Das Thema
Obdachlosigkeit hat sich mir
an die Fersen gehängt, ich kriege es nicht mehr los. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute über anderes zu schreiben, doch es kam anders. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch die Innenstadt, fuhr so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn. Auf einmal, kurz nach elf, läuteten Kirchenglocken ganz in der Nähe. Ich denke, aha, Gottesdienst zu Ende, fahre an der nämlichen Kirche vorbei und sehe sechs, sieben große Hunde vor dem Kircheneingang liegen. Sehr große Hunde. Teils riesengroße. Neben der Tür hängt ein grellgrünes Infoplakat, von weitem nicht zu lesen. Nanu, denke ich, eigentlich müssten doch jetzt die Gottesdienstbesucher aus der Kirche herauskommen, aber nein, in den kleinen quadratischen Vorraum haben sich viele Menschen gequetscht, die all nur eines wollen: in die Kirche
hinein.
Also Fahrrad parken, Plakat studieren. Sehr gut, denke ich beim Lesen, da schreibst du nachher einen kleinen Abbinder über Obdachlosigkeit und wendest dich dann anderen Themen zu. Doch es kam anders.
Wie ich so in der geöffneten Tür stehe und sinniere und die ersten fragmentarischen Blogsätze mich mental durchsaften, ertönt in meinem Rücken ein fasstiefer, aufgerauhter Bass "he, Sie versperren den Eingang!", eine ungeduldige Frauenstimme ruft "was denn jetzt, will die rein oder raus?", und ein Dritter meint "ich glaub, die will bloß fotografieren, die gehört nicht zu uns." Hinter mir hat sich auf dem Bürgersteig eine stetig wachsende Menschenmenge gebildet, die alle nur eines wollen: ebenfalls in die Kirche hinein. Hungrige Menschen können sehr druckvoll agieren; irgendwie werde ich von der ins Kircheninnere strömenden Druckwelle erfasst und erst im Kirchenhauptraum an Land gespült.
Ich bleibe erst mal unschlüssig stehen und lasse die Szenerie auf mich wirken: Sechs ellenlange Tische stehen quer zu den Kirchenbänken, alle Tische sind voll besetzt. Die farbenfrohen Fenster (fast das einzig Schmückende in dieser evangelischen Kirche) mit dem hereinfallenden Mittagslicht schaffen eine warme, gedämpfte Atmosphäre. Im Raum herrscht ein gräuschvolles Stimmengewirr. Es geht zu wie in einem Bierzelt zu vorgerückter Stunde, nur ohne einen Tropfen Alkohol. Fast alle unterhalten sich teils mit Tischnachbarn, teils quer über die Tische hinweg mit anderen Gästen. Manche neu Eintreffenden werden wie alte Bekannte begrüßt.
Zwischen den sechs Tischen wuseln sechs Frauen in schwarzweiß-längsgestreiften Halbschürzen (cooles Design, hat gut ausgesehen) und versorgen die ausgehungerten Gästemassen. Es sind ganz unterschiedliche Frauen, Anfang vierzig bis knapp sechzig Jahre alt, große, kleine, dicke, schlanke, blonde, brünette, bodenständige und eher intellektuell wirkende; aber eines haben sie alle gemein - sie sind von Kopf bis Fuß robust. Robust in allem: im Auftreten, in der Physis, im Charme und auch im Humor. Hinter mir ruft eine robuste Stimme freundlich "gehen Sie bitte aus dem Weg?", ich drehe mich um und sehe einen riesigen Servierwagen auf mich zurollen, dynamisch geschoben von einem dieser guten Geister. Ich entschuldige mich und erkläre, ich sei das erste Mal hier. Die Helferin - um die vierzig, straff zurückgebundener blonder Kurzpferdeschwanz, leicht gebräunt, gepflegt, sicher im Auftreten - erwidert mit unverändert freundlicher, aber noch festerer Stimme: "Gehen Sie bitte trotzdem aus dem Weg. Suchen Sie sich einen Platz, Sie bekommen alles am Tisch serviert." Klare Ansage.
An einem der langen Tische ergattere ich einen gerade freigewordenen Stuhl. Alle anderen am Tisch essen mit großer Intensität, ich sitze dazwischen und harre der Dinge, die da kommen. Meine Tischgenossen schenken mir nur beiläufige Beachtung; sie sind auf kreatürliche Weise mit Essen beschäftigt. Mir gegenüber sitzt ein schmächtiger Endzwanziger mit eingefallenen Wangen und großen Augen. Er ist voll fokussiert auf die Brotscheibe in seiner linken Hand. Das Brot ist kunstvoll und opulent belegt mit zwei Scheiben Bierschinken, einer Scheibe Lyoner, einer Scheibe Käse, einer längsgefächerten Essiggurke sowie einem Topping aus kleingehacktem harten Ei. Er beißt mit großen Bissen ab, während des Kauens schaut er hingebungsvoll vertieft auf das, was von seinem Augenschmaus noch übrig ist.
Ich sitze also und habe nichts zu tun, halte noch meine Sonnenbrille in der Hand und würde sie gern loswerden, weiß aber nicht wie. Ist nämlich so ein ästhetisch abgefahrenes Designerteil aus besseren Tagen, ja, soll ich das jetzt einfach auf den Tisch legen zwischen die Marmeladegläser und Frischkäsebecher? Es fühlt sich selten deplaziert an. Diese Sonnenbrille gehört nicht auf diese Tafel. Das Etui steckt im Rucksack, sieht noch abgefahrener aus als die Brille und bleibt deshalb im Rucksack. Ich schiebe den exterrestrischen Fremdkörper zwischen Untertasse und Kirschjoghurtbecher in eine möglichst unauffällige Position. Mein Tischnachbar zur rechten hat meiner Handbewegung interessiert zugeschaut (alles, was auf dem Tisch selbst passiert, wird von allen mit wachen Blicken beobachtet: wo steht welches Lebensmittel, wieviel ist in welchem Behälter noch drin, was wird auf den Tellern übrig gelassen...).
Jetzt deutet er mit dem Zeigefinger vage auf die Sonnenbrille, grinst vielsagend und kommentiert: "Oh, das Ding war mal teuer, das stammt noch aus besseren Tagen, seh ich das richtig?" Eis gebrochen. Wellenlänge stimmt.
Der resolute Pferdeschwanz bringt mein Gedeck. Zwei Brötchen, zwei Scheiben Brot, sechs Scheiben Aufschnitt, zwei Scheiben Käse, ein hartgekochtes Ei, ein Multivitaminsaft, eine Banane, ein Kirschjoghurt. Außerdem reicht sie meinem Nachbarn zur rechten einen Teller voll mit längsgefächerten Essiggurken und erklärt mir dazu: "Das gibt's normalerweise nicht, Essiggurken, aber er hat die ganze Zeit gejammert, er sei schwanger und bräuchte unbedingt Essiggurken." Mit dem Typen komme ich klar. Mit dem Pferdeschwanz auch.
Die Gespräche bei Tisch kreisen hauptsächlich um die Frage, wann es nächste Woche von welchem Sozialanbieter was wo gibt; alle können die einschlägigen Jours fixes auswendig herunterbeten. Es folgt ein höchst lebendiger Erfahrungaustausch, wer schon mal wo gewesen ist, was er dort erlebt hat und was er davon weiterempfehlen kann; mit was für Menschen man an welchem Ort den Tisch teilen muss - mit Punks, Junks, Rentnern, Leuten von der Straße, Ungewaschenen, Gepflegten und so fort.
Irgendwann klingelt ein Handy. Es ist meines. Schlagartig wird es still. Alle gucken, aha, die Neue dort drüben, die war das doch auch mit der Fotokamera am Eingang. Hier scheint kein einziger ein Handy zu besitzen. So wie sie gucken, möchte ich fast wetten, dass wohl auch keiner von ihnen ein
Laptop mit sich herumschleppt. Wobei ich mich da böse täuschen kann. Jedenfalls hüte ich mich bis fast zum Ende des Brunches, meine Kamera rauszuholen und zu fotografieren, obwohl es mich tierisch in den Fingern juckt. Es reicht schon, dass meine Sonnenbrille so blöd auf dem Tisch rumliegt.
Der Typ neben mir liest nach dem Essen die Sonntagszeitung und quatscht mich ab und zu von der Seite an, durchaus informativ und unterhaltsam. Die Zeitung hat er sich selbst mitgebracht und schenkt sie mir, als er aufbricht. Für nächsten Sonntagmittag empfiehlt er mir eine Adresse im Westen der Stadt, wo wieder gratis aufgetischt werde, "warmes Essen! Warmes, frischgekochtes Essen! Und zwei Menüs zur Auswahl, eins davon vegetarisch, mal mit, mal ohne Gottesdienst, da müssen Sie aber nicht hingehen".
Gegen Ende des Brunches wuselt die Resolutentruppe durch die Tischreihen und verteilt aus großen Kartons Schokoladeosterhasen, Schokoladeneier und andere österliche Sweeties. Offenbar haben sämtliche Supermärkte der Region ihre Restposten an Osterware entsorgt. Auf dem Boden der Osterhäschen steht als Ablaufdatum 'Juni 2009'; grade nochmal die Kurve gekriegt. Vom blonden Pferdeschwanz erfahre ich, dass erst vor wenigen Tagen eine größere Spende an Ostersüßigkeiten eingetroffen sei.
Vor mir stapeln sich Schachteln mit Gelee-Eiern in Schokomantel und likörgefüllten Ostereierchen. Einer fragt mich, ob ich seine zwei Schokohasen haben möchte. Klar, sage ich. Er reicht mir seine Hasen aber nicht über den Tisch. Ich gucke dumm. Er guckt erwartungsvoll. Ja und? Was jetzt? Seine Blicke verraten ihn. Er hat es eindeutig auf meine Liköreierchen abgesehen. "Ein Dutzend von den Dingern als Gegenleistung", sagt er. Eine Packung enthält zwölf Eier. Zwei Packungen Liköreierchen liegen vor mir. Ich schiebe ihm eine davon rüber. Er schiebt mir einen Schokohasen zu. Den zweiten behält er. Ich gucke wieder dumm. Er guckt nett und sagt: "Zwei Hasen, macht zwei Dutzend von den Dingern", ich schnaufe laut und schiebe ihm das zweite Dutzend rüber, und er schiebt mir den zweiten Schokohasen zu. Das Geschäft wird mit Handschlag besiegelt. Jetzt endlich traue ich mich, meine Kamera herauszuholen. Während ich am Fingern bin, bringt er die Sonnenbrille in eine ihr gebührende Position und lacht sich dabei halbtot.
Ich auch.