Als ich heute vom Keller hoch ins Lokal kam, saß an einem Tisch eine nette blonde Frau und wärmte sich durchfroren die Hände an einer Tasse Kaffee. Sie kam mir bekannt vor, ich wusste aber nicht, woher. Ihr schien es umgekehrt genauso zu gehen. Neugierig musterte sie mich von oben bis unten - schwarze Schürze, rote Schuhe, blaue Kapuze auf dem Kopf, alles von zweifelhafter Sauberkeit - und fragte mich: "Arbeitest du hier?"
Ich bejahte. Dunkel meinte ich mich zu erinnern, die Frau vor unendlich vielen Jahren hier im Service erlebt zu haben. Oder auch nicht. Es ist so schwer, sich an Zeiten zu erinnern, an die man sich kaum mehr erinnern kann. Ich schaute die Frau an. Die Frau schaute mich an. Ihr Gesicht war offen. Sie rührte in ihrem Kaffee und sagte halb fragend, halb feststellend: "Ich dachte, du wärst hier mal Gast gewesen?" Da musste ich aus der Tiefe meines Bauches lachen und rief: "Das dachte ich auch mal!"
Sie verstand sofort und grinste breit. Solche Menschen gibt es, aber es gibt davon viel zu wenige. Menschen, die nicht innerlich (oder auch physisch) davonlaufen, wenn sie einer Putzfrau gegenüberstehen, die sie aus einem ganz anderen früheren Leben kennen. Menschen, die da bleiben und verstehen und darin einen Grund zum Lachen erkennen. Menschen, die nicht ausweichen, sondern den Blickkontakt suchen. Solche Menschen sind eine Wohltat.
"Schlechte Zeiten, was?", antwortete sie, während sie über ihren Kaffee blies und ihre Worte nickend bekräftigte. In diesem Moment hätte ich rein gar nichts dagegen gehabt, sie als Putzkollegin an meiner Seite zu haben. Es gibt Menschen, in deren Gegenwart hebt sich die Stimmung irgendwie von allein.
Schlechte Zeiten. Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen, und so resümierte ich: "Es is', wie's is'", was die hinterm Tresen wienernde Frau Übermop - immer noch im Krächzmodus, aber des rustikalen Reimens mächtig - zu der Bemerkung hinriss: "Schiefer Arsch,
schiefer Schiss".
Womit das Thema erschöpfend behandelt wäre.
Bloß gut, dass mir solche unheimlichen Begegnungen der dritten Art mangels direktem Publikumsverkehr bislang erspart blieben.
AntwortenLöschenIch ziehe indes ein anderes Resümee aus dieser Geschichte - es ist nicht, wie es ist - schließlich befinden wir uns in einem Transformierungsprozess, der in weit tiefere Abgründe zielt als den, in dem Du momentan steckst.
In den letzten Tagen wurde auf 3sat der erhellende und bewegende Mehrteiler "Victor Klemperer - Ein Leben aus Deutschland" wiederholt, der auch diese Facette, die Du gerade erlebt hast, eindrucksvoll schildert. Ein Auszug aus Wikipedia zu seinen Tagebüchern dazu:
"Ab 1933 lässt sich mitverfolgen, wie Klemperer langsam und systematisch ausgegrenzt wurde, zunächst nur in der Wissenschaft, später auch im privaten Leben. Klemperers Tagebücher aus der NS-Zeit sind Zeugnis einer Atmosphäre großer und immer größer werdender Angst, in der Klemperer und die anderen Bewohner des „Judenhauses“ lebten: vor allem Angst vor der Gestapo. Gegenüber den häufigen Notizen über antisemitische Äußerungen während der Weimarer Republik vermerkt Klemperers Tagebuch aber eine trotz oder wegen der offiziellen antisemitischen Politik zunehmende Höflichkeit der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den durch den gelben Stern stigmatisierten Juden – eine Höflichkeit, die natürlich in Bezug auf die Vernichtungspolitik konsequenzenlos blieb."
http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer
Es gibt dazu eine wunderbar erhellende Szene im Film, in der Prof. Klemperer erstmals mit dem "Judenstern" durch die Stadt läuft, dabei argwöhnisch von vielen Menschen betrachtet wird, bis er plötzlich von einem älteren Herrn (ohne Stigmatisierung) angesprochen wird: Sehr höflich und freundlich möchte dieser Herr dem Stigmatisierten alias "dem jüdischen Volk" seine Ehre erweisen und meint dann zu dem vollkommen verdutzen Mann (der längst zum Protestantismus konvertiert war), dies würde er in Zukunft öfter erleben, denn die "Freunde des jüdischen Volkes" würden immer zahlreicher.
Was ich damit sagen will: Wiege Dich nicht in trügerische Sicherheit. Die Angriffe gegen die "Unterschicht" haben noch lange nicht ihren Zenit erreicht. - Und falls du wirklich 40 Euro "übrig" haben solltest, dann lass die Dekadenz des albernen Sattel-Flaschenöffners doch einfach eine Satire sein und investiere das Geld lieber hier:
http://www.ardvideo.de/70-f09139-dvd-klemperer-ein-leben-in-deutschland.html
Wie erfreulich, dass du den Sattel-Flaschenöffner als Satire enttarnt hast ;)!
AntwortenLöschenZu jener Begegnung:
Die war mir weder unheimlich noch von der dritten Art noch wünschte ich, sie wäre mir erspart geblieben. Im Gegenteil, ich möchte kurze zwischenmenschliche Kontakte wie diese nicht missen.