Donnerstag, 19. August 2010

Schwarmintelligenz


Ich muss schon sagen, der große Blonde mit dem schweren Schlafsack hat Nerven wie breite Nudeln. Wie ich heute früh in den Park einbiege und mich seelisch-moralisch für einen harten Augenblick wappne, liegt der doch glatt an seinem angestammten Platz, zusammengekringelt (nix Partisanenschlafhaltung!) wie ein sattes Baby, in seinem Schlafsack und tut, als ob gestern nichts gewesen sei. Während ich mich zuerst auf dem Fahrrad, danach auf meinem Blog ausheule.

Zumindest nehme ich an, dass es sich bei der Gestalt im Schlafsack um den großen Blonden handelte - man kann ja nie wissen. Theoretisch könnte sich ein anderer Freischläfer gestern nacht das unverhofft freie Schlafplätzchen unter den Nagel gerissen haben; allerdings lag der Schlafsack exakt an derselben Position wie immer, nämlich schräg unterhalb der steinernen Tischtennisplatte (Wind- und Regenschutz!), und wie immer stand rechts neben dem Kopfende eine kleine Wasserflasche mit exakt demselben Etikett wie sonst auch. Mithin kann es kein Vertun geben - er muss es gewesen sein. Wer sonst.

Ich gebe zu, mich wie ein Kind gefreut zu haben. Als ich an ihm vorbeifuhr, wurde mir ganz giggelig zumute: Ob er wohl meine Fahrradreifen auf dem Kies knirschen hört? Im Halbschlaf? Im Traum? Ziemlich geräuschvoll zischte ich 'Psst!' zu ihm hinüber, aber das hat ihn nicht gerührt; jedenfalls hat er sich nicht gerührt. Na gut. Hauptsache, er ist wieder da, Hauptsache, ich habe mich gefreut.

Das bisschen Freude am frühen Morgen konnte ich gut gebrauchen, denn am späten Morgen gab es geschwollenen Ärger. Als ich in den Hinterhof des Restaurants trat, um leere Flaschen aus Kunststoffwannen heraus in den Flaschenboy zu deponieren, war kurz zuvor ganz überraschend die Sonne herausgekommen - auch dies ein Grund zur Freude, eigentlich. Uneigentlich hielt sich die Freude dann doch in Grenzen. Gefühlte 92 leere Flaschen lagen in der prallen Sonne, die meisten davon Rot- und Weißweinflaschen (es muss gestern abend mal wieder mächtig gebrummt haben, umsatzmäßig).

Leider erwies sich die Mehrzahl der Flaschen als nicht leer; speziell die Rotweinflaschen enthielten Rückstände an Rotwein. Mit Rückständen meine ich nicht so ein paar Tröpfchen, sondern mehrere Fingerbreit je Flasche. Gut, mich geht's ja nichts an - aber ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal auch nur eine einzige Flasche mit so vielen Weinresten drin entsorgt hätte. Bei mir wird seit Jahren nichts, absolut nichts mehr weggeworfen, was ess- oder trinkbar ist. (Sollte jetzt jemand fragen: auch nichts Verdorbenes?, nein, auch nichts Verdorbenes, denn bei mir verdirbt seit Jahren nichts mehr, weil ich alles aufesse und -trinke, bevor es verdirbt.)

Ich stand also sinnierend vor all den halbleeren Flaschen, kam mir schon vor wie Tante Hildegunde, die aus der Nachkriegszeit erzählt ("...euch geht's zu gut! Ihr wisst nicht, was Hungern heißt!"), bückte mich schließlich inmitten der warmen, alkoholdunstgeschwängerten Luft - da schwirrte ein aufgeschreckter Wespenschwarm aus der Flaschendeponie und es kam, wie es kommen musste: Ein Stich, ein Schrei - gute Laune vorbei. Innenseite linker Oberarm, da, wo die Haut besonders dünn und und der stechende Schmerz am wirkungsvollsten ist. Ich tobte. Ich fluchte. Ich verfluchte die Gastronomie mitsamt ihren verpeilten Servicekräften, von denen - zu ihrem Glück, zu meinem Leidwesen - keiner anwesend war.

Gottseidank hat die Gastronomie auch ihr Gutes, nämlich überall Zwiebeln und Zitronen zur Hand. Nach einer halben Stunde war ich wieder in einem annähernd menschenwürdigen Zustand. Noch jetzt prangt an meinem linken Arm ein fetter Flatschen, noch jetzt verströme ich einen durchdringenden Geruch nach feinsten französischen Rotzwiebeln. Roh genossen kommt der Zwiebelgestank ja immer am besten.

Was soll ich sagen? Mittlerweile bin ich - endgültig, unwiderruflich und wild entschlossen - urlaubsreif.

19 Kommentare:

  1. schön, daß er doch nicht weg ist!! - hast du schon einen plan für die freie woche? ich werde mitte september im kloster fünf tage vor mich hin lesen, worauf ich mich wie ein kind freue :D.

    am rande: dann bist du aber ein disziplinierter und sehr gut haushaltender mensch - respekt! :) ich kriege es [zumindest allein wohnend] auch nicht annähernd hin, nichts schlecht werden zu lassen. leider.

    AntwortenLöschen
  2. Ach Tante Hildegunde, schon wieder fühle ich mit dir (oh, wenn du sehen würdest, wie viele Lebensmittel an meinem Arbeitsplatz weggeworfen werden... da wünscht man sich fast einen Wespenüberfall als Katharsis - naja, die Branche eben, wo Maultaschen in den Müll gehören und nicht in den Magen unterbezahlter Schwerstarbeiter)

    Aber ich hab was für dich, da musste ich doch sehr an deinen Blog und dich denken - und zwar nicht der akademischen Putzfrau wegen...

    http://www.youtube.com/watch?v=HbVqmY1fHSg&feature=related

    Ist jetzt eher nicht kubanisch, aber als Blues geht's vielleicht noch durch ;)

    AntwortenLöschen
  3. Gute Zeit im Kloster! Mich zieht's in die entgegengesetzte Richtung - also, zu de Leut', zur Musik, zum Tanzen. Kuba war jetzt nicht völlig an der Wahrheit vorbei, wenn auch balkendick übertrieben; halt Kuba auf deutschem Boden, was ja immer noch besser ist als ein Loch in der Hose, sozusagen :).

    Weiß du, wenn wenig Geld da ist, fällt Disziplin nicht schwer. Man darf nur nicht den Kühlschrank mit zu vielem vollstopfen, ergo, nicht zu viel auf einmal einkaufen. Seit ich mir das angewöhnt habe, finde ich das Einkaufen wesentlich stressfreier. Gegessen wird halt das, was da ist, bzw. ich improvisiere mit dem, was da ist (was ich eh gern tue).

    AntwortenLöschen
  4. hoppala, der letzte war fürs rebhuhn...

    AntwortenLöschen
  5. @Amike
    Ei, wo arbeitest DU denn? Bei Lidl? Oder im Seniorenpflegeheim? Das wird ja hier allmählich zum lustigen Beruferaten...;)

    Danke für den Song. Schön böse ist der, genau das Richtige für mich.
    "Sie hört Klezmer beim Bügeln - ach Klaus, Rock'n'Roll sieht anders aus", he he, so was geht mir rauf und runter.

    Einen Blues würde ich das jetzt nicht nennen, dafür ist es musikalisch zu lahmarschig, aber der Grebe macht das, glaube ich, mit Absicht so. Auch dass er so nölig singt, ist wohl auch perfide Absicht und deshalb schon wieder saugut.

    AntwortenLöschen
  6. Ich überlege die ganze Zeit, ob es für meine Tätigkeit eine ähnlich schöne Versinnbildlichung gibt wie die Feudelburka, aber ich muss passen.

    Mit einem Tipp lagst du richtig. Mein Freund nennt mich liebevoll "die Rentnerflüsterin". Wobei das wohl ähnlich euphemistisch ist, wie dich "die Gaststättenstreichlerin" zu nennen :)

    Aber ich glaube irgendwie immer noch, dass es so besser ist, als nach 5 oder mehr Jahren qualvollem bolognaverseuchtem Studium als Taxifahrerin auf einem Berg Bafögschulden zu sitzen. Als Rentnerflüsterin gibt's wenigstens jeden Tag was zum Lachen und fast jeden Tag sogar was zum Lächeln.

    Nur die Schichtarbeit schafft mich... ich sollte dringend in die Heia!

    AntwortenLöschen
  7. @ Rentnerflüsterin:

    An Schicht- bzw. Nachtarbeit gewöhnt man sich mit der Zeit (auch wenn sie dadurch nicht schöner wird), aber an Maultaschen, die lieber in den Müll fliegen (sollen), anstatt in irgendeinem Magen für ein gewisses Sättigungsgefühl zu sorgen, DARF man sich niemals gewöhnen.

    Da Du so hübsche Begriffe wie "bolognaverseuchtes Studium" und "ein Berg Bafögschulden" benutzt, gehe ich aber einfach mal davon aus, dass Dir das so oder so vollkommen bewusst ist. ;-)

    AntwortenLöschen
  8. @Amike
    "Rentnerflüsterin", da dachte ich im ersten Moment: Du singst mit Demenzkranken Lieder aus deren Kindheit. Kann aber nicht sein, denn dann wäre der Begriff ja liebevoll und nicht beschönigend gemeint. Oder?

    Die Spannung steigt...;)

    AntwortenLöschen
  9. @Maskenbildner im Schichtdienst

    DIE Logik musst du mir erklären: Wieso gehst du davon aus, dass ein "bolognaverseuchter" Uniabgänger ein klares Bewusstsein von sozialen Deformationen hat? Gehört das kritische Bewusstsein neuerdings zu den Studieninhalten der akademischen Schnelldreher?

    Wobei ich mir sicher bin, dass jemand wie die Amike ihr so klares wie kritisches Bewusstsein eher nicht an der Uni antrainiert bekommen hat. Ich kann mich aber täuschen.

    Rentnerflüsterin, übernehmen Sie!

    AntwortenLöschen
  10. Auszug: Schicht-/Nachtarbeit, Maultaschen innen Müll, "halbvolle Weinflaschen", Berg von Bafög-Schulden ... wie heißt dess noch gleich? Ah, ich hab's: O tempora, o mores!
    Jau, Charlie (& all), Du hast (Ihr habt) recht: Mehr wahrnehmen, nich daran gewöhnen - erste Schritte in die richtige Richtung.

    AntwortenLöschen
  11. @früher Vogel
    Boah, hast deine Nachtschicht heute aber sehr früh beendet ;).

    AntwortenLöschen
  12. Also Rentnerflüsterin ist in dem Sinne euphemistisch, dass ich den größten Teil des Tages schwerhörige und demente Senioren anschreie - nicht aus Bosartigkeit, sondern damit die mich verstehen (irgendwie ist der Satz verkorkst, biegt ihn euch selber gerade).
    Und tatsächlich mache ich eine Ausbildung zur Altenpflegerin, auch wenn diese Enthüllung jetzt ein wenig die Spannung nimmt.

    Und danke für die Blumen von wegen kritisches Bewusstsein, Mrs. Mop :) Meiner Erfahrung nach geht es in der Uni kaum um die Vermittlung bzw. vielmehr Bildung eines solchen, man könnte manchmal fast den Eindruck gewinnen, es ginge genau um das Gegenteil. Aber diese Ansicht ist natürlich weder objektiv noch repräsentativ.

    Und was genau sollte ich nun übernehmen?

    AntwortenLöschen
  13. Das war eine Reminiszenz an "Kobra, übernehmen Sie", eine kultige Agenten-TV-Serie aus den 60ern. Fiel mir ein, weil du dich neulich (wie mir schien) als Spionageroman-Liebhaberin geoutet hattest ;).
    http://www.tv-nostalgie.de/sound/kobra.htm
    Die Serie hatte eine begnadet gute verjazzte Intro-Musik in vertracktem 5/4 Takt, nach der ich süchtig werden könnte, wenn es sie in einer längeren Version gäbe (dauert leider nur ca. 30 sec.).
    http://www.schifrin.com/

    Altenpflegerin, ein Zukunftsberuf (alte Leute gibt's immer und immer mehr). Da stehst du doch in direkter Konkurrenz zu den Langzeitarbeitslosen, die jetzt via Schnellkurs zu Altenbetreuern "ausgebildet" werden, oder? Wie fühlt sich das für eine professionelle Altenpflegerin an?

    AntwortenLöschen
  14. Was ist an DER Logik so erklärungsbedürftig, Mrs. Mop? Ich unterstelle einem Menschen, der erkannt zu haben scheint, dass der so genannte "Bologna-Prozess" für unser Bildungssystem im Allgemeinen und für die Hochschulen im Besonderen nichts Gutes bedeutet, eine gewisse Kompetenz, ähnliche Erkenntnisse auch in anderen Bereichen zu besitzen. Ist das denn so weit hergeholt? ;-)

    Dazu muss man auch nicht studiert haben - wobei es da ohnehin immense Unterschiede gibt: Denn wer (auch vor der "Reform") Professoren wie Herrn Sinn oder Herrn Raffelhüschen (oder viele andere) vor der Nase hatte, darf heute sicher als indoktriniert, aber nicht in jedem Falle als gebildet gelten.

    Aber das nur am Rande. :-)

    AntwortenLöschen
  15. Jessas, Charlie, das ist schon wieder so ein Fall von durcheinandergeratener Begrifflichkeit (meinerseits), hatten wir neulich schon auf deinem Blog.

    Natürlich hat die Amike die Sache komplett durchschaut, das merkt man ihren Kommentaren mehr als deutlich an, drum habe ich das oben auch genauso deutlich geschrieben.

    Hast natürlich recht, wenn ein Bologna-Absolvent das, was hinter ihm liegt, als "bologna-verseucht" bezeichnet, dann ist er ein Durchblicker und eben grade nicht bologna-verseucht. Ich dachte in jenem Kommentar mehr an die bologna-verseuchten Nullchecker.

    Öh, was sind die Meta- und sonstigen Ebenen kompliziert auseinanderzuhalten...;)

    AntwortenLöschen
  16. Bei der längere Version des "Kobra, übernehmen Sie!" Songs wird der Takt leider von dem 5/4 in einen 4/4 geändert.
    Mission impossible ...
    http://www.youtube.com/watch?v=J4KPa7Au1qg&feature=search

    AntwortenLöschen
  17. Danke für den Link. Allerdings zähle ich bei dieser Version von Mission:Impossible ebenfalls 5/4. Kann es sein, dass du dich vertan hast und stattdessen den hier meintest?
    http://www.youtube.com/watch?v=3YxFU81rq8E&feature=related
    Der kommt tatsächlich stinklangweilig in 4/4 daher.
    Wurscht, ich finde die Mission:Impossible Soundtracks sowieso nur höchst müden Aufguss vom Original, halt gnadenlos vermainstreamt. Kobra ist nun mal eine andere Liga als James Bond ;).

    Beim Googelwühlen habe ich eine Aufnahme mit dem großen alten Lalo Schifrin & BBC Bigband gefunden. Einsam grandios:
    http://www.youtube.com/watch?v=R0wtBQ4KnQ4&feature=artist
    Wunderschönes Solo am Piano mit Lalo. Und ein Sax-Solo, das ans Herz geht.

    Euer Möllemann-Blues ist ja was ganz Feines zum Drangewöhnen - obwohl er nicht die Spur nach Fallschirm klingt ;). Mein Hund Blues schnorchelt auch schon vor Verzückung...

    AntwortenLöschen
  18. Ich muß zugeben, den letzten Post hab ich von der Arbeit geschrieben und da hab ich keinen Lautsprecher.
    .
    Ausserdem versuch ich mich schon seid 10 Jahren an Musik (Mit nem Bass) aber 5 oder 4 /4 .... ich höre Unterschiede, aber bestimmen kann ich sie nicht.

    Nen Mitbewohner (Studio-Typ) hat das mal festgestellt : Früher 5/4. nit Tom C. 4/4

    Mist, brauch Brille zu Korrekturlesen

    Also bei dem Film sollte 4/4 sein ....

    ABER unbenommen, der Cobra Sound ist echt cool

    AntwortenLöschen
  19. Cool :). Ich rackere mich auch mit 5/4 ab, und es gibt einen einfachen Trick rauszuhören, ob 5 oder 4/4 gespielt werden: Mach zu jedem Count einen festen Schritt (mit Gewichtsverlagerung), und wenn du merkst, dass du jeden neuen Takt mit dem jeweils anderen Fuß beginnst, bist du im 5/4 (logisch, weil ungerade).

    Ja und der Tom Cruise, dass der nicht übern Tellerrand von 4/4 rausgucken kann, wundert einen ja auch nicht...;)

    AntwortenLöschen