Samstag, 30. Oktober 2010

Schöne neue Büroarbeitswelt


Verstehe einer das Prekariat. All diese Niedriglöhner, Zeitarbeitssklaven, Minijobber, Multijobber, Aufstocker - warum lassen die sich das alles gefallen? Warum tun die nichts gegen ihre fortschreitende Ausbeutung und Demütigung? Warum wehren die sich nicht, rebellieren nicht gegen die Schlingen, die sich immer enger um ihre Hälse legen? Was muss noch alles geschehen, damit die gebeutelte Unterschicht sich aus dem von oben verordneten Würgegriff befreit?

Fragen, Fragen, Fragen. Immer wieder gern gestellt von wohlmeinenden, 'sozialkritisch' eingestellten Angehörigen der Mittelschicht angesichts zunehmender Repressalien, Lohndrückereien und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen im Niedriglohn- oder HartzIV-Bereich. Warum lassen die sich das gefallen, fragen jene Mittelschichtler aus ihren ergonomisch geformten Bürostühlen mit stufenlos verstellbaren Rückenlehnen, aus ihren stets gleichmäßig temperierten, gutgeheizten und airkonditionierten flexiblen Großraumbüros heraus? Aus jenen Open-Space-Angestelltenkäfigen heraus, in denen sich mehrere Mitarbeiter einen Arbeitsplatz teilen, um ihren Arbeitgebern zu helfen, Kosten und Energie zu sparen? Und vor lauter komfortabler, schön gestalteter Flexibilität gar nicht mehr wahrnehmen, wie energieraubend sich der Versuch gestaltet, in solcherart Umgebung - Lärm, Hintergrundrauschen, ständige Unterbrechungen - sich auf Substantielles zu konzentrieren?

Verstehe einer die Mittelschicht. Warum lassen die sich das gefallen?

In der vergangenen Woche hatte ich wieder einmal das selten gewordene Vergnügen, zwecks Auftragsentgegennahme in so einer Großraumbüro-Legebatterie zu Besuch zu weilen. Während ich mit ein paar wenigen alten Bekannten smalltalkte und unzählige unbekannte Gesichter an mir vorüberzogen, tat das geschäftige Hühnerstalltreiben um mich herum seine Wirkung: Ich wurde nervös.

Da gab es Mitarbeiter, die beim Telefonieren schalldämpfend eine hohle Hand über den Hörer legten, um ihren Kollegen am Nachbartisch nicht über Gebühr zu stören. Ich sah Menschen am Computer sitzen mit großen gepolsterten Kopfhörern - nicht um Musik zu hören oder Diktate zu verschriften, sondern um die akustische Umweltbelästigung wegzufiltern. Einer von ihnen erkannte mich, deutete gequält auf seine Kopfhörer und meinte, man gewöhne sich an alles. Irgendwie war er von ungesunder Gesichtsfarbe, fand ich, mit so Stressdellen auf der Stirn und tiefen, altersunspezifischen Furchen um die Mundwinkel.

Als zwei seiner Kollegen sich anschickten, in seiner unmittelbaren Nähe ein Problem zu diskutieren, reagierte er mit genervtem Augenrollen und wies die beiden mit einer unwirschen Kopfbewegung dorthin, wo heutzutage offenbar Probleme diskutiert werden: ins Treppenhaus. So läuft das in der schönen neuen, an der Rendite orientierten und gestalteten Büroarbeitsplatzwelt - das Treppenhaus gilt als angemessener Ort, um Besprechungen abzuhalten.

Ich saß auf meinem ergonomischen Besucherstühlchen und wurde immer nervöser bei der Vorstellung, an einem solchen Arbeitsplatz etwas produzieren zu müssen, was mich, meine Leser und meinen Auftraggeber auch nur ansatzweise befriedigen könnte. Ich befürchtete, in einem derart auf Effizienz getrimmten Umfeld nur noch höchst ineffizient arbeiten zu können, weil mir vor lauter Ablenkungen und Störfaktoren der Zugang zur eigenen Kreativität erschwert oder verunmöglicht wäre. Ich dachte an mein winzig kleines Arbeitsplätzchen zuhause; sicherlich kein Ausbund an Komfort (was nicht allein an der unverstellbaren Rückenlehne meines nur mäßig ergonomischen Stuhles liegt), aber gesegnet mit etwas, was den modernen Büronomaden verwehrt bleibt: Ruhe. Ruhe. Ruhe. Es ist mein Arbeitsplatz, an dem ich meine Ruhe habe. Ein himmlisches Plätzchen, an dem ich in Ruhe vor mich hindenken und aus mir herausschreiben kann.

Verstehe einer die Mittelschicht. Warum lassen die sich das gefallen? Schon gut, schon gut, war bloß eine rhetorische Frage. Ich kenne die Antworten: Weil man sich an alles gewöhnt. Weil man mit der Zeit gehen muss. Weil man flexibel sein muss. Weil das Arbeitsleben nun mal kein Zuckerschlecken ist. Weil halt alles so ist, wie es ist. Weil alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Weil vielleicht alles bald noch viel schlimmer kommen wird.

Kenne ich alles. Aus dem Prekariat. Noch Fragen, Mittelschicht?


PS: Um ein Haar hätte ich mein Büro-Sightseeing-Erlebnis von letzter Woche vergessen gehabt; irgendwie schien es mir nicht der Rede wert gewesen zu sein. Das änderte sich, als ich heute morgen Zeitung las, mir noch einen Kaffee kochte, die harte, unflexible Lehne meines Stuhles vergaß und die Ruhe um mich herum genoss.

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