Frühmorgens beim Radfahren kann es vorkommen, dass es mich ohne Deckung voll erwischt. So emotional, meine ich. Weil diese morgendlichen Fahrten wie kleine Reisen sind: weg von A, aber noch nicht angekommen bei B. Unterwegs sein eben - allein mit dem Wetter, der Luft und der Bewegung der Gedanken. Diese Reisen früh am Tage sind wie Zwischenräume, in denen alles mögliche passiert und passieren darf, ohne dass zensierende Instanzen sich einschalten und das vorbeihuschende innere und äußere Geschehen in 'vernünftige' Bahnen lenken.
Zum Beispiel husche ich jeden Morgen an jener schlafenden Gestalt vorbei, lasse den flüchtigen Gedanken vorbeihuschen, dass mich dieser gewohnte Anblick irgendwie beruhigt, ohne das Gedachte, Gehuschte zu hinterfragen. Es tut einfach gut, jeden Morgen zur selben Zeit dieselbe Gestalt am selben Ort liegen zu sehen.
Die Gestalt liegt dort fest vermummt in einen Schlafsack, schläft meistens auf dem Rücken (in Partisanenschlafstellung), mal schnarchend, mal ruhig. Natürlich habe ich keine Ahnung, wer das ist, wie alt dieser Mensch ist, seit wievielen Jahren er dort liegt (seit anderthalb Jahren auf jeden Fall), ob er dick ist, dünn, krank oder gesund; ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.
Seit heute früh weiß ich: Es ist ein Mann, jung, hochaufgeschossen, hager, blonde halblange Haare, blonder Stoppelbart, aufrechte Haltung, durchdringender Blick. Woher ich das weiß? Weil er heute früh nicht, wie gewohnt, an 'seinem' Platz lag. Der Platz war leer. Es lag auch kein Schlafsack an seinem Platz. Auch keine sonstigen Hinterlassenschaften, nicht einmal eine Getränkedose oder ein vergessener Socken. Der Platz war einfach leer, trostlos leer.
Als ich an dem unbehausten Platz vorbeifahre, werde ich von einer merkwürdigen inneren Unruhe erfasst; plötzlich bekomme ich Herzklopfen. Mein Instinkt sagt mir, dass etwas nicht in Ordnung ist; meine Vernunft quatscht dazwischen, dass es für die Abwesenheit der Gestalt ja alle möglichen, durchaus undramatischen Gründe geben könnte. Weil ich im Zwischenraum unterwegs bin, übernimmt der Instinkt die Regie.
Ich fahre gedankenverloren aus dem Park heraus, Richtung Autobahnzubringerstraße, und da steht er: Er hat mir den Rücken zugewandt, halb im Profil, blickt suchend mal rechts, mal links die Straße entlang und trägt einen Schlafsack. Also, er trägt den Schlafsack nicht unterm Arm, sondern wie man ein Kleidungsstück am Leib trägt; ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Der bodenlange Schlafsack hängt schwer an seinem Körper herunter und sieht aus wie eine olivgrüne Mönchskutte, mit weiten Fledermausärmeln und einer großen, integrierten Känguruhtasche vor dem Bauch, die oben von einem Gummizug zusammengehalten wird. Zu seinen Füßen liegt ein undefinierbares Bündel. Sein Kopf ist unbedeckt.
Er hört hinter sich das über den Kies knirschende Geräusch meines Fahrrads, dreht sich ruckartig um und schaut mich mit durchdringenden Augen an. Ohne nachzudenken, entfährt es mir: "Was ist los?" Sein Blick wird feindselig. Er mustert mich von oben bis unten und fragt knapp zurück: "Was soll los sein?" Ich bremse und antworte: "Sie waren heute nicht auf Ihrem Platz!" Darauf er, abweisend: "Na und?" Dann sage ich etwas, was ich zu keiner anderen Tageszeit und an keinem anderen Ort als eben jenem frühen, einsamen Zwischenraum sagen würde, es rutscht einfach so aus mir heraus: "Ich habe Sie vermisst."
Der Mann starrt mich lange schweigend an; es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Dann fragt er: "Sind Sie das, die jeden Morgen um diese Zeit an mir vorbeifährt?" Mir fällt nichts ein; zwar sind die morgendlichen Zwischenräume einsam, aber trotzdem bin ich weiß Gott nicht der einzige Radfahrer, der um diese Stunde durch den Park fährt. Dann sage ich: "Ich weiß nicht", was ziemlich dumm von mir ist, denn schließlich weiß ich ganz genau, dass ich jeden Morgen an dem Mann vorbeifahre. Eigentlich will ich zum Ausdruck bringen, dass ich nicht weiß, ob es ausgerechnet mein Fahrrad ist, was er jeden Morgen hört, denn vermutlich hört er eine ganze Menge Fahrräder an sich vorbeifahren.
Der Mann betrachtet die Reifen meines Fahrrades (tiefe Profile), dann mich - immer noch scharf und durchdringend, aber das Feindselige ist verschwunden. "Doch, das müssen Sie sein", meint er endlich, "so wie Ihr Fahrrad gerade eben geklungen hat, müssen Sie das sein." Das haut mich um. Da erkennt ein Mensch einen anderen Menschen am Klang dessen über den Kies fahrenden Fahrrades - wenn er nicht gerade schnarcht, der Mensch mit dem feinen Gehör.
"Die Polizei war da", erklärt der Mann im Schlafsack dann kurz und bündig. Er sagt es in einem Ton, der keine Antwort erwartet. Ich sage nichts. Nach einer Weile frage ich ihn: "Dann sind Sie morgen früh wahrscheinlich nicht mehr an Ihrem Platz?" Er antwortet: "Höchstwahrscheinlich nicht." Mein Herz klopft schon wieder. In meinem Hals wird es eng. Ich steige auf mein Fahrrad. Bevor ich in die Pedale trete, sage ich zu ihm: "Sie werden mir fehlen." Er schaut mir aufmerksam in die Augen, lächelt ein wenig schief, dann sagt er: "Sie mir auch."
Ich fahre weiter Richtung Putzstelle und heule wie ein Schlosshund.
Ich bin sprachlos.
AntwortenLöschenWeil ich müde bin.
Weil der Artikel mich berührt.
Weil ich heute beruflich bedingt den größten Teil des Tages verbal in derart flachen Gewässern geschwommen bin, dass ich mir erstmal den Schlamm aus den Mundwinkeln wischen muss.
Weil mir ein "Ich werde ihn ebenfalls vermissen" nicht nur albern, sondern auch lächerlich erscheint und trotzdem ist es ein bisschen wahr.
Danke, Amike.
AntwortenLöschenich wünsche mir, daß ich Mrs. Mop irgendwann einmal persönlich kennenlernen darf.
AntwortenLöschen[vielleicht geht's ja in erfüllung, wenn ich die augen beim wünschen ganz fest zukneife..? ....]
Ja, wird vielleicht mal Zeit. Der sizilianische Knoblauch ist nämlich längst alle...:).
AntwortenLöschenyay! aber den kann ich leider zur zeit auch nicht liefern... gibt es sonst irgendwas, womit ich mich einkaufen könnte? pfälzer saumagen oder fleischkäsweck vielleicht? ;)
AntwortenLöschenJa, berührende Geschichte! Was nimmt man alles so mit, ohne tiefere Wahrnehmung, iss halt da, dann isses nich mehr da, dann fehlt's, und man hätte doch?, vielleicht?, früher? Aber das nächste 'mal: Bestimmt!
AntwortenLöschenhttp://www.youtube.com/watch?v=tJQGM3MfqmI&feature=related
@rebhuhn
AntwortenLöschenFleischkäsweck, oh meine Güte, am besten noch ofenwarm, da kann ich schwach werden! Ob auch käuflich...mhm...dazu brauche ich noch Bedenkzeit. Dein Angebot ist auf jeden Fall gespeichert...;)
@Vogel
Satie. Meine große Liebe in schweren Stunden, seit vielen Jahren. Auch wenn mein Herz heute schon wieder am Hüpfen ist - danke.
@rebhuhn
Merkste was ;)?
@Mrs. Mop
AntwortenLöschenja ^^.