Mittwoch, 11. August 2010

Am Leben sein


Alles fügt sich und erfüllt sich
Musst es nur erwarten können.
Das klingt nach Poesiealbum und ist von Christian Morgenstern.

Aber ich schreibe frühmorgens kein Poesiealbum, sondern sitze auf dem Fahrrad und knete und trete und spüre den Rhythmus meiner Tritte und den Widerstand in den Pedalen, spüre diesen Widerstand wachsen beim Bergauffahren und höre meinen Atem, der zu lautem Schnaufen wird, über vier Pedaltritte ein geräuschvolles Ausatmen nach zwei Pedaltritten Einatmen, rolle bergab mit einem langgezogenen Stöhnen der Erleichterung und trete erneut bergauf, ein-ein-aus-aus-aus-aus, und plötzlich sind sie da, diese beiden Zeilen, kommen einfach aus dem Nichts und gehen dort auch wieder hin, aber erst mal bleiben sie und fahren mit, auf vier Pedaltritte eine Zeile, immer beim Ausatmen, alles fügt sich und erfüllt sich, mit der '1' auf 'fügt', also mit Auftakt, rolling the count, rolling the bike, und es kommt mir nicht in den Sinn, dass diese Zeilen von Morgenstern stammen, weil es mich frühmorgens auf dem Rad gar nicht interessiert, von wem welche Zeilen stammen, denn heute waren es diese Zeilen und an anderen Tagen sind es andere Zeilen, die kommen und mich begleiten und wieder gehen, genau wie all jene losen, undomestizierten Gedanken, die auf meinen frühen Fahrten aus dem Nichts auftauchen, herumgeistern, ein Stückchen mitfahren und dann wieder abspringen, als ob sie per Anhalter unterwegs sind, und es ist unmöglich, diese Gedanken zu ordnen oder gar festzuhalten, denn sie führen ein Eigenleben und wollen einfach nur mal kurz gedacht werden, bevor sie sich wieder verabschieden und einen ihrer ebenso flüchtigen Kollegen vorbeischicken, der ein ähnlich verhuschtes Spiel treibt und es ablehnt, sich im Kopf einzunisten, aber trotzdem Spuren hinterlässt, all diese Gedanken, die wie aufgewirbelte Sedimente herumschwirren und sich in verborgenen Nischen wieder niederlassen, während ich in die Pedale trete und schnaufe und keuche, ein-ein-aus-aus-aus-aus, und für einen kurzen Moment ist plötzlich Coco Schumann zu Gast in meinem Kopf und singt Ausgerechnet, ausgerechnet heute abend, obwohl es doch früher Morgen ist, aber das kümmert Coco Schumann so wenig wie mich, er singt und das Lied glitzert wie Tau, bevor er wieder verdunstet, eben war er noch da und schon ist er fort, und auf einmal laufen Tränen herunter, die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen, obwohl das kleine Lied doch so harmlos klingt, es aber überhaupt nicht ist, und die Tränen spülen das Lied wieder weg, bevor sie versiegen und Platz machen für den Regen, der rauscht und rauscht und immer größere Pfützen hinterlässt, durch die das Fahrrad surrt und schnürt, wodurch der Rhythmus unregelmäßig wird und eigensinnige Akzente setzt und verhindert, dass Monotonie aufkommt, und ich fahre und trete und schnaufe weiter und weiß nicht mehr, woher ich komme und wohin ich gehe, aber ich weiß, dass das mein Leben ist und sich irgendwie, irgendwann schon alles fügen wird.


Christian Morgenstern: Stilles Reifen
Coco Schumann: Ausgerechnet heute abend (Infotext von 'KraftgegenFreude' - lesen, lesen, LESEN!)
Play Your Own Thing, DVD-Trailer (Coco Schumann an der Gitarre bei 2:06 min.)

8 Kommentare:

  1. Schöner Post. Gelle, Kreativität iss 98% Transpiration und 2% Inspiration :-D

    Morgenstern iss immer gut, auch der hier: http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/allegedichte/gedicht_1845.html (Die unmögliche Tatsache)

    Coco Schumann kannte ich nich - kuhle Mucke, schöner altmodischer Hammondorgel-Sound - wieder 'was gelernt.

    DVD Trailer erinnert mich direkt im Einstieg an --> Bassklarinette --> Eric Dolphy --> God bless the Child, ein abgefahrnes Stück für Bassklarinette solo: http://www.youtube.com/watch?v=cYJ_4vSruog Den Kiekser bei 2:00 - 2:02 Bitte nachsehen. Die Aufnahme müsste u. U. kurz vor seinem Tod am 29.06.64 in Berlin gemacht worden sein (weitere Info s. bei Tante Wiki Peh)

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  2. Also weißte. Ich sitze da und kichere albern in meinen Computer rein, beim Morgen- und beim Abendstern, sozusagen.

    Danke für Dolphy.
    Der letzte Kommentar dort bringt es auf den Punkt, "This is better than most of the books I've read." Yo!
    Der erste ist auch nicht schlecht, "My favorite diabetic bass clarinetist!" Das ist es, was ich an Jazzern so liebe. Das Abgedrehte.
    Und genialer Schluss, oder? Als ob er einen Klodeckel runterfallen lässt, so ganz unspektakulär.
    Ach und der Kiekser - es geht im Leben auch mal was daneben. Nix Menschliches ist mir fremd...muss schon wieder kichern.

    Also weißte.

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  3. Wenn's um große Gefühle und das große Ganze geht, empfehle ich immer wieder gerne "Fool's Overture" von Supertramp:

    http://www.youtube.com/watch?v=TLbYL10c1zo

    History recalls how great the fall can be
    While everybody's sleeping, the boats put out to sea
    Born on the wings of time
    It seemed the answers were so easy to find
    "Too late," the prophets cry
    The island's sinking, let's take to the sky

    Called the man a fool, stripped him of his pride
    Everyone was laughing up until the day he died
    Although the wound went deep
    Still he's calling us out of our sleep
    My friends, we're not alone
    He waits in silence to lead us all home

    So you tell me that you find it hard to grow
    Well I know, I know, I know
    And you tell me that you've many seeds to sow
    Well I know, I know, I know

    Can you hear what I'm saying
    Can you see the parts that I'm playing
    "Holy Man, Rocker Man, Come on Queenie,
    Joker Man, Spider Man, Blue Eyed Meanie"
    So you found your solution
    What will be your last contribution?
    "Live it up, rip it up, why so lazy?
    Give it out, dish it out, let's go crazy, Yeah!"

    Und so geht es eben immer weiter, egal, welche Religion gerade bemüht wird.

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  4. Wow, das ist genau der Sonnenaufgang, der heute morgen fehlt, infolge Dauerregens. Toll, wie die Musik mit dem Boot da reinfährt.

    Songtext (danke dafür!) ist irgendwie prophetisch, erstaunlich, das Ding ist doch uralt, oder?

    Oh, jetzt kommt grad der Wetterumschwung (9:00 etwa). Ja, passt.
    Let it all come down...

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  5. @Charlie
    Supertramp geht natürlich auch, Danke - aber 'mal grundsätzlich, Charlie *strenggugg*: Wenn der Kuchen über Musik philosophiert sollten die Krümel schweigen *schelmischlach* So: Jezz ernst! Danke für Supertramp - bin auch noch in den "Dreamer (2004)" reingegangen (Night of the Proms, Klassik trifft Pop) - gut, zweifellos, aber im Grenzbereich meines Geschmacks (dess iss zwar unmaßgeblich abber dennoch beachtlich, gell? *lach*), iss imho mehr Musik für "Mädchen", also für die mit dem Hennedy (nach Britta).

    Zu "how great the fall can be" fällt mir natürlich 'was ein: http://napalmnews.wordpress.com/2009/11/23/kann-herbst-schon-sein/

    Dein Kommentar von letztens, frei zitiert "mit offenen Augen schlafen" iss natürlich trivial, daher umso besser, hat sich als 'n (weiterer) Generalbass in meinem Kopp entwickelt, etwas, was man schon immer wusste und immer wieder vergessen hat. Jeder muss sich überlegen "was tun" unn das dann auch tun! Werde gelegentlich (wo's passt) auch hier mein Tun breittreten in der Hoffnung auf weitere "Täter".

    @Mrs. Mop
    "Das ist es, was ich an Jazzern so liebe. Das Abgedrehte." Jau, das ist es was wir an Künstlern so lieben! Besonders an Musikern (da schick ich Dir gelegentlich 'mal 'n Eindruck von 'nem kanadischen Pianisten - wenn der nich abgedreht war, wer dann?)

    PS.: Was meinste mit "Also weißte."?

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  6. "Wenn der Kuchen über Musik philosophiert, sollen die Krümel schweigen." Hahahaha, *biggest lol ever*, also weißte, so fit ist mein Sprachzentrum in der Früh' noch nicht, dass mir solche treffsicheren Schrotkügelchen einfallen täten, "Musik für 'Mädchen'", ha!, einfach bombe...ich könnt' mich kullern...

    Jetzt klarer? Nee? Immer noch nicht? OK, nochmal für die Anfänger ;):
    Als dein Kommentar gestern abend hier aufschlug, war das schon die Stunde, wo ich üblicherweise Bettschwere kriege, also steuerte ich die Kiste - immer noch leicht angebluest - an, was mir jedoch nach Lektüre von Morgenstern (die zweite) einfach nicht mehr gelingen wollte (das mit dem bluesigen Feeling), also weißte, ich musste sogar in der Horizontalen noch kichern.

    Mann Mann. du stehst doch sonst nicht so aufm Schlauch...

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  7. Ich kann ja auch nix dazu. Als Musikwissenschaftler (Hey, das war immerhin mal mein Nebenfach) ist es meine Pflicht, gute Musik zumindest mal zu empfehlen. :-) - Klar ist dieser Supertramp-Titel uralt - aber das macht ihn doch nicht schlechter? Liszt ist noch viel älter, Beethoven sowieso, aber das schmälert doch nicht den Genuss, die ihre Musik uns bietet.

    Aber wenn das Veröffentlichungsjahr so wichtig ist, dann hört Euch mal "The Ship's Going Down" von Voltaire an - ich kenne kein aktuelleres Lied, das passender wäre: http://www.youtube.com/watch?v=dUPHrLr2nAw

    "'Cause this ship's going down
    All on account of the weather
    Though we'll drown
    There's no need to frown
    'Cause we're all going together.
    And I won't say 'Woe is me'
    As I disappear into the sea
    Oh hell!
    'Cause you've all been so good to me
    So we're all going together."

    Das haben die Menschen, die jetzt noch profitieren, nur leider nicht verstanden.

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  8. Mit "uralt" meinte ich keineswegs "schlecht" - ich bezog mich übrigens nicht auf die Musik, sondern auf den Text ("prophetisch") und meinte damit (staunend eben!), wie brandaktuell ein Songtext sein kann, der vor (glaube ich, oder?) mehreren Jahrzehnten geschrieben wurde.

    Und der Titanic-Untergang ist sowieso zeitlos, auch wenn er bei Voltaire eher folkloristisch und (trügerisch) harmlos im Dreivierteltakt dahergewalzt kommt.

    Musikalisch mögen beide Stücke zwar nicht meine Wellenlänge sein, aber die Texte treffen ins Schwarze.

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