Samstag, 16. Oktober 2010

In den besten Häusern zuhause


Statusunterschiede sind ja etwas ganz Normales unter Menschen.

Die einen gehen in die Pizzeria um die Ecke, die anderen ins Vier-Sterne-Restaurant mit Parkpanorama. Die einen sitzen an nackten Holztischen, die anderen über gestärktem Damast. Und während es den einen passieren kann, dass ihnen plötzlich die Gemeine Küchenschabe übers blanke Holz huscht, dürfen die anderen mit Recht beanspruchen, dass - wenn schon, denn schon - das blütenweiß gebügelte Tischtuch nur von ausgewählten Vier-Sterne-Kakerlaken betreten werden darf.

So geschehen vor ein paar Tagen im eleganten Jean-Georges in New York City, direkt am Central Park gelegen. Gegen neun Uhr abends gellte ein Schrei durch das für seine ruhig-gediegene Atmosphäre bekannte Etablissement: Auf einem Fünf-Personen-Tisch bahnte sich eine hungrige Edelschabe ihren Weg zwischen edlen Schälchen mit Edel-Sushi-Thunfisch. Der Schrei soll eher unedel geklungen haben - gefolgt von tödlicher Stille im ganzen Restaurant.

Gut, wenn so eine Kakerlake haarscharf am Pizzateller vorbeigrätscht, geht der Wellnessfaktor temporär auch nach unten. Aber, oh my god, im 4-Sterne-Lokal! Wenn sich das herumspricht! Peinlichkeit, nimm deinen Lauf. Was tun? Da hilft nur eines: Vier-Sterne-Katastrophenmanagement.

Schritt Eins: Das Ungeziefer mithilfe einer geknüllten Damastserviette einfangen - von einem beherzten, aber ungeübten Edelkellner. Weil, wenn geübt, würde das ja schon wieder einen generalverdächtigen Eindruck machen. Da aber ungeübt, gelingt der Schabe das unversehrte Entkommen. Was die Peinlichkeit nicht etwa lindert, sondern zunächst verstärkt.

Schritt Zwei: Die schockierten Gäste schleunigst umsetzen an einen ungezieferfreien Tisch - eine Illusion, an die sich trotz der soeben entronnenen und vermutlich immer noch hungrigen Schabe alle Beteiligten verzweifelt klammern.

Schritt Drei: Die fünf Gäste ablenken. Mit Essen natürlich, womit sonst. Zum 98-Dollar-Drei-Gänge-Dinner wird ein zusätzlicher Gang gereicht, danach diverse zusätzliche Desserts. Stopfung mit System.

Schritt Vier: Die fünf Gäste so betrunken machen, dass sie sich hinterher an nichts mehr erinnern können. Schwerer Dessertwein sowie Champagner werden eingeflößt.

Schritt Fünf: Die unmittelbaren Nachbartische mit je einer Runde Gratisdrinks ebenfalls betäuben.

Schritt Sechs: Ein Stoßgebet zum lieben Gastronomengott schicken, dass der peinliche Zwischenfall im kollektiven Edelrausch ersäuft und vergessen sein möge.

So weit, so vorbildlich. Hätte da nur nicht ein New Yorker Edel-Gastrokritiker Wind von der Sache bekommen und sie im Diners' Journal Blog der New York Times genüsslich breitgetreten. Jetzt zerreißt sich, nicht minder genüsslich, die halbe Stadt den Mund - wie das halt so läuft, wenn etwas vorkommt, was selbst in den besten Häusern vorkommt. Wäre ich Pizzeriabetreiber, würde ich mir genüsslich die Hände reiben und denken: Statusunterschiede haben auch ihre Vorteile.

2 Kommentare:

  1. Schon mal gratinierte Kakerlake versucht? Hätte da eine Restaurantempfehlung parat...hehe...keine 4-Sterne-Bude, daher auch keine 4-Sterne-Bedienung, es hat tatsächlich einige Überredungskunst gebraucht, den Kellner zu überzeugen, dass ich nicht verzehren und schon gar nicht bezahlen möchte, was ich nicht bestellt habe. Aber immerhin ein einmaliges Erlebnis, das in unserer Familie immer wieder für Lacher, ach was sage ich, Brüller sorgt, sobald der Name dieses Restaurants fällt. Und das ist ein Dessert, dass ich doch dann gerne mitgenommen habe. Tja, die schönsten Dinge im Leben kosten eben doch nichts.

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  2. Kandierte Grashüpfer (Japan), gebratene Ameisen (Kolumbien), frittierte Spinnen und Wanzen (Kambodscha) gelten andernorts als nahrhafte Delikatessen. Gratinierte Kakerlaken in scharfem Thai-Curry, warum nicht. Hier vom Wanzenchefkoch zubereitet:
    http://www.davidgeorgegordon.com/

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