Donnerstag, 29. September 2011

Occupy what?


Es ist immer wieder interessant zu verfolgen, nach welchem Schema die Medien auf Protestbewegungen reagieren. Am aktuellen Beispiel #occupywallstreet lässt sich das gut aufzeigen:

In den ersten Tagen wurde der Protest einfach totgeschwiegen. Er existierte nicht - selbst in 'lokalen' Tageszeitungen wie der New York Times, vor deren Haustür praktisch der Protest stattfand.

Als sich nach ein paar Tagen herausstellte, dass die Wallstreet-Besetzer von zähem Naturell sind und keinerlei Anzeichen der Protestermüdung zeigten (heute sind sie bereits seit zwölf Tagen dabei), kam allmählich, wenn auch schwerfällig, die Berichterstattung der großen Medien-Tanker ins Rollen; wobei 'Berichterstattung' ein großes Wort ist für das, was berichtet wurde: Beißender Hohn und Spott ergoss sich über die paar Hundert, überwiegend junger Indignados in Downtown Manhattan.

Speziell Medien mit linksliberalem Aushängeschild und 'aufklärerischem' Anspruch übertrumpften sich gegenseitig in abfällig naserümpfenden Reportagen über das, was sich auf Wall Street abspielte: eine Freakshow durchgeknallter, unreifer Hippies - mehr nicht. Keinesfalls ernstzunehmen. Während die konservativen und eher rechtsgerichteten Medien - erwartbar - in hassgetränkter Ungeziefer-Rhetorik schwelgten, machte die andere Seite sich einen Sport daraus, die Protestbewegung auf zynische Karikaturen (in Text und Bild) zu verstümmeln und sich kollektiv darüber lustig zu machen.

Seit ein paar Tagen hat sich das Blatt der Berichterstattung erneut gewendet. Nachdem es zu schweren Übergriffen der New Yorker Polizei gegenüber den Demonstranten gekommen war, wird jetzt berichtet, was das Zeug hält. Worüber? Über die Übergriffe der Polizei. Because violence sells - Gewalt verkauft sich gut.


Was der linksliberale Fernsehsender MSBNC hier zeigt, ist eine ausgezeichnete Zusammenfassung der jüngsten, auf Video dokumentierten Ausschreitungen der Polizei. Einerseits.

Andererseits fällt in den knapp zehn Minuten Sendezeit kein einziges Wort über das, worum es bei #occupywallstreet tatsächlich geht:
kein Wort über den hohen Grad an Selbstorganisation;
kein Wort über die aus der Not (Verbot von Megaphonen und Mikrofonen) geborenen Kommunikationstechniken (Chanting);
kein Wort über die täglich stattfindenden General Assemblies, wo politische Forderungen und Strategien diskutiert werden;
kein Wort über die zähe Ausdauer der Protestierenden, die unter widrigen Umständen (Verbot von Zelten, Schlafsäcken, Regenplanen und -schirmen) ihre Kritik artikulieren an dem, was "eigentlich" alle kritisieren, aber eben nicht artikulieren: die Kritik und der Überdruss an einem korrupten System.

Gestern nun ist die New York Times in eine neue Phase der Protest-Berichterstattung getreten: Da sich ja nicht länger leugnen lässt, dass rund um den Globus Bewegungen entstehen, die für mehr Demokratie, mehr Transparenz und gegen Korruption kämpfen, widmet sich die Zeitung ausführlich den Protesten in Griechenland, Spanien, Ägypten, Indien, Israel und anderen Ländern. Offenbar sind der NYT die Berichte, die über die Auslandsredaktionen hereinkommen, relevanter als das, was im eigenen Hinterhof passiert: kein Wort über #occupywallstreet.

Vielleicht kommt ja demnächst etwas Handfestes im Wall Street Journal.


14 Kommentare:

  1. Wenigstens auf den üblichen Verdächtigen kann man sich verlassen: Keith Olbermann and Sam Seder Discuss ...

    Grüße

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  2. Sehr guter Kommentar.

    „The reason why they (NPR) were not covering it: there was no major disruption.“ Auf den Punkt gebracht. Medien erzählen die Story, die sich am besten verkauft.

    Ist aber auch nur die halbe Wahrheit. Weil andererseits - wieso sollte die Story „Ein Haufen verschrobener Borderline-psychotischer Kids machen Wallstreet unsicher“ (O-Ton NYT) besser verkäuflich sein als z.B. die (ungeschriebene) Story „Auf Wallstreet protestieren Amerikaner, die alles verloren haben“?

    Schon klar, ist rein rhetorisch gefragt. Eine Menge ertragreicher Anzeigenplatz steht auf dem Spiel. Die Werbekunden aus der Finanzwirtschaft könnten ihr Geld ja woanders hintragen.

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  3. Irgend etwas ist da grade am Kippen in Amerika, glaube ich. Die Stimmung im öffentlichen Raum. Plötzlich solidarisieren sich Leute z.B. aus den Medien öffentlich und in Editorials mit #occupywallstreet (und zwar keine sogenannten Celebrities wie Michael Moore und Susan Sarandon). Auch solche Leute, die vor einer Woche noch kräftig am Lästern waren.

    Unbestätigten Berichten zufolge sollen etwa 100 NYPD Polizisten sich geweigert haben, zum Dienst anzutreten, und haben ihrer Solidarität mit den Protestierenden Ausdruck verliehen.

    Irgendwas bewegt sich da. Sehr spannend zu verfolgen.

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  4. Seit Jahren erscheinen bei denen Bücher gegen die fed, gegen Bohemian Grove und dort angeblich auch von Präsidenten besuchte satanische Rituale und gegen die new world order. Insofern zahlt sich die Unnachgiebigkeit der Verschwörungstheoretiker gepaart mit den aktuellen Berichten über Brutalität gegen 'Weiße' aus.
    Im youtube finden sich Berichte über bereits in mehreren Staaten eingerichtete Konzentrationslager für die Abweichler. Wie viele Millionen bekommen doch gleich noch mal Essensmarken?
    Es wäre schön, wenn ein paar hundert Leute nun das Fass zum überlaufen und die unbequeme Wahrheit, daß der Kapitalismus nicht alle glücklich macht, an den Tag zu bringen helfen würden.
    Ich wage es aber nicht, so viel Hoffnung aufzubringen.

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  5. Nanu, der R@iner im Hoffnungslosenmodus? Warst Du gegenüber 15-M in Spanien anfangs auch so skeptisch, als das bloß ein paar hundert waren?

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  6. Die Menschen, vor allem die us-Amerikaner haben in meinen Augen ein sehr hohes Angstniveau. Die Verstrickung in unzählige kriegerische Konflikte und die irrwitzigen Rüstungsausgaben singen genauso ein Lied davon, wie die Anzahl der Geheimdienste und die seit Jahren durchgeführten Paßkontrollen durch Soldaten in den Städten. In Deutschland sehe ich auch die große Angst vor jeglicher Veränderung, mit deren Hilfe wir drangsaliert werden.
    Die Spanier haben mehr Leute, die nix mehr zu verlieren haben oder es noch garnicht zu etwas gebracht haben. Dank der Intelligenz vieler dort konnten sie das kanalisieren.
    Wie steht es aber um die Bildung in den usa? Geschätzte 25% sind evangelikale Kreationisten und stopfen ihre Kids in religiöse Camps, in denen sie die Scheisse per Trichter in die Köpfe gedrückt bekommen.
    Ich habe einfach Bedenken...

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  7. Achso, der nächste Unschuldige steht übrigens auf der Todesliste der Henker in Missouri: Reggie Clemons

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  8. "Die Spanier haben mehr Leute, die nix mehr zu verlieren haben oder es noch garnicht zu etwas gebracht haben."

    Na, genau das ist die Zielgruppe bei #occupywallstreet. Jung und bereits alles verloren, bevor sie richtig angefangen haben zu leben. Die Jugendarbeitslosigkeit in Amerika ist, glaube ich, irgendwo um die 25 bis 30 Prozent, in Spanien 40 Prozent. Kein so großer Unterschied.

    Und das mit den Evangelikalen - mein Gott, und der mächtige katholische Klerus in Spanien? Beides unheilvolle Systeme und Ideologien, beides Gründe zum Aufbegehren.

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  9. "Achso, der nächste Unschuldige steht übrigens auf der Todesliste der Henker in Missouri: Reggie Clemons."

    Mhm. Am Tag nach der Ermordung von Troy Davis haben sich Demonstranten gegen die Todesstrafe und die Demonstranten von #occupywallstreet am Union Square getroffen, sich solidarisiert, und seit diesem Zeitpunkt nimmt die Bewegung #occupywallstreet an Fahrt auf.

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  10. Hey, bei flatter rufe ich immer zur Hoffnung auf, auch wenn mir manchmal nicht danach ist. Du mußt mich nicht überzeugen, schaue ich doch wie Du auf die Orte, wo Veränderungen im Positiven stattfinden.
    Das Jahr 2011 war aber auch für eine empfindsame Seele wie mich bisher ein knüppelhartes. In Ägypten ist noch nix geregelt, Fukushima hat mich geschockt und paralysiert, im Jemen schießen sie immer noch auf die Leute, keiner will Syrien sanktionieren, Deutschland verkauft Panzer an Saudi Arabien.
    Ich möchte mal laut Scheisse schreien. Was mache ich aber? Ich rede seit Jahren mit den Mitmenschen und frage, ob es nicht netter wäre, wenn wir alle etwas freundlicher und offener zueinander wären.

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  11. Jessas! Aber das muss sich doch keinesfalls ausschließen - a. mal laut Scheiße zu schreien und b. zu den Mitmenschen etwas freundlicher und offener zu sein. Im Gegenteil, ich finde, das eine funktioniert zusammen mit dem anderen umso besser. Hat ja keiner gesagt, dass alle mit allen in Harmonie schwelgen sollten. Ich würde sofort auswandern :).

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  12. Für alle Bedenkenträger: Keith Olberman hat sich erneut zu Wort gemeldet mit dem Thema "Wall Street Protests are about to get much bigger".

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  13. Jetzt hat sogar die Blöd-Zeitung das Thema aufgenommen, die deutschen Leser werden staunen (und nichts verstehen):

    http://www.bild.de/politik/ausland/us-krise/new-yorker-buergermeister-warnt-vor-strassenschlachten-20013662.bild.html

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