Freitag, 6. Mai 2011

Linkshänder


Manchmal kommt eins zum andern, einfach so, man weiß nicht, wie so. Oder wieso. Und dann fällt einem nichts dazu ein. Nicht etwa weil es nicht berührt, vielmehr gerade weil es berührt. Dann steht man da wie vom Blitz getroffen und denkt: Ja, so ist es! - und ist ansonsten sprachlos und berührt.

Ich lese gerade in einem Buch von Oliver Sacks, Musicophilia, auf deutsch Der einarmige Pianist. Oliver Sacks ist jener bücherschreibende Neurologe, der vor ein paar Jahren durch New York radelte, als eine kopfhörertragende Frau seine schrille Fahrradklingel überhörte und ihm direkt ins Rad lief, weshalb Sacks im hohen Bogen über den Lenker flog und mit der Treffsicherheit des Experten schlussfolgerte, "dass kein Schizophrener sich im Straßenverkehr so bescheuert bewegt wie die New Yorker Fußgänger".

Ja, so ist es!, denke ich, zwar ohne neurologische Expertise, aber mit Fahrrad unterwegs, zwar nicht in New York, was aber egal ist, denn kopfhörertragende Fußgänger machen einen radfahrenden Menschen immer wieder sprachlos, egal wo. Wobei diese Sprachlosigkeit jeweils die unmittelbare Folge tiefer innerer - und mitunter auch, wie im Falle Sacks, äußerer - Berührtheit ist.

Damals, als Sacks im Sturzflug sein Fahrrad hinter sich gelassen hatte, arbeitete er noch an Musicophilia. In seinem Buch schreibt er über die Wirkungen von Musik im Gehirn; besonders über jene Veränderungen, die Musik nach traumatischen Verletzungen haben kann. Zum Beispiel erwähnt er einen Mann, der vom Blitz getroffen wurde, schwer verletzt überlebte und eine bis dato nie erlebte Leidenschaft fürs Klavierspielen entdeckte. Der Mann lernte Noten lesen, begann in seinem Kopf Musik zu hören, schrieb sie auf und spielte sie.

Solche Geschichten lese ich wie vom Blitz getroffen und kann gar nicht mehr aufhören zu lesen. Zum Beispiel Geschichten von Musikern, die den rechten Arm verloren haben, mit dem linken weiter Klavier spielen und das meisterhaft. Dem österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein wurde nach einer schweren Schussverletzung im ersten Weltkrieg sein rechter Arm amputiert. Er spielte mit dem linken Arm weiter und unterrichtete als Lehrer zweiarmige Klavierspieler. Einer seiner Schüler erinnert sich, dass Wittgensteins rechter Armstumpf beim Unterrichten und Spielen mitzuckte: "Während er mit dem linken Arm spielte, dachte er sich einen Fingersatz für die rechte Hand aus - er schien seine rechte Hand immer noch zu spüren, und seine Fingersätze für die rechte Hand waren wunderbar."

Dann höre ich Paul Wittgensteins einarmiges Klavierspiel, bin wie vom Donner gerührt und drifte in Sphären ab, wo mir die Sprache verloren geht. Höchstens denke ich noch: Wen diese Musik nicht berührt, ist der am Herzen amputiert? - mehr fällt mir dazu nicht ein.

Doch. Irgendwann beim Lesen und Hören fällt mir Paul Wittgensteins jüngerer Bruder Ludwig ein, von dem der weise Spruch stammt: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Ja, so ist es!, denke ich, und frage mich, warum ich trotzdem über etwas schreibe, wofür mir eigentlich die Worte fehlen? Mir fällt keine Antwort ein.

Während ich weiterlese über die wundersamen Wege der Musik durch die Gehirnwindungen, dringt eher zufällig eine Radiosendung an mein Ohr - (wieso schreibe ich jetzt Ohr im Singular, wo ich doch zwei Ohren am Kopf habe? Mir fällt keine Antwort ein. Es muss an der Lektüre liegen) - ein Feature über den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein und sein Verhältnis zur Musik. Ich höre, dass sich Ludwig über das künstlerische Potential seines einarmigen Bruders Paul mokiert hat, was dessen Klavierspiel empfindlich beeinträchtigte und Paul zu der Bemerkung veranlasste: "Ich kann einfach nicht spielen, wenn du im Haus bist. Ich spüre, wie deine Skepsis unter der Tür hereinsickert." Schon wieder bin ich berührt und finde dafür keine Worte.

Ob Ludwigs Seitenhieb auf den einarmig spielenden Bruder etwas damit zu tun hatte, dass Ludwig selbst nur sehr mittelmäßig Klarinette spielte, wäre reine Spekulation. Überliefert ist jedoch, dass er sein Instrument nicht etwa in einem passenden Etui, sondern in einem Strumpf herumzutragen pflegte. In einem Strumpf! Obwohl er sich ein anständiges Klarinettenetui durchaus hätte leisten können, stammte er doch aus einem steinreichen Elternhaus. Aber eben deshalb hat Ludwig Wittgenstein wohl den spartanischen Strumpf gewählt. Er legte nämlich Wert auf ein betont spartanisches Aussehen, weil er nicht als reicher Pinkel rüberkommen wollte. Hat man Worte?

Nicht dass der Philosoph Wittgenstein unmusikalisch gewesen wäre, im Gegenteil. Neben seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Philosophieren, hat er für sein Leben gern gepfiffen und brachte es in diesem Fach zu großer Virtuosität: "In seinem Repertoire befanden sich ganze Schubertlieder, die er zum Teil mit Begleitung eines Klavierspielers darbot." Da fragt man sich natürlich instinktiv, warum der pfeifende Ludwig sich nicht, der Einfachheit und häuslichen Nähe halber, von seinem virtuos klavierspielenden Bruder Paul begleiten ließ? Schwamm drüber - worüber man nicht sprechen kann, sollte man besser schweigen.

Noch ist nicht alles gesprochen über das Unaussprechliche in der Musik. Heute mittag - ich lauschte gerade der Chaconne for the left hand von Bach/Brahms, gespielt von Paul Wittgenstein - stolperte ich über diesen rechtshemispärischen Fingersatz:

(Thomas Beecham, britischer Dirigent,
Gründer des Royal Philharmonic Orchestra)

Ja, so ist das.

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