Montag, 2. Mai 2011

Zurück zur Natur


Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass die 70-jährige Sängerin Joan Baez aus ihrem Baumhaus gefallen ist. Baez, eine Politaktivistin und Protagonistin der sogenannten Hippie-Ära, hatte sich wie viele ihrer damaligen Zeitgenossen ein provisorisches Baumhaus gebaut, um der Natur näher und der Zivilisation ferner zu rücken. Auf Außenwände hatte sie verzichtet, was ihren Baumhaus-Bretterverschlag besonders naturnah machte, aber eben auch den freien Fall in die Natur nach sich zog, welcher wiederum, gottlob, nur ein paar harmlose Prellungen nach sich gezogen hat.

Nun ist der Wunsch nach Naturnähe und Zivilisationsferne heutzutage kein belächeltes Hippiephänomen mehr, sondern - wie sagt man? - in der etablierten Mitte der Gesellschaft angekommen. Wobei, na ja, was heißt Mitte - sagen wir mal: in den oberen Zehntausend der Gesellschaft angekommen. Baumhäuser, so ist im Wall Street Journal nachzulesen (mit Fotos, via Marginal Revolution), gehören zu den "must-have Accessoires" der Reichen, Schönen und Gestressten. Im Baumhaus finden sie zur meditativen Ruhe und zu sich; internationale Popstars, Hollywoodstars und Modedesignerstars lassen sich von Stararchitekten und Stardesignern schicke Edeldomizile in die Bäume ihrer Gärten oder Parks zimmern, um sich darin von ihrem starbedingten Burnout zu erholen. Wer nicht bis drei auf den Bäumen ist, gehört nicht mehr zur Elite.

Luxushippies brauchen Luxusbaumhäuser. "Unsere Sehnsucht war, der natürlichen Umgebung so nahe wie irgend möglich zu sein", das war zwar bereits vor 40 Jahren das Credo der Zivilationsmüden; nur gibt sich heute mit fehlenden Außenwänden keiner mehr zufrieden - eine verglaste Decke muss es schon sein, und ohne integierte Sauna läuft gar nichts, "ich liebe es, bei dunstigem Wetter im heißen Whirlpool zu sitzen und vom Himmel geküsst zu werden." So viel Spiritualität im naturnahen Himmelbett hat ihren Preis; Einsteiger-Baumhäuser gibt es ab 100.000 Dollar, ein Premiummodell ist nicht unter einer Million zu haben. Wenn das die Hippies geahnt hätten, hätten sie vermutlich beizeiten Teile der nordamerikanischen Wälder weggerodet.

"Den Wald rings um mich herum zu spüren und dabei gemütlich vor dem brennenden Kaminofen zu sitzen, während der Regen herunterprasselt - es gibt keine bessere Art, den Regen zu genießen. Es ist eine Art architektonisches Gedicht." Altvater Freud hingegen hätte es höchstwahrscheinlich als eine Art spätdekadenter Regression bezeichnet. Hippie eben, auch er, irgendwie.

"Eigentlich wollten wir nur ein ganz normales Baumhaus. Dann ging es mit uns durch. Wir fügten ein spiralförmiges Treppenhaus hinzu, einen Holzkaminofen, Rettungsnetze, eine Seilbrücke und eine Rutschstange für die Kinder. Und schließlich dachten wir: warum keinen Whirlpool aus Zedernholz?" Warum eigentlich keinen zedernhölzernen, solarbetriebenen Fahrstuhl zum Hochsitz, für den ultimativen Komfort?

Der Zurück-zur-Natur-Gedanke steht bei den modernen Baumbewohnern ganz obenan. Das Tolle daran, sagen sie: es sei "wie Camping bei sich zuhause". Camping in den eigenen vier Baumwänden, wie darf man sich das vorstellen? So: "Wir schließen uns im (Baum)Haus ein, schalten den Fernseher an, machen es uns auf ein paar Sitzsäcken gemütlich, zünden ein Feuerchen im Kamin an, und zum Absacken setzen wir uns auf die Veranda mit einem Glas Wein, schön verborgen im Wald." Immerhin, sie verschließen die Baumhaustür, bevor sie den Fernseher aufdrehen. Das zeugt von Rücksicht gegenüber den übrigen Waldbewohnern, die womöglich irgendwann ins Dickicht der Städte übersiedeln, weil sie von der Naturnähe der Luxushippies - peaceful paradise lost - die tierische Schnauze voll haben.

Nun wäre allerdings diese kleine Kulturgeschichte des Baumhauses nicht vollständig, ohne einen Blick nach Detroit zu werfen. Die Stadt - früher von zwei Millionen, heute nur noch von 700.000 Menschen bewohnt - ist zum Symbol des post-industriellen Niedergangs Amerikas geworden. Fast 80.000 Häuser stehen leer. Weil sie leerstehen, verfallen sie. Weil sie verfallen, macht sich die gefräßige Natur über sie her. Bäume und Sträucher, die in den Gärten früher einmal Dekorationszwecken dienten, wachsen ungebändigt über und in diese Häuser hinein, den Rest verleibt sich der wildwuchernde Efeu ein. Allmählich verschwinden die Häuser in den Bäumen; irgendwann werden sie von den Bäumen vollständig verschluckt sein.

Sweet Juniper nennt diese Häuser "feral houses": verwildert, entdomestiziert (lat. fera), aber auch 'zu den Toten gehörig' (lat. feralis). Eigenartig, wie düster in diesen Häusern Schönheit und Vergänglichkeit ineinander verwachsen. Bäume können brutal sein. Baumhäuser ebenso.

Baumhäuser in Detroit

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