gutes Deutsch, oder sagen wir mal: Er weiß sich angemessen auszudrücken; manchmal reden wir über Politik, und dann formuliert er Sätze wie diesen: "Der Seehofer ist ein bisschen weich in der Birne, oder?" Wenn was ist, geht man einfach hoch und klingelt - sofern der Hausmeister nicht eh schon im Lokal ist und einen Kaffee trinkt.

Ein Segen von einem Hausmeister.

Nun lese ich von einem jüngst stattgefundenen Streitgespräch zwischen einem traditionellen Hausmeister und einem neumodischen Facility Manager. Der Unterschied zwischen einem Hausmeister und einem Facility Manager besteht darin, dass der Facility Manager denkt, er wäre etwas Besseres. Weil er nämlich das Facility Management studiert hat (die Akademikerschwemme nimmt und nimmt kein Ende).

Sehr lesenswert, mit welch anmaßender Bugwelle der Diplom-Hausmeister gegenüber seinem unakademischen Gesprächspartner auftritt und wie schlagfertig der bodenständige Kollege ihn kontert.
(Facility Manager) In diesem Studiengang ist Kreativität gefragt, weil wir immer wieder vor die Herausforderung der Kostenersparnis gestellt werden. Viele Absolventen werden als Objektleiter eingesetzt, sie führen Teams bis zu acht Leute.

(Hausmeister) Das Berufsbild ist also nur denken und nicht anfassen. Arbeiten tut der Unterbau. Was ist daran billiger, als wenn ich einen habe, der die ganze Zeit vor Ort ist und das ganze Objekt betreut? Vielleicht sollte ich doch studieren, um das zu begreifen.
Ein Hoch auf den Hausmeister.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Die lieben Nachbarn


Vive La France. Nachdem ich heute früh im Radio gehört hatte, dass im Nachbarland das Benzin immer weniger und der Widerstand immer mehr werden, dachte ich: Zeit für eine kleine Umfrage. Und zwar - wo sonst? - in meinem multiethnisch prekärgeprägten Berufsumfeld. Einfach so, aus Neugierde. Weil, ich persönlich finde das schon recht fesselnd, was sich zur Zeit auf der anderen Seite des Rheins abspielt.

Auf dem Fahrrad überlegte ich mir eine passende Einstiegsfrage. Was hältst du von den Franzosen? schien mir nicht schlecht, weil a. offene Frageform, b. schön allgemein gehalten und c. jeder irgendwie eine Meinung zu den Franzosen hat. Und wie das so ist, wenn man gefesselt ist von etwas, dann denkt man automatisch, die anderen wären davon auch gefesselt. Kann aber nach hinten losgehen.

Aber erst mal von vorne: Ich kehrte gerade die Hintertreppe, da fing der jugoslawische Getränkelieferant (ein Bosnier, der es vorzieht, sich als Jugoslawen zu bezeichnen) an, seine Kästen in den Keller zu wuchten. Er nennt mich seit längerem 'Mala' - ich ihn seit kurzem 'Malo', ohne einen blassen Schimmer zu haben, was beide Worte auf Jugoslawisch bedeuten. Manchmal sagt er auch 'Maletzka'. Heute rief er "Hallo Maletzka!" über den Hof, der Besen ruhte, Malo baute sich vor mir auf (Schrank von Mann) und wollte wissen, was es Neues gäbe.

Mein Einsatz. "Malo, was hältst du von den Franzosen?", fragte ich ihn mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme. Malo schaute mich entgeistert an. Dann zog er seine Mundwinkel verächtlich nach unten, schnappte sich mit Schwung zwei volle Kästen, hievte sie auf die XXL-Schultern, beugte sich leicht vor, knurrte: "Phhh. Die Franzosen. Die haben keine Lust zu arbeiten!" und trat den Abstieg in den Keller an. Als er mit leeren Kästen die Treppe wieder hochkam, rief er: "Faul sind die!", und als er schließlich vor mir stand, mit Nachdruck in der Stimme: "Einfach faul und sonst nichts."

Von dieser Reaktion des Malo war die Maletzka einigermaßen überrascht, und nicht nur das, sondern provoziert. Ich bekam Lust, ein wenig rumzuätzen und meinte: "Alle Achtung, du hast dich ja ganz schön germanisiert." Malo grinste. "In Bosnien wäre ich auf der Straße, verstehst du?", antwortete er, und nach einer Pause: "Verstehst du, wie ich das meine? Ich wäre auf der Straße, weil ich keinen Job hätte, und deshalb wäre ich auf der Straße, um zu protestieren." Er hievte sich die nächsten zwei Kästen auf die Schultern und fügte hinzu: "Ich lebe aber nicht in Bosnien, sondern in Deutschland - ich will arbeiten, und in Deutschland habe ich Arbeit." Maletzka verstand, wenn auch widerwillig, und dann lachte Malo und sagte: "Außerdem, die Deutschen streiken nicht. Die Deutschen? Nie im Leben!"

In dem Moment erschien Frau Übermop im Treppenhaus und kommentierte lakonisch von hinten: "In Deutschland wird nicht gestreikt!" - auch sie mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme, so als ob sie ergänzt hätte "...und das ist auch gut so". Schwerbeladen pumpte Malo an ihr vorbei und schnaubte: "Ihr Deutschen habt dauernd Angst. Angst, dass ihr eins auf den Deckel kriegt. Deshalb rührt ihr euren Arsch nicht. Für einen Jugoslawen ist es schwer zu verstehen, vor was die Deutschen eigentlich so viel Angst haben." Es klang spöttisch und ein bisschen mitleidig.

Dann fuhr der marokkanische Gemüselieferant zum Hof herein. Ich so zur Begrüßung: "Hey, was hältst du von den Franzosen?", und er, empört und mit großem Nachdruck: "Ich bin doch kein Franzose!" und weiter: "...haben die nix anderes zu tun als Chaos im Land zu machen?" und schließlich: "Die Franzosen sind ein faules Volk." Umfragen können sich vernichtend anfühlen.

Tendentiell krawallig erinnerte ich den Marokkaner daran, dass sich 'die Franzosen' zu einem erheblichen Teil aus seinen Landsleuten rekrutierten; ob er etwa glaube, die in Frankreich lebenden Marokkaner würden aus Faulheit auf die Straße gehen? Beschwörend hob er beide Hände: Marokkaner, das sei etwas ganz anderes als Franzosen, "die schuften extrem hart in Frankreich - wenn die auf die Straße gehen, haben sie einen Grund!" Ich verstand. Aber auch wieder nicht.

Beim Kaffeetrinken fragte ich den spanischen Hausmeister, was er von den Franzosen hielte. "Überhaupt nichts", knarzte er (mit Nachdruck!), "die sind zu faul zum Arbeiten. Franzosen eben. Savoir vivre." Und nach kurzer Pause: "Die Franzosen werfen uns Spaniern immer vor, wir seien faul, weil wir unsere Siesta so lieben", obwohl doch, fuhr er fort, die Produktivität eines Menschen eindeutig gesteigert werde durch eine anständige Siesta, wie sich eben an den Spaniern beweisen ließe.

Trotzdem, machte er etwas gönnerhaft weiter, "...streiken können sie wirklich - die Franzosen wissen, wie's geht, das macht ihnen kein Land nach. Sie können zwar nicht arbeiten, dafür können sie richtig gut streiken." Er sagte dies teils anerkennend, teils abschätzig; etwa so, wie man über einen ausgebufften, erfolgreichen Kriminellen spricht, der einem imponiert.

Dann allerdings verspürte er ein dringendes Bedürfnis, sein Kompliment an die Franzosen zu relativieren: "Erst mal abwarten, ob sie es wirklich schaffen." Wie?, es?, was?, fragte ich ihn erstaunt. "Na, noch haben sie keinen Generalstreik geschafft!", erklärte der Spanier triumphierend, "das müssen sie erst mal beweisen! Erst dann spielen sie in der gleichen Liga wie wir. Vor ein paar Wochen war in ganz Spanien Generalstreik. Wenn die Franzosen das hinkriegen, habe ich Respekt vor ihnen."

Ach so. Die ganze Sache lässt sich natürlich auch sportlich nehmen, mit so einem olympisch angehauchten Grundgedanken. Für einen Moment verlor ich mich in Phantastereien, wie es wäre, wenn die Völker dieser Erde in einen edlen Wettstreit träten, welches von ihnen wohl am besten streike. Dass den Deutschen hierfür jeglicher patriotische Ehrgeiz abgeht, versteht sich von selbst. Es stimmt schon, die Franzosen und die Spanier haben es drauf, die Italiener sind auch nicht schlecht, und erst die Griechen! - hat man ja kürzlich gesehen. Halt wieder mal die üblichen Verdächtigen, all diese Südeuropäer. Obwohl, erst neulich haben die Iren es ordentlich krachen lassen, und waren es davor nicht die Isländer, die, vulkanähnlich, ihren geballten Zorn öffentlich entladen hatten? Es müssen ja nicht überall die Deutschen die Sieger sein - man kann sich auch ganz sportlich mit den anderen freuen. Hauptsache, es kommt Bewegung ins Hamsterrad.

Als ich gerade Feierabend machte, erschien einer der Weinlieferanten. Ein Deutscher. Genauer gesagt, ein Pfälzer. Eigentlich machte ich mir wenig Hoffnung, dass ausgerechnet ein deutscher Weinlieferant meine Umfragewerte noch herumreißen würde können; aber da ich weiß, dass er sein Weingut direkt an der Grenze zu Frankreich hat, dachte ich, Mensch, der ist irgendwie hautnah dran, mal sehen, was er so meint.

Ich also: "Sag mal, was hältst du von den Franzosen?", und er ließ die soeben angehobene schwere Weinkiste wieder sinken, stemmte beide Fäuste in die Seiten und antwortete voller nachdenklichem Ernst: "Willst du meine ehrliche Meinung hören?", ich so: "Klar!", und er: "Ich denke, es wird allerhöchste Zeit, dass die Leute endlich aufwachen und kapieren, dass sie nach Strich und Faden verarscht worden sind und dass sie, wenn sie das nicht kapieren, in Zukunft noch schlimmer verarscht werden. Die Franzosen haben's anscheinend kapiert."

Und nach einer Pause: "Mich freut das irgendwie." Prüfend musterte er mich, dann sagte er: "Aber nicht, dass du das jetzt falsch verstehst!" Ich musste lachen und freute mich. Ich freute mich über dasselbe wie der deutsche Weinlieferant, freute mich außerdem über den Weinlieferanten sowie darüber, dass er sich über dasselbe freute wie ich.

Seltene Momente sind das im Leben, ganz seltene. Und kostbare. Und was die Umfrageergebnisse angeht - na ja, sind vielleicht nicht exakt das, was man unter fesselnd versteht, liefern aber Stoff zum Nachdenken. Ist doch schon mal was.

Montag, 18. Oktober 2010

Sonntag, 17. Oktober 2010

Zeremonielle Armutsbeseitigung


Stell' dir vor, es ist Internationaler Tag zur Überwindung der Armut und keiner geht hin.

Wann?

Heute, am 17. Oktober.

Ach so.
Jedes Jahr begeht der Europarat den Welttag zur Überwindung der Armut und organisiert eine Zeremonie vor einer Nachbildung der Gedenktafel zur Beseitigung der Armut, die 1993 vor dem Europaratsgebäude in Straßburg eingelassen wurde. (Hervorhebung von mir)
Hat irgendjemand irgendwo irgendetwas zum Welttag zur Überwindung der Armut im Jahr 2010 gelesen, gehört oder gesehen? Ich auch nicht. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Samstag, 16. Oktober 2010

In den besten Häusern zuhause


Statusunterschiede sind ja etwas ganz Normales unter Menschen.

Die einen gehen in die Pizzeria um die Ecke, die anderen ins Vier-Sterne-Restaurant mit Parkpanorama. Die einen sitzen an nackten Holztischen, die anderen über gestärktem Damast. Und während es den einen passieren kann, dass ihnen plötzlich die Gemeine Küchenschabe übers blanke Holz huscht, dürfen die anderen mit Recht beanspruchen, dass - wenn schon, denn schon - das blütenweiß gebügelte Tischtuch nur von ausgewählten Vier-Sterne-Kakerlaken betreten werden darf.

So geschehen vor ein paar Tagen im eleganten Jean-Georges in New York City, direkt am Central Park gelegen. Gegen neun Uhr abends gellte ein Schrei durch das für seine ruhig-gediegene Atmosphäre bekannte Etablissement: Auf einem Fünf-Personen-Tisch bahnte sich eine hungrige Edelschabe ihren Weg zwischen edlen Schälchen mit Edel-Sushi-Thunfisch. Der Schrei soll eher unedel geklungen haben - gefolgt von tödlicher Stille im ganzen Restaurant.

Gut, wenn so eine Kakerlake haarscharf am Pizzateller vorbeigrätscht, geht der Wellnessfaktor temporär auch nach unten. Aber, oh my god, im 4-Sterne-Lokal! Wenn sich das herumspricht! Peinlichkeit, nimm deinen Lauf. Was tun? Da hilft nur eines: Vier-Sterne-Katastrophenmanagement.

Schritt Eins: Das Ungeziefer mithilfe einer geknüllten Damastserviette einfangen - von einem beherzten, aber ungeübten Edelkellner. Weil, wenn geübt, würde das ja schon wieder einen generalverdächtigen Eindruck machen. Da aber ungeübt, gelingt der Schabe das unversehrte Entkommen. Was die Peinlichkeit nicht etwa lindert, sondern zunächst verstärkt.

Schritt Zwei: Die schockierten Gäste schleunigst umsetzen an einen ungezieferfreien Tisch - eine Illusion, an die sich trotz der soeben entronnenen und vermutlich immer noch hungrigen Schabe alle Beteiligten verzweifelt klammern.

Schritt Drei: Die fünf Gäste ablenken. Mit Essen natürlich, womit sonst. Zum 98-Dollar-Drei-Gänge-Dinner wird ein zusätzlicher Gang gereicht, danach diverse zusätzliche Desserts. Stopfung mit System.

Schritt Vier: Die fünf Gäste so betrunken machen, dass sie sich hinterher an nichts mehr erinnern können. Schwerer Dessertwein sowie Champagner werden eingeflößt.

Schritt Fünf: Die unmittelbaren Nachbartische mit je einer Runde Gratisdrinks ebenfalls betäuben.

Schritt Sechs: Ein Stoßgebet zum lieben Gastronomengott schicken, dass der peinliche Zwischenfall im kollektiven Edelrausch ersäuft und vergessen sein möge.

So weit, so vorbildlich. Hätte da nur nicht ein New Yorker Edel-Gastrokritiker Wind von der Sache bekommen und sie im Diners' Journal Blog der New York Times genüsslich breitgetreten. Jetzt zerreißt sich, nicht minder genüsslich, die halbe Stadt den Mund - wie das halt so läuft, wenn etwas vorkommt, was selbst in den besten Häusern vorkommt. Wäre ich Pizzeriabetreiber, würde ich mir genüsslich die Hände reiben und denken: Statusunterschiede haben auch ihre Vorteile.

Freitag, 15. Oktober 2010

Der Freitagsfilm


Gutes aus der Gastronomie:



Ein Film über guten Service, schlechte Witze und was passieren kann, wenn einer Kellnerin das Lächeln vergeht.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Glaubwürdigkeitsproblem


Glaubwürdigkeitsproblem. Ein Wort wie ein Beil. Wann hat einer ein Glaubwürdigkeitsproblem? Wenn er Stuss erzählt und keiner nimmt es ihm ab, weil alle ihn gut genug kennen um zu wissen, dass er ihnen etwas vormacht. Erzählt einer einen gewaltigen Stuss, dann hat er ein "gewaltiges Glaubwürdigkeitsproblem".

Auch ich bekäme ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn ich in diesem fabelhaften T-Shirt herumlaufen würde, denn um darin herumzulaufen, müsste ich 22 Dollar ausgeben. Das ist viel Geld dafür, die Welt wissen zu lassen, dass ich kein Geld habe.


Trotzdem, ich hätte furchtbar gern so ein T-Shirt; schon weil dessen Tragen eine Reihe von Sozialkontakten erheblich entkomplizieren würde. Vielleicht schaffe ich es ohne Glaubwürdigkeitsproblem, mir das T-Shirt zu Weihnachten schenken zu lassen.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Zwischenruf


Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.
Marie von Ebner-Eschenbach

Das muss jetzt einfach mal gesagt werden, unbedingt, sonst kann ich nicht mehr ruhig schlafen, und dann wacht mein Hund Blues auf, und dann brechen ungute Zeiten an, und das will ich vermeiden.


Passend dazu:


Der große Solomon Burke ist am Samstag gestorben.

Dienstag, 12. Oktober 2010

Entflammt


So'n Ding hätte ich gern:


Für alle Lebenslagen des Angriffes und der Selbstverteidigung.
Hier wird das formschöne Haushaltsgerät in Anschlag gebracht von einer Art Desperate Stuttgart Housewife, die in schwäbischer Gründlichkeit zum Äußersten entschlossen ist. Meine latente pyromanische Veranlagung schlägt Funken. Ich will das Ding haben.

Da ich ohnehin nicht zu den Menschen gehöre, die keiner Fliege etwas zu Leide tun, stünde einer zivilen Nutzung des Gerätes im Restaurantbereich nichts im Weg. Stichwort Fruchtfliegenbekämpfung. Fruchtfliegen im Herbst, zur Zeit Topthema in der Gastronomie! Manchmal schaue ich zur Decke hoch und denke: könnte mal wieder einen neuen Anstrich vertragen - dabei handelt es sich um anthrazitfarbene Fruchtfliegenkolonien, was einen höchst lästigen, nervigen, umständlichen Staubsaugereinsatz mit gefühlt zehn Meter langem Teleskoprohr zur Folge hat. Hinterher ist man kreuzlahm. Ich hasse es. Ich will auf der Stelle so ein Ding haben.

Montag, 11. Oktober 2010

Im Unterleib der Gesellschaft


Im Unterleib der Gesellschaft.

Wo soll das denn bitte sein? Da, wo sich fortgepflanzt wird? Oder wo verdaut wird? Oder ausgeschieden wird? Doch nicht etwa da, wo Lust empfunden wird? Auf jeden Fall irgendwo da unten, wo die Säfte walten und es bekanntlich animalischer zugeht als im Rest des vollaufgeklärten Organismus. Im Unterleib der Gesellschaft. Wo die Metapher zuschlägt, wächst kein Hirn nach. Fast ist man geneigt, sich auf eine deftige Reportage über die Bordellkultur unserer Gesellschaft zu freuen. Doch weit gefehlt.

Den Unterleib im gegebenen metaphorischen Kontext hat man sich nämlich nicht als Zentrum von Fruchtbarkeit und Freude vorzustellen, vielmehr - im Gegenteil - als Epizentrum der Freudlosigkeit. Gesellschaftlicher Unterleib, das ist Hauptschulabschluss mit Niedriglohn. Sagt ein Professor in der Sonntags-TAZ (*). Ich wünschte, er könnte mir sagen, wo das Hirn der Gesellschaft steckt und - dringlicher - ob jenes überhaupt noch richtig tickt? Auch über den Verbleib des Herzens der Gesellschaft wüsste ich gern Näheres. Und wo wir schon dabei sind: Wenn die Unterschicht den Unterleib bewohnt, in welchem mittleren Segment hat sich dann die Mittelschicht angesiedelt? Sollte der Professor jetzt behaupten: im Zwerchfellbereich, dann lache ich mich tot.

Allerdings hat er das mit dem Unterleib nur in einem Nebensatz gesagt; eigentlich ging es ihm um die Partei Die Grünen - deren aktuelle Sympathiewerte sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass die Partei bei denen ganz unten eher unbeliebt sei:
"Denn die Grünen sind nicht im Unterleib der Gesellschaft präsent, bei denen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und schlecht bezahlten Jobs."
Da hat er, rein empirisch gesehen, durchaus recht. Denn sofern man den Hintern anatomisch zum Unterleib zählt, bin ich mit einer Pobacke (=schlecht bezahlte Jobs) Teil der gesellschaftlichen Kiste und kann bestätigen, dass die Grünen 'da unten' tatsächlich nicht besonders gut ankommen. Was ja wiederum ganz im Sinne der Grünen ist, wenn man so will.

Aber egal. Mir geht's ja nicht um das Oberwasser der Grünen, sondern um den Unterleib der Gesellschaft. Um dieses Wort. Diese Terminologie. Für einen Moment bin ich versucht, den assoziativen Faden weiterzuspinnen und dem Unterleib zu raten, sich warm anzuziehen; Blasenschwäche wäre wirklich das Letzte, was man ihm in Zeiten wie diesen wünscht.

Gleiches könnte man natürlich dem Gesamtorganismus zurufen: Geh' pfleglich mit deinem Unterleib um, sonst könnte es der Gesellschaft den Beckenboden unter den Füßen wegziehen.


(*) Leider nur in der gedruckten Sonntags-TAZ. Die "Sonntaz-Frage" lautete "Ist Deutschland jetzt grün?". Zu denen, die verneinten, gehörte der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer (der mit dem Unterleib).

Sonntag, 10. Oktober 2010

Kammerjagdmagd


Mir stinkt's. Hier stinkt's. Unsäglich. Ein Gestank wie 83 Paar käsfüßige alte Socken, gefüllt mit 166 faulen Eiern, mariniert in hochprozentiger Schweinejauche, konserviert in einem undichten Güllefass, dessen Inhalt soeben frisch auf dem Boden meiner Wohnung aufgetragen wurde. Genau so stinkt es hier, seit ich heute früh auf irgend etwas getreten bin, was sich mit einem leisen Knirschen verabschiedet, jedoch - wiederauferstanden in Gestalt eines vital untoten Gestankes - beschlossen hat, mich bis ans Ende meiner Tage zu begleiten. Mein Gott, wie das stinkt.

Dem olfaktorischen Koma nahe, floh ich, Balkon sei Dank, mit einer Thermoskanne Kaffee an die frische Luft. Während die ersten Sonnenstrahlen um die Ecke bogen und mich einigermaßen reanimierten, war mein erster Gedanke: googeln! Bloß - nach was? Es wurde wärmer, ich zog die Socken aus, schloss die Augen und überlegte, wonach ich googeln könnte. Mir fiel nichts ein.

Wie ich so vor mich hin döste, fing es auf meinem linken nackten Fuß an zu kribbeln; ein mir unbekanntes Insekt machte sich an meinem großen Zeh zu schaffen. Unwirsch wischte ich es mit dem rechten Fuß beiseite und - was soll ich sagen? - es fing an mörderisch zu stinken. Das käferähnliche Objekt kroch (lebendig) über den Balkonboden und verbreitete das mir bereits bekannte Jauche-Aroma. Hellwach und alarmiert stürzte ich an den Computer, gab die Suchwörter Insekt, Käfer, Gestank ein, aber es fand sich nichts, was gepasst hätte, weder auf das Krabbeltier noch auf den Gestank.


Ich floh aus der stinkenden Wohnung zurück auf den nunmehr ebenfalls stinkenden Balkon, um den träge krabbelnden Käfer aus der Nähe zu begutachten. Er sah breit und platt aus mit einem braungesprenkelten Schild. Fliegen konnte er nicht, denn wenn ich ihn kräftig anpustete, rührte er sich nicht vom Fleck, fing aber erneut an, seine Pestwolken abzusondern. Mir wurde unheimlich.

Mit zugehaltener Nase beugte ich mich über den übelriechenden Bastard und kam widerstrebend zu dem Schluss, dass das Miststück irgendwie aussah wie eine Wanze. Widerstrebend, weil - wer gesteht sich schon gerne ein, dass er sein trautes Domizil mit einer Wanze teilt? Einer Wanze? Was wissen wir? Mir wurde schlecht.

Zurück am Computer erwies sich 'Wanze+stinken' als magisches Suchwortpaar: Ich wurde fündig. Die Gemeine Stinkwanze. Auf deutschen Websites kommt sie meist als Grüne Stinkwanze daher, was mich irritierte, denn meine war ja braungesprenkelt. Außerdem scheint sich im deutschsprachigen Raum kaum jemand wirklich einen Kopf zu machen um das stinkende Geziefer; überall heißt es beschwichtigend, wie harmlos das Tierchen sei, könne es doch weder stechen, beißen noch fliegen noch irgendwelche Krankheitserreger übertragen. Bisschen stinken täte es halt, na und.

Eigentlich kann die Stinkwanze nichts als stinken, hat aus diesem Grund keine natürlichen Feinde und Freunde höchstwahrscheinlich auch keine. Deshalb bleiben die Stinkwanzen am liebsten unter sich, um sich - ungestört - explosionsartig zu vermehren. Die einzige Waffe der Stinkwanze ist ihr Gestank, mit dem sie den Rest der Lebewesen in die Flucht schlägt, außer ihresgleichen; denn wenn Stinkwanzen etwas lieben, dann ist es ihr eigener Gestank - wo es stinkt, da lass' ich froh mich nieder. Weshalb sie aus einmal befallenen Häusern genauso schwer zu vertreiben sind wie ihr penetranter Gestank. Harmlos?

Richtig ergiebig wurde meine Onlinesuche erst, nachdem ich über die in Amerika aktuell überaus populäre brown marmorated stinkbug (Halyomorpha halys) gestolpert war. Am ärgsten scheint derzeit die Ostküste von ihr heimgesucht zu werden, aber auch der Mittlere Westen stöhnt. Die Medien sind voll mit dem Thema Invasion Of The Stinkbugs; am süffisantesten wird über jene stinkbug-Horden berichtet, die in und um die Bundeshauptstadt Washington ihr stinkendes Unwesen treiben.


In gigantischen Schwärmen fallen sie über Gärten und Häuser her. Genau gesagt, zuerst über die Gärten und dann über die Häuser, dann nämlich, wenn es abends herbstlich kühl und dunkel wird. Dann fangen die Stinkwanzen an zu frieren und suchen, genau wie die Menschen, die gemütliche Wärme und den trauten Lichtschein. (Weswegen ich eben, bei Einbruch der Dämmerung, mal kurz unterbrechen und alle Luken dicht machen musste.) Sind sie einmal eingedrungen, sollte man es tunlichst vermeiden, auf sie zu treten (sic!), sie zu erschlagen oder sonstwie zu zertrümmern - weil sie dann nämlich am meisten stinken.

Was tun?

Es gibt Leute, die halten es für eine gute Idee, (lebende) Stinkwanzen mit dem Staubsauger zu entfernen. Ich nicht. Weil nämlich die Stinkwanze den Saugstrom als Attacke interpretiert und augenblicklich ihre Abwehrdrüsen aktiviert. Was habe ich von einem stinkenden Staubsaugerbeutel? Ich habe von Leuten gelesen, die sich für smart halten, weil sie sich eigens zur Stinkwanzenbekämpfung einen Zweitstaubsauger zugelegt haben. Rasanter Humbug. Wo, bitte, parken diese Leute ihren stinkenden Wanzensauger - außer Riechweite, wohlgemerkt??

Dann las ich mehrfach den gutgemeinten Rat, eine (lebende) Stinkwanze mithilfe eines Knuddels Toilettenpapier im Klo zu versenken. Wobei ausdrücklich empfohlen wird, nachzuspülen, weil sonst das Tier nach ein bis zwei Stunden unbeeindruckt wieder aus der Kloschüssel herauskrabbelt. Nun mag das Ersäufen der Plagegeister eine probate Methode sein, diese loszuwerden - nur, bitte, wer bezahlt im Falle einer Masseninvasion meine Wasserrechnung? An die teure Ressource Klopapier gar nicht erst zu denken.


Okay, noch besteht kein Grund zur Hysterie, noch ist hier keine Masseninvasion in Sicht, noch beschränkt sich das Stinkwanzenaufkommen auf ein totes (inhäusig) und ein lebendes (Balkon) Tier. Aber für den Fall der Fälle hat man dann doch gern einen Masterplan parat.

Nachdem ich mir den Nachmittag mit Onlinerecherche zum Thema Stinkwanzenvernichtung um die Ohren geschlagen hatte, schritt ich zur Tat, und siehe, ein simples, billiges Hausmittel schafft Abhilfe im Nu: Man nehme eine Sprühflasche, befülle sie halb und halb mit Wasser und Spülmittel, schüttele kräftig und rücke damit dem Feind auf dem Balkon zu Leibe. Zweckmäßigerweise besprühe man die Wanze nicht von oben (resistenter Schildpanzer!), sondern von der sensibleren Bauchseite, lege sich also zweckmäßigerweise selbst auf den Bauch und los geht's: Ein kurzes Sprühen, ein kurzes Zischen, ein kurzes Brutzeln - Exit. Zurück bleibt ein schwacher Duft nach palmolivehafter Sauberkeit.

Man muss, habe ich gelesen, die Stinkwanzen mit ihren eigenen Waffen bekämpfen; also mit Gerüchen, die jene auf den Tod nicht leiden können. Als da wären Knoblauch, Minze, Ammoniak oder eben Seife. Vielleicht sollte ich umsatteln auf Kammerjäger.


Samstag, 9. Oktober 2010

Kühe im Konzert



Kühe, Kühe, immer mehr Kühe.
Kommen herbeigelaufen, bleiben stehen, hören zu.
Fressen kein Gras, und keine lässt einen Fladen fallen.
Stehen einfach da und hören zu.
Gebannt.
Ich auch.
So sehr, dass ich fest damit gerechnet hätte, dass sie in die Hufe klatschen.
Oder wenigstens ein paar Muhrufe.
Obwohl.
Vielleicht warten sie auf die Zugabe.

Freitag, 8. Oktober 2010

Spruch des Tages


"Manche Deutsche benehmen sich wie Ausländer."
Grenzwertig, aber gut - wenn er von einem Ausländer kommt. Zum Beispiel vom Ehemann der Aushilfsputzfrau (beides Spanier). Er pflegt mit diesen Worten ein Verhalten mancher Nachbarn zu kommentieren, das er als asozial bezeichnet: wilder Sperrmüll im Hof, Glasscherben im Treppenhaus, Urinieren an den Hecken rings um das Restaurant.

Der Spanier ist ein kluger Kopf mit einer angenehmen Neigung zum Sarkasmus. Seit kurzem arbeitet er als Hausmeister fürs Restaurant.

Ich freue mich sehr über den neuen Kollegen.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Mein Name ist Mop


Fensterputzen war gestern. Neuerdings gibt es etwas, was ich noch lieber mache als Fensterputzen: ans Telefon gehen, wenn es klingelt. In den meisten Fällen sind Gäste dran, die einen Tisch reservieren möchten. Ein verantwortungsvoller Job, bei dem man vieles falsch machen kann, zum Beispiel die falschen Leute an den falschen Tisch zu setzen, oder - schlimmer noch - die falschen Leute zusammen mit anderen falschen Leuten an den falschen Tisch zu setzen.

Noch bis vor kurzem gehörte die telefonische Annahme von Reservierungen zum Aufgabenbereich von Frau Übermop; allerdings führte deren zunehmende Schwerhörigkeit immer öfter dazu, dass immer mehr Tische abends falsch besetzt oder - Katastrophe! - einige Tische doppelt besetzt oder - größte aller gastronomischen Katastrophen! - einige Tische überhaupt nicht besetzt wurden. Im Zuge des präventiven Katastrophenmanagements wurde darum die Reservierungsannahme auf Mrs. Mop übertragen.

Mache ich gern. Zwischendurch immer mal mit wildfremden Leuten plaudern. Plazierungswünsche. Ausrichten von Feiern. Öffentliche Verkehrsmittel. Speisekarte erklären (wechselt täglich). Sonderwünsche berücksichtigen. Dies und das. Nett rumlabern halt, aber zielorientiert. Doch, ich gehe gern ans Telefon.

Nur - manchmal kommt es vor, dass das Telefon klingelt und am anderen Ende kein wildfremder Mensch, sondern eine vertraute Stimme erklingt. Nämlich die Stimme eines meiner ehemaligen Auftraggeber, vielmehr seiner Sekretärin. Die Stimme schnurrte freundlich: "Guten Morgen, hier ist die Firma Sowieso, mein Name ist Sowieso, können wir für unsere Weihnachtsfeier einen großen Tisch bei Ihnen reservieren?", und mir war, als hätte ich die Stimme erst gestern gehört statt in grauer Vorzeit, also vor vier, fünf Jahren das letzte Mal. Genauso hatte die Stimme immer geklungen, wenn die Sekretärin damals bei mir angerufen, mit mir geplaudert und mich dann mit dem Chef verbunden hat. Es fühlte ich an wie gestern. Vertraut eben.

Als sie mir den deutsch-englischen Firmennamen buchstabieren wollte, rutschte mir ganz automatisch heraus "kein Problem, ich kenne Ihren Namen, ist schon notiert", was die Sekretärin erfreute, aber auch erstaunte, so dass ich das Gespräch schnell auf die besonderen Tischwünsche lenkte. Weil, für einen Moment wurde mir plötzlich so siedend heiß. Ging aber gottseidank gleich wieder weg.

Wir haben also nett und zielorientiert palavert, das mit dem Tisch ging klar, und ich erinnerte mich, mit dem Chef der Sekretärin schon einige Male dieses Restaurant besucht zu haben, zu Besprechungszwecken. In grauer Vorzeit. Die Zeiten ändern sich.

Am Ende des Telefonats buchstabierte sie mir dann noch ihren eigenen Namen, den ich - selbstredend - ebenfalls schon notiert hatte, denn ich kannte die Frau ja. Aber diesmal hielt ich den Mund. Den muss man sich ja nicht ein zweites Mal verbrennen. Und ein drittes Mal schon gleich gar nicht. Weil, ganz zum Schluss fragte sie mich nach meinem Namen. Ohne zu zögern und wahrheitsgemäß antwortete ich: "Mop". Sie hat den Namen notiert.




Mittwoch, 6. Oktober 2010

Druck der Straße


Würde ich gefragt, was ich im Rahmen meiner Lohnschrubberei am liebsten mache, antwortete ich ohne Zögern: Fenster putzen. Klarer Fall. Gerade an Tagen wie heute mit weichem, wärmendem Herbstlicht und viel Bewegung in den Bäumen wie auf der Straße. Das Tolle am Job des Fensterputzers ist, dass er so kommunikativ ist - fast jeder, der vorbeiläuft, grinst, hat einen Spruch auf Lager oder bleibt einfach stehen und schaut eine Weile zu. Ich mag das.

Komischerweise verhalten sich die Passanten nicht halb so kommunikativ, wenn ich den Hof oder den Gehweg kehre. Oder wenn ich gar einen Eimer Putzwasser in den Rinnstein kippe - da guckt keiner zu, da gucken alle weg. Je bodennaher die Tätigkeit, desto wegguck. Stehe ich dagegen oben auf dem Fenstersims und mache mich lang nach allen Seiten, wird gern geguckt. Es ist, als ob die Leute gern hinaufschauen, aber gar nicht gern hinunter.

Heute war der Extrembär los. Als ich mich gerade nach den Oberlichtern (außen) längte, bog die flottengroße Besatzung eines Kindergartens um die Ecke. Das Zwergenrudel blieb mit offenem Mund vor dem Fenster stehen und war von keiner Betreuerin der Welt (zwei) zum Weiterlaufen zu bewegen. Sie standen festgegossen wie Brückenpfeiler und staunten. Ein kleiner Knirps sagte mit großer Inbrunst "So was mach' ich auch mal!", worauf ihm ein größerer Knirps konterte, das sei doch noch gar nichts, er würde "so was" mal an richtigen Hochhäusern machen, "mit tausend Stockwerken und immer weiter höher hoch", und als ich ihn fragte, ob er denn schwindelfrei sei, überlegte er einen Moment mit offenem Mund, bevor er mich zurückfragte: "Meinst du jetzt, ob ich lügen tu'?" Vor Begeisterung trat ich in die Herbstastern.

"Verdienst du viel Geld?", fragte fast ehrfürchtig ein kleines Mädchen. Oh Kindermund. Weil mir keine pädagogisch wertvolle Antwort einfiel, fragte ich sie retourkutschenmäßig, wieviel "viel Geld" sei? "Dass du uns jetzt allen gleich ein Eis kaufen kannst!", rief es prompt zurück. Die Horde grölte. An die fünfzehn Zwerge hüpften besessen auf und ab und schrien: "Wir wolln Eis! Wir wolln Eis!" So druckvoll kann nur der Druck der Straße klingen.

Frau Übermop guckte streng. Hat nichts genutzt. Bisschen Action muss sein im grauen Alltag. Natürlich gab es kein Eis, ich habe ja nicht im Lotto gewonnen; dafür Karamelkekse für alle. Solche, die die Restaurantgäste zum Kaffee auf die Untertasse gelegt bekommen. Vom Fenstersims hoch oben einzeln in die Zwergenschar geworfen - vergessen war das Eis, umworben der Gebäudereinigernachwuchs, gemacht der Tag.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Verteilungsprobleme


Sage keiner, die letzten Rätsel der Menschheit seien geklärt. Sind sie nicht. Jedenfalls nicht das Rätsel der Um- und Hauptverteilung. Und nein, jetzt kommt nichts Hanebüchenes zum spannenden Thema von sozialpolitischen Umverteilungsmaßnahmen, und auch nichts zu dem noch prickelnderen Thema, wer sich dabei den Hauptbatzen unter den Nagel reißt. Nichts dergleichen. Jetzt kommt etwas Kommunikationstechnologisches und damit etwas, was meine kleine Welt von einem Moment zum anderen aus den Fugen gelupft hat.

Komme ich heute abend um halb sechs nach Hause: kein Internet, keine Email, kein Festnetztelefon, natürlich auch kein Zugriff aufs Blog. Nüschd. Weg. Alles tot. Ich im Adrenalinrausch aufs Rad und zum einzigen, winzigen, taschentuchgroßen Sowieso-Punkt-Laden in meinem Stadtteil gespurtet. Machen ihren Laden um halb sieben dicht. Ich: "Mein Anschluss zuhause ist vollgestört!" Zwei Typen in Feierabendlaune mampfen Kekse und antworten: "na, na," (der eine), "um die Uhrzeit, muss das sein?" (der andere), so frech, dass es schon wieder cool war.

Darauf nimmt sich der eine Typ der Sache an, Erstdiagnose: "Mit Ihrer Beta-Ader stimmt was nicht." Ich staune Bauklötzer. Ob es sich bei der Beta-Ader um jene Ader handelt, durch die mein adrenalinpochendes Blut schießt? Beta-Ader. Was es alles gibt. Der zweite Typ telefoniert mit einem Techniker, der sich wiederum per Fernfummelei meinem Anschluss zu nähern versucht und schließlich verkündet: "Vergesst die Beta-Ader, das Problem liegt in der Hauptverteilung."

Hauptverteilung. Da haben wir's. Typ Eins schiebt mir die Keksschachtel übern Verkaufstresen zu und malt auf einem Blatt Papier so lange an einem Kasten, bis mir der Kasten bekannt vorkommt: Klar, einer jener potthässlichen grauen Kästen, die an den Straßenecken stehen mit so einem Sowieso-Punkt drauf. In den grauen Kästen ist die Hauptverteilung drin. "Hauptverteilung ist gut für Sie", sagt Typ Eins, sieht mich kauen und deutet auf die Schokowaffeln, "die sind besonders gut", woraus ich schließe, dass Schokowaffeln in großen Mengen mir besonders gut tun. Zugriff.

Gut an dem Hauptverteilungsproblem, erklärt Typ Zwei, sei der Umstand, dass der Techniker es quasi auf der Straße lösen könne und ich nicht zu einem bestimmten Termin zuhause sein müsse. Schlecht an dem Hauptverteilungsproblem sei, dass das Sowieso-Punkt-Technikerkontingent momentan derart angespannt arbeite, dass an eine Problemlösung vor Donnerstagmittag nicht zu denken sei. Bitte, wir haben heute Dienstag. Meine Beta-Ader schwoll an.

"Nicht aufregen", tröstete Typ Eins, indem er auf die letzten verbliebenen Schokowaffeln wies, "nur zu - Schokolade ist gut für die Nerven." Kauend rannten meine Nerven im Laden auf und ab. Ich war außer mir. Setzte mich aufs Rad und düste betamäßiger Laune nach Hause.

Und was empfängt mich dort? Ein vollfunktionierendes Internet, ein munteres Telefonklingeln, ein Haufen Emails! Von Störung keine Spur. Wie weggeblasen. Verhext, dachte ich. Wie kann das sein? Ein Rätsel. Ich griff zum Festnetztelefon - es war 18:25 Uhr - und rief bei den Kekseulen an. Typ Eins ging mit vollem Mund dran. Hallo, sagte ich nett, ob er sich an mich erinnere? Klar, entgegnete der Mann. Kurze Pause (in der er vermutlich auf seinem Display meine Nummer wiedererkannte).

Dann verschluckte er sich heftig und hustete sich einen Zentner Kekskrümel aus dem Leib. "Das kann doch gar nicht sein, dass Sie hier anrufen!", japste er, "das geht doch überhaupt nicht! Das ist unmöglich!" Typ Eins war fix und fertig; ich konnte hören, wie Typ Zwei ihm herzhaft auf den Rücken klopfte. Beide debattierten erregt das rätselhafte, "technisch unmögliche" Zustandekommen dieses Telefonats. "Gibt's. Doch. Nicht.", rief ein ums andere Mal Typ Eins aus.

"Nicht aufregen", sagte ich und versprach, morgen nachmittag mit einer Umverteilungstüte Schokowaffeln vorbeizukommen.

Play It Again


Über Nacht berühmt geworden:


Der obdachlose Puppenspieler hat den Zeichner Josh Ellingson inspiriert.

Montag, 4. Oktober 2010

Unter Druck


Pressure putting down on me
Pressing down on you no man ask for
Under pressure - that burns a building down
Splits a family in two
Puts people on streets.

It's the terror of knowing
What this world is about
Watching some good friends
Screaming 'Let me out'
Pray tomorrow - gets me higher
Pressure on people - people on streets

This is our last dance
This is ourselves
Under pressure
Under pressure
Pressure
(Freddy Mercury & David Bowie, 1981)



Ein arbeits- und wohnsitzloser Mann.
Zwei Handpuppen.
Ein Song.
Mehr braucht es nicht, zum Lachen und zum Heulen.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Underdogs Lieblingsjob


Das Jobwunder nimmt seinen Lauf. Unaufhaltsam. Darum setzen wir heute unsere beliebte Reihe 'Jobs, die keiner machen will' fort mit der aktuellen Episode 'Poop Pick up - oder: Suche Jobs, die sonst keiner machen will':
Haben Sie es satt, hinter Ihrem Hund aufzuklauben? Dann sollten Sie diese Anzeige lesen! Ich komme gerne zu Ihnen nach Hause, um die ganze Hundekacke auf Ihrem Hof wegzuputzen und sie anschließend zu entsorgen. Auch kann ich Ihren Hund jederzeit ausführen, wann immer es Ihnen recht ist. Außerdem kann ich Ihren Hof/Garten von Müll oder Bauschutt entrümpeln. Sollten Sie einen Keller besitzen, dem es an Sauberkeit und Ordnung mangelt, rufen Sie mich an! Ich suche grundsätzlich nach solchen Jobs, die sonst keiner machen will. Kein Job ist mir zu groß oder zu klein!

Das Job-Inserat wurde im Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgegeben*, könnte aber auch hierzulande für ein exponentielles Weiterwuchern des Jobwunders sorgen. Hat doch schon vor einem halben Jahr eine deutsche Grünenpolitikerin den Boden bereitet, den sie künftig am liebsten hundekackefrei sehen würde. Jobs, die kein Hundebesitzer machen will? Kein Problem, wofür haben wir unsere Spezis aus der Abteilung Leistungsempfänger. Langt in die Scheiße, Leute.

Wenn ich es mir recht überlege, wäre da ein zusätzlicher Nebenverdienst für mich drin. Denn keiner der zahlreichen Hundebesitzer, die mir noch vor der Morgendämmerung - also im Schutze der Dunkelheit - begegnen, denkt auch nur im Halbschlaf daran, die Exkremente seines Lieblings zu beseitigen. Da käme ein ordentlicher Haufen zusammen. Ich wittere den Aufschwung: der Jobklassiker für den Underdog.

*in Craigslist, dem weltweit größten Online-Netzwerk für Jobsuche und -angebote

Samstag, 2. Oktober 2010

Unterstützung


Es gibt Dinge, die gehören sich einfach nicht. Die man nicht macht, einfach weil man sie nicht macht. Und dann macht man sie trotzdem. Und dann geht es einem besser, weil man sie gemacht hat, statt sie zu unterlassen, wie es sich gehört hätte. Gut geht es mir deshalb noch lange nicht, aber tausendmal besser, als wenn ich geschwiegen hätte.

Natürlich gehört es sich nicht, sich in fremde Gespräche einzumischen; wie es ja eh ungehörig ist, fremden Gesprächen überhaupt zu lauschen. Was geht mich der Mist an, den andere Leute sich erzählen? Wenn also am Nebentisch Unsinn verzapft wird, ist das die Sache des Nebentisches und nicht meine. Selbst dann, wenn der Nebentisch nur um Haaresbreite von dem Tisch entfernt ist, an dem ich sitze, mir gegenüber ein netter Mensch, der mich zum Frühstücken eingeladen hat.

Mein Rührei erkaltete, als ich hörte, wie die beiden Frauen am Nebentisch sich über ihr Dienstpersonal austauschten: Putzfrauen aus Osteuropa, dienstbereit, gewissenhaft, fleißig und so preiswert, "dass man es sich ohne schlechtes Gewissen leisten kann". Das Rührei zitterte auf der Gabel. Ohne schlechtes Gewissen? Wem gegenüber? Dem eigenen Geldbeutel? Wie preiswert? Sechs Euro die Stunde. Bei zweimal drei Stunden die Woche. Kann man sich echt leisten. Weil, mehr verlangen die nicht. Die sind froh über das Geld, ja "dankbar für jeden Cent, den sie bekommen" und bringen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, indem sie "auch mal 'ne halbe Stunde länger arbeiten, wenn es sein muss, und dafür kein Geld zusätzlich wollen". Ganz tolle Putzfrauen seien das. Halt ohne Papiere. Aber gerade deshalb sei es ja so wichtig, dass man sie unterstütze, denn die ohne Papiere seien ja besonders arm dran.

"Wie, unterstützen - mit sechs Euro die Stunde?", zischte ich quer über den Tisch. Das Rührei plumpste von der Gabel, der nette Mensch warf mir beschwörende Blicke zu, die Herrschaften am Nebentisch schauten indigniert. War mir alles egal. Wer voller Stolz durchs Lokal trompetet, wie gut er sich dabei fühlt, menschliche Arbeitskraft auszubeuten, weil er sich diese Arbeitskraft anders als ausbeuterisch gar nicht leisten könnte, der hat es nicht besser verdient. Sechs Euro die Stunde, wiederholte ich kopfschüttelnd, diesmal an das Rührei gerichtet, während ich es auf dem Teller zusammenkratzte.

"Ich bitte Sie", fing sich die eine Herrschaft, "sechs Euro ist für diese Menschen viel Geld!" Die andere Herrschaft nickte: "Eben - Sie dürfen das nicht mit deutschen Maßstäben messen." Ich maß es aber mit deutschen Maßstäben, verriet jedoch nicht, wieso.

"Außerdem", kam es vom Nebentisch, "sind das eh Jobs, die kein Deutscher machen würde." Die deutsche Putzfrau erstarrte. Der nette Mensch trat unterm Tisch sanft gegen mein Schienbein. Half nichts. Dem Rührei war auch nicht mehr zu helfen. "Sie meinen Jobs, die kein Deutscher für einen Sklavenlohn machen würde?", fragte ich interessiert. "Was heißt denn Sklavenlohn", antwortete der Nebentisch, "immer noch besser als beim Amt die Hand aufzuhalten und den Staat zu plündern..." Klare Ansage. "...oder kennen Sie etwa eine deutsche Putzfrau?" Na klar, meinte der nette Mensch, manchmal gehe er sogar mit einer deutschen Putzfrau frühstücken.

Irritiert schaute der Nebentisch von ihm zu mir und wieder zu ihm und wieder zu mir. "Wie, Sie gehen mit Ihrer Putzfrau frühstücken?", fragten die Herrschaften ungläubig. Nein, wo denken Sie hin, antwortete der nette Mensch, "das ist doch nicht meine Putzfrau." Jetzt verstand der Nebentisch gar nichts mehr, sagte aber trotzdem zu mir "Ach so, Entschuldigung" und wollte dann wissen, wieviel der nette Mensch denn so seiner Putzfrau bezahle.

Er habe keine Putzfrau, gab der nette Mensch zurück, das könne er sich nicht leisten. Weil, fuhr er fort, eine Putzfrau käme für ihn nur in Frage, wenn er diese auch ordentlich bezahlen könne, und weil er sich das nicht leisten könne, verzichte er eben auf eine Putzfrau und putze seinen Dreck in Gottes Namen selbst weg. Dafür könne er es sich von dem so gesparten Geld leisten, hin und wieder eine nette deutsche Putzfrau zum Frühstücken einzuladen.

Irgendwie hat das den Nebentisch überfordert. Er verstummte und schien peinlich berührt zu sein, ohne genau zu wissen, warum. Ziemlich bald brachen dann die Herrschaften auf, nachdem sie die Rechnung hatten kommen lassen und die Summe von 28,90 Euro großzügig auf 30 Euro aufgerundet hatten. Auch für ein angemessenes Trinkgeld gilt, dass man es sich leisten können muss - wenn nicht, dann eben nicht.

Als die Herrschaften weg, die Luft wieder rein und das Rührei kalt waren, gab der nette Mensch eine Runde Federweißen aus, und dann noch eine, und dann noch eine. "Was glaubst du, wie froh ich bin, keine Putzfrau zu haben", seufzte er genießerisch, "sonst könnte ich mir das gar nicht leisten." Wir hoben die Gläser.

Freitag, 1. Oktober 2010

Von der Rolle


Sitzen zwei Putzfrauen am Ende einer Rolltreppe und haben keinen Bock auf Putzen.
Dachte ich zuerst.
Fand ich gut.
Aber die sitzen da tatsächlich und putzen.
Im Sitzen.
Fand ich auch gut.



Aber wie ich so im Sitzen den beiden beim Putzen im Sitzen zuschaue, denke ich, irgendwas läuft da doch verkehrt. Erst wird der Schmutz mit dem Besen gesammelt, dann fällt er auf die nächste hochrollende Stufe, dort wird der Schmutz wieder gesammelt, um wieder auf die nächste Stufe zu fallen, wo der Schmutz erneut gesammelt und auf die nächste Stufe fallen gelassen wird - im Prinzip bleibt also der Schmutz an Ort und Stelle. Nur jeweils auf höherer Stufe. Phänomenal.

Wenn man erst einmal anfängt, über die richtige Richtung beim Rolltreppeputzen nachzudenken, kann einem ganz schwindelig im Kopf werden. Irgendwie ist das nämlich verzwickt, und noch ist mir keine Patentlösung dazu eingefallen, nur der vage Verdacht, dass es kein richtiges Putzen im falschen Putzen geben kann.

Finde ich auch gut.