Montag, 19. Juli 2010

Postzustellungswesen


Eine halbe Sekunde.
Heute hat mir jemand eine halbe Sekunde seines Lebens geschenkt.
Um korrekt zu sein, war es keine halbe, sondern nur 0,46 Sekunden.

Gegen zehn Uhr betrat schweißüberströmt der Postbote das Restaurant. Um die Zeit ist das Restaurant angenehm von Rolläden abgedunkelt, während draußen schon wieder an die 30 Grad kochen. Müde ließ sich der Postbote auf einen Stuhl fallen, seufzte langanhaltend und bat um einen Kaffee und ein Mineralwasser. Als beides vor ihm stand, griff er in seine Umhängetasche und fischte ein kleines Päckchen mit einer Produktprobe heraus: Ein neuartiges Anti-Schuppen-Shampoo von einem Hamburger Kosmetikkonzern. Die Umhängetasche quoll fast über vor lauter Anti-Schuppen-Shampoo-Produktproben.

Er schob das Probepäckchen über den Tisch zu mir hinüber. Ich freute mich, obwohl ich nicht unter Schuppen leide, aber solange ich keine Schuppen kriege von dem Shampoo, sind mir solche kleinen Aufmerksamkeiten willkommen. Wir kamen ins Plaudern. Ich erfuhr, dass für den Transfer einer Wurfsendung (zum Beispiel einer Produktprobe) an den Empfänger exakt 0,46 Sekunden vorgeschrieben sind, keine Nantelsekunde länger. Natürlich steht es dem Briefträger frei, für diesen Vorgang doppelt, dreifach oder zehn Mal so lange zu brauchen, aber das ist dann sein Problem. Bezahlt wird er für 0,46 Sekunden.

Bezahlt, das heißt vom Zeiterfassungssystem anerkannt, wird lediglich der Moment des Einwerfens oder -schiebens in den Briefkastenschlitz. Allein die Zeit, die der Briefträger braucht, um seine Hand vom Briefkastenschlitz wieder zurückzuziehen, wird nicht berechnet, also nicht bezahlt.

Mein Besucher von der Post machte eine slapstickhafte Stakkatobewegung mit dem rechten Arm und meinte, das hätte ich bestimmt schon öfter gesehen: Ein Bote stünde mit dem Körper ganz dicht gedrängt vor den Briefkästen eines Hauses, beide Hände unmittelbar vor den Schlitzen, in der linken Hand einen Stapel Zeug, mit der rechten Hand in maschineller Geschwindigkeit Objekte einwerfend - Wurfsendungen eben. "Das spart überflüssige Bewegungen", erklärte der Postler, "und ob ich das Einwerfen im Winter mit oder ohne Handschuhe mache, ist dem Zeiterfassungssystem egal. Oder wie lange ich brauche, um im Regen die Folie der einzelnen Pakete aufzureißen."

Ich hatte ziemlich zu kauen an den 0,46 Sekunden. "Für 3.000 Wurfsendungen in der Woche bekommen wir 21 Minuten vergütet", konkretisierte der Mann. Ob Mittel- oder Hinterhaus, spiele keine Rolle, berechnet werde nur der Briefkasten zur Straße hin. Muss das Postzustellungswesen zu einem Tor hinein, um an die Briefkästen zu kommen? Sein Problem. Muss es um das Haus herumgehen ("alle Briefträger hassen Einfamilienhäuser")? Sein Problem. Sind im dritten Hinterhof etwa auch noch Briefkästen? Sein Problem.

"Die meisten Leute denken ja", fuhr der Postbote fort, "diese faulen Briefträger, die sollen sich nicht so anstellen, das bisschen Papier von hier nach dort zu tragen...". Ich schwieg und überlegte, wie oft ich schon einen Postboten verflucht hatte, der mir einen Benachrichtigungszettel in den Briefkasten geworfen hatte anstatt bei mir zu klingeln (vierter Stock!). Der Mann von der Post schaute mich aufmerksam an und erriet lächelnd meine Gedanken. "Mach dir nix draus", sagte er freundlich. Ich schämte mich.

Bevor er aufbrach, ging er noch rasch zur Toilette. Die Tür hinter ihm hatte sich schon fast geschlossen, da streckte er nochmal den Kopf heraus; sein Schnauzbart verzog sich zu einem lustigen Grinsen, als er sagte: "17 Sekunden fürs Pinkeln - mehr ist nicht", und als ich ungläubig dreinschaute, setzte er sarkastisch nach, "unter Verstopfung darf man in unserem Job nicht leiden, sonst hat man noch mehr unbezahlte Überzeiten!"

Es waren höchstens zehn Minuten, die wir miteinander geplaudert hatten. Muss erwähnt werden, dass der Postbote diese kurze Pause selbstverständlich nicht bezahlt bekommt? Ich schon.

Es gibt Tage, da will es mir so vorkommen, als wäre ich noch längst nicht im Prekariat angekommen. Allenfalls an seinen Rändern.

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