Samstag, 10. September 2011

Empörung do Brasil



Völlig überraschend und ohne die geringste Vorwarnung ist ein weiteres Land von einem international grassierenden, nur schwer heilbaren Bakterienstamm infiziert worden: Brasilien! Wer hätte das gedacht? Womit keiner gerechnet hatte: Auf den Straßen Brasiliens toben die Indignados.

Am 7. September, dem Unabhängigkeitstag Brasiliens, zogen allein in Sao Paolo zeitgleich fünf Demonstrationszüge durch die riesige Stadt; in der Hauptstadt Brasilia waren 25.000 Protestierende auf den Beinen. Über die ganze Woche gab es in 35 Städten des Landes entsprechende Veranstaltungen. In Rio de Janeiro wird für den 20. September zu einer Großdemonstration aufgerufen; sie soll an der Plaza de Cinelandia stattfinden, einem historischen Ort ziviler Protestbewegungen.

(Nur am Rande: An jener Plaza de Cinelandia hatte der amerikanische Präsident Obama, anlässlich seines Brasilienbesuches im März 2011, eine historische öffentliche Rede halten wollen, aus der jedoch nichts wurde, weil es im Vorfeld zu Protestveranstaltungen gekommen war wegen Obamas Kriegseinsatz in Libyen; worauf Obama sein geplantes Bad in der Menge gefährdet sah und es vorzog, die Rede hinter verschlossenen Türen zu halten. Nichts peinlicher als die weltweite TV-Übertragung einer Lichtgestalt am Rednerpult, wo statt jubelnder Massen plötzlich schimpfende Demonstranten in die Optik geraten.)

Zentraler Angriffspunkt der Protestbewegung ist die politische Korruption in Brasilien sowie die in korrupten politischen Systemen übliche Straffreiheit für käufliche Politiker. Folgerichtig lautet einer der Protestslogans "El lugar de los políticos corruptos es la carcél" (korrupte Politiker gehören in den Knast).


Die Organisatoren betonen, unabhängig von allen Parteien und Organisationen zu kämpfen und sich explizit an der Bewegung 15M in Spanien zu orientieren. Teilnehmer an den Demonstrationen werden aufgefordert, sich die Gesichter schwarz zu bemalen und stilisierte Trauerkleidung zu tragen, um der Demütigung und Beschämung Ausdruck zu verleihen, die gegenüber einer korrupten politischen Klasse empfunden wird.

Die spanische Tageszeitung El Pais berichtet darüber. Der Autor bringt sein Erstaunen über "die unvorhersehbar große Zahl an Demonstranten" zum Ausdruck und schließt mit den Worten: "...obwohl - wie die politischen Analytiker hervorheben - was wirklich letzten Endes zählt, ist, dass endlich Feuer gefangen wurde (el fuego ya ha prendido)." Ein schöner Schlussatz.

Interessanterweise war es derselbe Autor in El Pais, der vor exakt zwei Monaten mit großem Erstaunen in derselben Zeitung die Frage stellte: "Warum gibt es in Brasilien keine Indignados? (Por qué Brasil no tiene indignados?)", und weiter: "Nicht wenige politische Analytiker und Politblogger fragen sich dies." Sinnigerweise war jener Artikel eingebettet in die Rubrik 'Politische Analyse'. Damals war der Autor aus dem Befremden nicht herausgekommen, wieso die Bevölkerung eines derart flächendeckend korrupten Landes "nichts als Apathie" an den Tag lege und "nicht die geringste Reaktion des Protestes" zeige. Der politische Analytiker hatte seinerzeit eine erstaunte Frage nach der anderen abgefeuert:

"Warum erwachen die Leute auf der Straße nicht aus ihrem Todesschlaf?"

"Warum nehmen sie sich nicht ein Beispiel an der Bewegung der Indignados?"

"Warum mobilisieren sie sich nicht über die sozialen Netzwerke?"

"Warum bleibt dieses Land stumm angesichts allgegenwärtiger Korruption?"

"Sollten jene recht haben, die behaupten, die Brasilianer seien nun mal ein friedliebendes Volk und habe nichts mit Protesten am Hut, ein Volk, das in Zufriedenheit leben möchte und arbeitet, um zu leben, und lebt, um zu arbeiten?"
In anderen Worten: Erst war der Autor erstaunt, dass sich nichts bewegt, und jetzt ist er erstaunt, dass sich etwas bewegt. Vermutlich gehört das Erstaunen zum Job einen politischen Analytikers.

Ist aber letzten Endes wurscht. Weil, was wirklich zählt, ist, dass endlich Feuer gefangen wurde. Auch wenn keiner damit gerechnet hatte. So ganz ohne Vorwarnung und zur allseitigen Überraschung. Die einen kämpfen, die anderen staunen. Muss wohl so sein.
Viva Brasil!



(Bildquelle: Daniela Barbosa, exame.abril)

1 Kommentar:

  1. Brasilien 07. 09. 2011
    "Schrei der Ausgeschlossenen", Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung.

    Zum 17. Mal wurde gestern in Brasilien mit einer außerordentlich hohen Beteiligung der Grito des los Excluidos (Schrei der Ausgeschlossenen) begangen. Unter dem Motto “Schrei der Erde nach Leben…Rechte für uns alle“ gingen zahlreiche Menschen in den meisten Bundesstaaten des Landes auf die Straßen. Seit vielen Jahren wird der symbolträchtige Tag des Unterschreibens der brasilianischen Unabhängigkeitserklärung von sozialen Bewegungen genutzt, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. „Dieser Tag hat sich für benachteiligte Menschen zu einer Gelegenheit entwickelt, ihre Stimme zu erheben“, so der Koordinator nationalen der Aktion Luis Bassegio.

    Zahlreiche Themen standen auf der Agenda der Protestierenden. Sie demonstrierten unter anderem gegen die hohen Energiepreise, für eine Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Gestaltung der Fußballweltmeisterschaft 2014, gegen die hohe Arbeitslosigkeit, für die Rechte der Frauen und Indigenen sowie für das Recht auf würdiges Wohnen. Außerdem waren die ungerechte Einkommensverteilung und die schlechten Lebensbedingungen für viele Brasilianer ein großes Thema der Demonstrationen.

    „Der Mindestlohn von 545 Reais (etwa 234 Euro) besitzt heute halb so viel Kaufkraft wie bei seiner Einführung 1940“, so der Berater vieler sozialer Bewegungen und Ordensmnn Frei Betto im Vorfeld des Aktionstages. Auch das Nationale Statistikinstitut habe errechnet, dass eine vierköpfige Familie mindesten 2.149 Reais (etwa 923 Euro) im Monat zur Verfügung haben müsste, um über die Runden zu kommen. Betto betonte, dass die Sozialpolitik der Regierung zwar sehr wichtig sei, aber lange nicht ausreichen, um den Bedürftigen des Landes genügend Hilfe zukommen zu lassen. In Brasilien leben nach wie vor 16 Millionen Menschen in extremer Armut. (aj)
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    Ein Beispiel für die Politik der Regierung:
    - (spon)-

    Präsidentin Dilma Rousseff ist vor der mächtigen Agrarlobby eingeknickt. Die Regierung will in dieser Woche ein neues Waldgesetz zur Abstimmung vorlegen, das einen Freibrief für den Raubbau am Amazonasgebiet darstellt. Als Gegenleistung könnten die der Farmerlobby zugeneigten Abgeordneten verhindern, dass Rousseffs mächtigster Minister, Kabinettschef Antonio Palocci, im Parlament aussagen muss. Sein Vermögen hat sich seit 2006 auf umgerechnet 3,3 Millionen Euro verzwanzigfacht. Der Politiker behauptet, er habe das Geld mit Immobiliengeschäften verdient. Der Entwurf des neuen Waldgesetzes sieht eine Amnestie für Landbesitzer vor, die illegal den Urwald gerodet haben. Diese Klausel war auf Druck der Agrarlobby eingefügt worden, die Regierung lehnte sie bislang ab. Die Abholzung des Regenwalds hat im vergangenen Jahr dramatisch zugenommen, obwohl sich das Land als globaler Vorreiter im Klimaschutz geriert. Allein im Bundesstaat Mato Grosso, dem wichtigsten Soja-Anbaugebiet, wurden im März und April mehr als sechsmal so viele Bäume abgeholzt wie im Jahr zuvor. Viele Farmer roden in der Hoffnung auf Straffreiheit.

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