Dienstag, 21. September 2010

Worte und Taten


"Die hat doch ein Rad ab!", rief der Weinlieferant, während er Zeitung las. Als ich an seinem Tisch vorbeilief, hob er den Kopf, schüttelte ihn entgeistert und wiederholte: "Die hat doch ein Rad ab!" Ich verstand nichts. Er fuhr fort: "Anders kann man sich das gar nicht erklären - die muss doch ein Rad ab haben, oder?" Ich fragte, wer ein Rad ab habe. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Alle", sagte er nach kurzem Innehalten, "die haben alle ein Rad ab."

Vor dem Lieferanten lag der aufgeschlagene Politikteil der Zeitung. Allmählich konnte ich ihm folgen. Bei "alle" war ich ganz seiner Meinung, aber wen meinte er mit "die"? "Na, die Merkel", gab er ungeduldig zurück, "wen denn sonst." Wieso gerade die ein Rad ab habe, wollte ich wissen. "Weil die", schnaubte der Mann, "für alles Verständnis hat. Man kann aber nicht für alles Verständnis haben." Weil es mir weiterhin an Verständnis fehlte, tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Artikel auf der linken Seite: "Da steht: Sie sagt, sie hat Verständnis dafür, dass die HRE Bank ihre Mitarbeiter mit Bonuszahlungen belohnt." Dann tippte er auf einen Artikel auf der rechten Seite: "Und hier steht: Sie sagt, sie hat Verständnis dafür, dass die Bürger sich über diese Bonuszahlungen aufregen." Dann tippte er sich mit dem Finger an die Stirn: "Und ich sage: Die hat doch ein Rad ab, oder?"

Während ich ihm einen Kaffee machte, sagte ich, dass ich Verständnis dafür hätte, dass er zu diesem Befund komme. Im Vorbeigehen sagte Frau Übermop, dass sie Verständnis für Frau Merkel habe, denn die müsse es ja schließlich allen recht machen. Dafür, sagte ich, hätte ich überhaupt kein Verständnis. Worauf Frau Übermop sagte, mir fehle eben das Verständnis für Politik. Wofür wiederum der Weinlieferant kein Verständnis aufbrachte.

"Im übrigen", ergänzte er, "wer Verständnis für jemanden hat, sollte das nicht nur sagen, sondern vor allem zeigen. Durch entsprechende Taten." Während ich noch am Überlegen war, ob er damit Frau Merkel, Frau Übermop oder mich gemeint hatte, verschwand er kurz nach draußen. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir eine wunderschöne schlanke Flasche mit schwarz-rot gemaltem Etikett, darinnen ein (wie ich mich soeben überzeugt habe) vorzüglicher selbstgekelterter Prosecco.

Ein Mann des Wortes und der Tat, denke ich mir, so einen trifft man auch nicht alle Tage. Und weil dem Wort, so es denn Wirkung haben soll, die Tat zu folgen hat, trinke ich gleich noch ein zweites Glas. Lange nicht mehr so etwas Feines genossen.

2 Kommentare:

  1. Also dafür, dass jemand freiwillig Prosecco trinkt, dafür habe ich kein Verständnis. Aber dafür, dass diese eine besondere Flasche besonders gut mundet, dafür hab ich dann doch wieder Verständnis.

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  2. Er perlt immer noch köstlich herb. Danke für dein Verständnis :).

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