Dienstag, 21. Dezember 2010

Knochenarbeit


Seit heute früh beschäftigt mich das Thema Ambivalenzen. Oder besser: das Ertragen von Ambivalenzen.

Meine Güte, ist das schwer, Ambivalenzen zu ertragen. Will heißen, einer Sache oder einem Menschen aus vollem Herzen zuzustimmen und im nächsten Augenblick völlig über Kreuz mit ihm zu liegen; ihm trotzdem weiter zuzuhören, ohne ihn zu verdammen; nicht wegzulaufen, sondern im Dableiben den angemessenen Abstand zu finden; und bei allem kritischen Abstand ein kritisches Gefühl dafür zu bewahren, wann aus der eigenen Kritik eine Abwehrhaltung wird. Verdammt schwer finde ich das.

Fast bin ich versucht, dies eine intellektuelle Knochenarbeit zu nennen. Schuld daran ist ein Buch mit dem Titel Knochenarbeit von Frank Hertel. Dabei habe ich das Buch noch nicht mal gelesen. Ich bin nur einfach heute früh über eine Besprechung dieses Buches gestolpert (via Perlentaucher), und seither haben das Werk und sein Autor mich nicht mehr losgelassen. Er, der Autor, nennt sein Buch im Untertitel einen Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft, was mir zunächst alle Haare einzeln aufstellte, weil mir solche reißerischen Metaphern (Frontbericht? Kriegsheimkehrer, oder was?) zum Zwecke der Verkaufsförderung suspekt sind.

Aber egal, nachdem der Rezensent das Buch einführte mit den Worten:
Frank Hertel hat schon als Winzerhelfer, Leiharbeiter, Volontär, Christbaumverkäufer, Möbelpacker, Literaturkritiker und Regalauffüller gearbeitet. Nun versucht er sich als Buchautor und verteidigt in Knochenarbeit körperlich anstrengende Erwerbsarbeit.
- war es um mich geschehen; ich wollte mehr wissen, lesen, hören. Weil besagte Rezension meinen Wissensdurst unbefriedigt ließ, stöberte ich mich querbeet durch alle möglichen Quellen und hörte irgendwann die Stimme des Autoren im O-Ton (im Rahmen eines Rundfunkinterviews) folgendes sagen:
"Wenn ich jetzt Kulturberichte im Radio höre und das Feuilleton der Süddeutschen lese, denke ich mir oft, wie klein, unbedeutend und ahnungslos das alles doch ist, obwohl es mir vorher viel bedeutete. Die Probleme der Mittelschicht und des Bildungsbürgertums kommen mir farblos und erfunden vor. Die Beziehungskisten der Spass- und Singlegesellschaft erscheinen mir wie eingebildete Kinderkrankheiten, gegen die nur ein hartes Wort hilft. Die Mittelschicht, zu der ich gehöre, kommt mir infantil und unreif vor."
Beim Zuhören wurde mir Satz für Satz irgendwie so déjà-vu-mäßig zumute. Hoppla, dachte ich, ein Bruder im Geiste, vielmehr im Leibe, oder vielmehr in den Knochen, wie man's nimmt. Als studierter, wenn auch arbeitsloser Soziologe, der Hertel ist, rechnet er sich der Mittelschicht zu; zumindest hinsichtlich seines Bildungsstandes - ganz gewiss jedoch nicht hinsichtlich seiner Tätigkeit am Fließband in einer Brotfabrik für acht Euro zehn die Stunde. Ich kann seine Gefühle der Entfremdung gegenüber gewissen Mittelschichtsphänomenen nachvollziehen.

Irgendwie unsympathisch war mir dagegen die Sache mit dem "harten Wort". Hart schlucken musste ich auch bei der Bemerkung, man könne da unten ("Da unten ist nicht die Hölle!") durchaus glücklicher sein als jemand, der vom Staat fürs Zuhausehocken bezahlt werde. Hertel neigt zu negativen Stereotypen von Sozialgeldempfängern, findet dieses Pauschalisieren selber falsch und relativiert, tut es aber im gleichen Atemzug trotzdem. Das ist zum Teil haarsträubend und zieht mir beim Hören/Lesen die Socken aus, ist mir andererseits jedoch wohlvertraut aus Kurzgesprächen mit anderen Malochern aus dem gastronomischen Umfeld. Diese feindselige Denke ist "da unten" weitverbreitet, und es ist ihr - zumindest meiner Erfahrung nach - mit Argumenten so gut wie nicht beizukommen. Womit dann? Ich weiß es nicht.

Später landete ich bei einem weiteren Rezensenten, dem Chefenthüller und proletarisierten Intellektuellen vom Dienst Günter Wallraff, der dem unbekannten Newcomer Hertel die Leviten liest, weil letzterem bei seinem Erlebnisbericht das große strukturelle Ganze des kapitalistischen Systems aus dem Blick gerutscht sei, wobei es Wallraff aus dem Blick gerutscht zu sein scheint, dass Hertel nicht aus journalistischem Enthüllungsethos im Prekariat unterwegs war, sondern aus schnödem Geldmangel. Platzhirsch, alter.

Sympathisch wiederum, dass Wallraff für seinen Wegbeißreflex hier die Leviten gelesen bekommt:
"...das alte Frontschwein der gesellschaftskritischen Sozialreportage, Günter Wallraff ... hielt dem Autoren (Hertel) vor, die Strukturen hinter den Arbeitsbedingungen nicht ergründet zu haben. Dabei sollten wir doch alle wissen, wie das funktioniert mit den Strukturen: zuerst ergründen, dann entlarven, dann kassieren und zur nächsten lukrativen Baustelle für sozialromantische Mohrenköpfe weiterziehen. (Wir erinnern uns, im letzten Jahr hatte Wallraff sich schwarz anmalen lassen, um zwecks Ergründung des real existierenden Rassismus durch Deutschland zu wandern.)"
Sympathisch, wie gesagt.

Irgendwie mulmig wurde mir dann wieder, als ich Frank Hertel in einem weiteren Radiointerview zum Thema 'Herren und Knechte' zuhörte. Mulmig deshalb, weil seine Rede alles andere als ressentimentfrei daherkommt; andererseits aber auch wieder unmulmig, weil, ja, warum? Wohl weil ich selbst nicht frei von Ressentiments bin (und sei es nur, weil ich zur Zeit erkältet bin, darum nicht zur Arbeit gehe und darum kein Geld verdiene):
"Ich sehe im Fernsehen die Gewerkschaftsdemonstrationen, und da seh' ich praktisch die normalen deutschen Arbeiter mit ihren Fähnchen demonstrieren, und die kamen mir alle so wohlgenährt und gesund vor im Vergleich zu den Leuten, mit denen ich in meiner Fabrik gearbeitet hab'. Und ich seh' da praktisch 'nen Unterschied zwischen den prekär Beschäftigten, die diese ungesicherten Arbeiten machen - das sind für mich die Knechte.
Und dann seh' ich irgendwie die Leute, die praktisch Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Betriebskindergarten und eben in so gesicherten Positionen sind - und das sind für mich Herren...aber die Begrifflichkeit ist natürlich vielleicht ein bisschen altmodisch."
Man kann das alles zerpflücken und zerfetzen und nach Strich und Faden auseinandernehmen, um es sodann in die Tonne fürs ideologisch Schwererträgliche zu treten. Man kann aber auch einfach dieser Stimme von Frank Hertel zuhören, einer rauhen, medial ungeschliffenen Stimme mit rauhem fränkischem Dialekt und einer schleppenden, mitunter fast stammelnden, gelegentlich schweratmenden Redeweise.

An dieser Stimme und an dem, was sie sagt, kann - wer das aushält - sich stundenlang reiben. Das meine ich mit Ambivalenz.

6 Kommentare:

  1. Nermbercher Diddlasbadscher21. Dezember 2010 um 20:43

    Allmächd !

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  2. Naja, er mag ja studiert haben, ein Simpel ist er trotzdem. Gegen die unter ihm (Transfer-Empfänger) und gegen die über ihm (sozialversicherungspflichtig versicherte) und verrichtet so sein Spaltungswerk. Eigentlich sitzen alle im selben Boot, glauben aber trotzdem, sie nähmen an einer Regatta teil. Unsagbar blöde, aber so alt wie die Menschheit. Divide et impera.

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  3. ach Hertel, was weisst denn du von Arbeit, von Arbeit weisst du nichts...

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  4. Über dieses Buch habe ich vor einiger Zeit eine Rezension bei Telepolis gelesen und fand es nur haarsträubend, was man da an Kostproben aus Hertels Machwerk geliefert bekam. Hier der Link zum Artikel: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33302/1.html

    An sowas könnte ich mich jedenfalls nicht stundenlang reiben. Auch wenn er noch so ambivalent die eine oder andere Wahrheit über harte Arbeit ausspricht, adelt es ihn nicht, wenn er anschließend rhetorisch ins Klo greift und rumheult nach dem Motto: "Eigentlich gehöre ich zur Mittelschicht und könnte auch links sein, wenn die Maloche nicht wäre. Die Schwachen müssen halt dienen, aber immer noch besser als Hartz-IV."

    Offenbar bewahrt auch ein Soziologiestudium nicht vor dem Abgleiten in dumpfen Sozialdarwinismus. Komisch, wo es doch gerade in der Soziologie so sehr darauf ankommt, alles möglichst emotional distanziert und sachlich zu beschreiben.

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  5. Hallo Mrs. Mob,

    schöner Artikel, vielen Dank.

    Frank Hertel

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