Mittwoch, 8. September 2010

Betonlaufmaschen


Manchmal wird während der Kaffeepause kein Wort gesprochen. Stattdessen schauen Frau Übermop und Mrs. Mop beide mit offenen Mündern zum Fenster hinaus und können nicht fassen, was sie dort beobachten. Nach einer Weile schauen sie sich gegenseitig mit großen Augen an und fragen sich wie aus einem offenen Munde: "Verstehst du das?", und dann sagen beide gleichzeitig: "Nein." Dann schauen sie weiter zum Fenster hinaus und können nicht fassen, was sich dort abspielt.

Das war gestern so und heute schon wieder. Draußen spielte sich folgendes ab:

Das Restaurant liegt ja inmitten einer neugeschaffenen urbanen Idylle. Viel Freifläche zum Flanieren und beschaulichen Sitzen; ein großer, nach modernsten Gesichtspunkten konzipierter Kinderspielplatz; mit einem Verkehr, der dermaßen beruhigt worden ist, dass man, auf einem der vielen naturbastfarbenen Betonklötzern sitzend, fast einen Herzkasper bekommt, wenn irgendwo ein Auto hupt. Um diese Betonklötzer geht es.


Das Foto ist von letztem Sommer. Inzwischen ist alles Knallbunte entfernt; es stehen nur noch einheitliche naturbastfarbene Betonklötzer mit Naturholz-Sitzauflage herum wie der linke Klotz, auf dem eine Frau sitzt. Selbstredend gehört auch die hässliche weiße Markierung der Vergangenheit an; heute ist alles in gesprenkeltem rotem oder grauen Sandstein gehalten, sehr angenehm fürs Auge. Zwar hatten die hässlichen Streifen eine nicht unwichtige Funktion, nämlich auf das Parkverbot hinzuweisen - aber den Stadtteilgestaltern waren sie ein ästhetischer Dorn im Auge. Irgendwie, dachten sie, würden es die Autofahrer auch ohne Streifen schon merken, dass es hier keine Parkplätze zu ergattern gab: Schließlich würden sie ja sehen, dass überall Betonklötzer zum Sitzen stünden, woraus selbst der dümmste, parkplatz-obsessivste Autofahrer schließen müsste, dass hier kein Abstellplatz für dumme Autos sein könne, sondern eine sogenannte "öffentliche Spiel- und Begegnungsstätte".

Nun hat das schon einen gewissen Charme, diese angedachte doppelte Funktionalität der Betonklötzer (a. drauf sitzen und b. sich freuen, dass die Parkplatzsucher sich ärgern). Doch alles Angedachte muss sich dem Härtetest der Praxis aussetzen, und in den Niederungen des Alltags hat schon manche Theorie alt und grau ausgesehen. Oder beigefarben, wie im vorliegenden Fall.
Und damit zur bizarren Szene des gestrigen und heutigen Tages.

Ein LKW mit integrierter Baggerschaufel und großer Ladefläche steht am Rande der Begegnungsstätte und lädt im Zeitlupentempo - die Dinger sind sauschwer - beigefarbene Betonklötzer von der Straße auf die Ladefläche, fährt langsam ein paar Meter, hält an, lädt an anderer Stelle Betonklötzer ab, jedoch nicht alle (manche bleiben auf der Ladefläche stehen), lädt dort wieder (andere) Betonklötzer auf, fährt ein paar Meter, lädt sie wieder ab. Jeder Betonklotz wird von zwei Männern eingehend begutachtet, bevor sie entscheiden, ob er stehen bleiben oder umplaziert werden soll. Jede Neuplazierung wird akribisch abgemessen.

Die monströse Baggerschaufelzangenkonstruktion machte einen Höllenlärm inmitten der beruhigten Begegnungsstätte, und das schon seit über einer Stunde. "Man wundert sich über nichts mehr", hatte gestern Frau Übermop den mysteriösen Betonklotz-Transfer kommentiert, und heute, wo sich der Spuk wiederholte, hat sie sich nur noch gewundert. Mich hielt die Neugierde nicht mehr am Ort; ich trabte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wollte von den Kerlen wissen, was da los sei, und bekam die Antwort: "Wir sollen illegale Parkplätze verhindern", weshalb sie, die Kerle, den Auftrag hätten, die Klötzer an die entsprechenden No-Go-Areas zu verfrachten.

Mir blieb der Mund schon wieder offen stehen. Seit anderthalb Stunden fand hier eine städtische Parkverhinderungsmaßnahme statt unter Einsatz aller erdenklicher Ressourcen - menschliche Arbeit, Baustellen-Spezialfahrzeug, Motorenenergie, und Zeit, viel, viel Zeit. Um Betonklötzer von hier nach dort zu schleppen. Anstatt einfach ein paar Parkverbotsschilder aufzustellen. Nein, sagte der eine Kerl, Parkverbotsschilder würden das Ambiente verschandeln, jetzt, wo doch der ganze Stadtteil so fein herausgeputzt sei. Gegrinst hat er dabei wie der Satan persönlich. Aber gesagt hat er es ganz anerkennend.

"Der da drüben," sagte der andere Kerl und deutete auf einen silbergrauen BMW, illegal auf einer sogenannten Gehwegnase parkend, "der darf das nicht. Dort müssen wir jetzt zwei von den Betonelementen plazieren. Damit klar ist, dass das kein Parkplatz ist." Wobei es bis dato immer noch der BMW war, der sich dort plaziert hatte, aber egal. Ich fand das Ganze recht betonmäßig, so von der Idee, und meinte mich zu erinnern, gestern auf just jener ominösen Gehwegnase zwei beigefarbene Klötzer gesehen zu haben. Beide Kerle lachten verschwörerisch. "Das ist es ja. Wir haben außerdem den Auftrag, alle Betonelemente auf Schäden zu prüfen und die defekten zur Untersuchung abzutransportieren."

Den logischen Zwischenschritt zu vollziehen überließen sie mir: Wieso stehen zwei sauschwere Betonklötzer heute morgen nicht mehr an der Stelle, wo sie gestern noch gestanden hatten? Weil sie jemand mit Gewalt entfernt haben muss, vermutlich in der tiefen Nacht, wenn der Parkplatzmangel am schmerzlichsten ist und der Mensch - der motorisierte zumal - zum Schatten seiner selbst werden kann.

Ich stellte mir nächtliche Klötzer-Räumkommandos vor, verzweiflungsgetriebene, zu allem fähig, zu allem willens, Sinn und Zweck der Begegnungsstätte ad absurdum führend. Weil die Jungs mit dem Rücken zu dem BMW standen, konnten sie nicht sehen, dass der Silbergraue sich in dem Moment dezent rückwärts über den Bürgersteig davonschlich. Ich sah es mit offenem Mund. Weil die Jungs meinen offenen Mund sahen, drehten sie sich um und blickten auf eine leere Gehwegnase.

"Hui", lachte der eine Kerl, "da hat einer Lunte gerochen - dem seine Stoßstange hätte ich mir gern mal aus der Nähe angeschaut". Der zweite ergänzte: "Von so was gehen natürlich die Ecken der Betonelemente kaputt, und man kann den Leuten ja keine kaputten Sitzgelegenheiten zumuten", und anscheinend stand mein Mund schon wieder offen, denn der Satanskerl erklärte freundlich: "Manche Damen bekommen davon Laufmaschen an ihren teuren schwarzen Strümpfen", wobei er satansmäßig an meiner fleckigen Jeans herabschaute, "und das könnte Ärger geben. Den sollen wir verhindern."


Dieses Foto ist von März 2010. Der Mann saß allein auf der Bank mit einer Packung Knäckebrot und führte laute Selbstgespräche. Von weitem hatte es so ausgesehen, als hielte der Mann all den beigefarbenen Betonklötzern eine Standpauke. Ich erinnere mich noch gut, als ich mit dem Flaschenboy geräuschvoll an ihm vorbeigerumpelt kam, da hatte er mir einen unwirschen Blick zugeworfen, war aber gleich wieder bei seiner Sache gewesen.

Ich glaube, der Mann hat das mit der Spiel- und Begegnungsstätte gut verstanden. Ich nicht.

2 Kommentare:

  1. Ich liebe Ihren Blog!
    So intensiv und hautnah habe ich (bitweise) "mein Gegenüber" noch nie erlebt.
    Wie geht's dem Blues? :-)

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  2. Danke, das freut mich sehr.

    Dem Blues geht es zur Zeit sehr gut (Tiefschlaf!), nur mir nicht - ich niese mich halbtot.

    Falls Sie sich mal wieder zu Wort melden: Wie wäre es, wenn Sie sich ein nettes kleines Pseudonym zulegen? Dann würde ich Sie 'wiedererkennen' und mich noch mehr freuen ;).

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