Mittwoch, 15. Dezember 2010

Untergrund-Poesie



Schwer aktiv ist die Frau Holle,
und mein Fahrrad steht dumm rum.
Trägt ein Kleid aus Schafschurwolle,
ich fahr' U-Bahn, didel dum.

Ist jetzt nicht der alleroriginellste Musenkuss, der mich da ereilt hat, aber was soll man machen - Mann, ist U-Bahnfahren langweilig! Besonders morgens um halb sieben. Steh' ich halt dumm in der U-Bahn rum und warte, dass mir etwas Gereimtes einfällt.

U-Bahn in der Frühe ist ein bisschen wie trostlose Kneipe am späten Abend, wohin sich ausschließlich Solisten verirren, die unbedingt solo bleiben und trübe vor sich hin gucken wollen mit einem Sprich-mich-bloß-nicht-an-Gesicht. Ganz wichtig: Jeder hat seinen festen Stammplatz. Jeden Morgen dieselben Leute auf jeweils demselben Sitz. Ich persönlich bleibe lieber stehen, denn im Sitzen würde ich in diesen überheizten Wagen sofort wieder einschlafen. Aber, ganz wichtig: Auch ich habe meinen festen Stammstehplatz, nämlich dort, wo ich von schräg hinten bei einer Frau mit kurzen auberginefarbenen Stoppelhaaren, die sich Tag für Tag in ihre Zeitung vertieft, mitlesen kann.

Die ganze Zeit habe ich mir eingebildet, dies sehr diskret zu tun; schließlich gibt es viele Leute, die es nicht leiden können, wenn ihnen jemand über die Schulter ins Blatt starrt. Wie man sich täuschen kann. Heute früh saß die Auberginefarbene wieder auf ihrem Stammplatz und las, ich stand an meinem Stammplatz und las mit, und plötzlich, ohne sich umzudrehen, nahm sie den Lokalteil aus ihrer Zeitung raus und reichte ihn mir schweigend über ihre rechte Schulter. Einfach so. Und las ungerührt weiter. Irre. Als ich begeistert ein Dankeschön trompetete, nickte der Stoppelkopf nicht unfreundlich, machte jedoch zugleich eine abwinkende Sprich-mich-bloß-nicht-an-Handbewegung. Auch gut.

Nachdem ich den Lokalteil fertiggelesen hatte, fing ich wieder an, mich zu mopsen und hielt links und rechts Ausschau nach etwas Interessantem. War aber nix. Genau das sind die Situationen, in denen dümmliche Reime produziert werden. Wie ich so vor mich hin reimte und dümmelte, fiel mir auf einmal auf, dass in der U-Bahn unglaublich viele Menschen fortgeschrittenen Alters saßen. Mit fortgeschritten meine ich jetzt: ziemlich weit fortgeschrittenes Rentenalter. Komisch, dachte ich. Was machen die ganzen Rentner so früh in der U-Bahn? Wo doch noch kein einziger Supermarkt geöffnet hat? Ich wunderte mich und dümmelte weiter.

Erst als ich merkte, dass sich auf 'Rentner' beim besten Willen kein Reim finden ließ außer vielleicht 'Zentner', erfasste mich ein Gefühl der Beschämung ob meines eigenen dümmlichen Klischeedenkens. Weil, egal wie alt jemand ist - wohin fährt er oder sie um halb sieben in der Frühe? Natürlich zur Arbeit, wohin sonst. Als ich zur nächsten U-Bahn umstieg, stand hinter mir auf der Rolltreppe einer dieser älteren Mitfahrer und begrüßte gerade einen anderen älteren Kumpel. Ich hörte den beiden kurz zu.

"Feierabend?", fragte der eine.
"Endlich", seufzte der andere.
"Hast du's gut", erwiderte der erste.
"Sei froh, dass du keine Nachtschicht hast", entgegnete der zweite.
"Man ist froh, dass man überhaupt was hat", antwortete der erste.
Ich drehte mich auf der Rolltreppe um und fragte, was sie arbeiteten.
"Pförtner", sagten beide wie aus einem Munde, sahen einander an und mussten lachen.
"Nachtschicht", sagte der zweite.
"Gestatten, Frühschicht", grinste schief der erste.

Beide schauten mich freundlich an. Müde, aber freundlich. Keine Spur von Sprich-mich-bloß-nicht-an-Gesichter. Wie man sich doch täuschen kann.

5 Kommentare:

  1. Das ist ja wunderschön. Danke für die Lesefreude, die Sie hier bei mir erzeugen. Das ist wunder-wunderschön.

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  2. wirklich schön. schade, daß man solche begegnungen nicht wirklich gezielt herbeiführen kann ;)... warum fährst du denn jetzt so früh mit der bahn? bzw. später als sonst zur arbeit? [das war doch eigentlich immer so 6 uhr, ne?]

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  3. Ich habe vor einiger Zeit eine Art Gleitzeitmodell durchgesetzt, d.h. Arbeitsbeginn zwischen 6 und 7 Uhr. Läuft beim derzeitigen Wetter auf 7 Uhr raus. Und das auch nur, wenn der Bus, der mich zur U-Bahn bringt, nicht im Schnee stecken bleibt ;).

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  4. ah :). an das gleitzeit-dings erinner[t]e ich mich ja, aber die bahn kam da bisher noch nicht vor ;). schönes WE!

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