Mittwoch, 29. Juli 2009

Absturzgefährdet

Nichts bleibt, wie es war. Gestern genervt, heute gegafft. Heute nahm ich den Krach von gestern gar nicht mehr wahr, so gebannt stand ich am Restaurantfenster und hielt Maulaffen feil. Irgendwann hielt ich es drinnen nicht mehr aus; es zog mich mit Macht hinaus in die Gehwegnasen-Vorhölle. Mitten hinein in diese chaotisch anmutende Ausgrabungsstätte, an der - einem geheimnisvollen, für mich kaum zu erschließenden Systemprinzip folgend - das Unterste zuoberst gekehrt wird.
Schon jetzt lässt sich eindeutig feststellen, dass in puncto Gehwegnase das Restaurant die Nase vorn hat: Keine andere Straßenecke bekommt einen so ausladenden Riesenzinken; keine andere Straßenecke bietet so viel krawallige Action. Ich war nicht die einzige, die sich der Gafferfreude hingab, auch nicht die einzige, die fotografierte, halt nur die einzige mit einer weißen Schürze und einem Flaschenboy im Schlepptau. Alle starrten wie hypnotisiert auf die aggressiv gebleckten Zähne der Baggerschaufel,
auf das stete Heben und Senken, auf die permanente Suchbewegung des Schaufelarmes nach der richtigen Position, auf die Veränderung des Schaufelwinkels im entscheidenden Moment,
auf das Innehalten der schwankenden Schaufel kurz vor dem finalen Biss in den Boden, bis es schließlich hieß -
Zugriff! Für eine bange Sekunde hielten dann alle die Luft an, bevor endlich zu sehen war, was die Schaufel zutage förderte - das Richtige? Oder irgendwas Verkehrtes? Volle Ladung? Oder nur ein paar Erdkrümel? Oder womöglich gar nichts? Wenn letzteres passierte - und es passierte mehr als einmal -, war es dem Baggerführer sichtlich peinlich, weil der schaulustigen Menge unisono ein enttäuschtes 'Ooh!' entfuhr. Griff er dagegen in die Vollen, kündete ein langgezogenes 'Aaaah!' von tiefer Befriedigung infolge Spannungsabfuhr.
Bei diesem Volltreffer wurde sogar spontan Beifall geklatscht. Das Dumme war nur, dass der Betonklotz, kaum dass er auf der Schaufel balancierend nach oben schwebte, sein Gleichgewicht verlor und meteoritengleich zurück in die Tiefe stürzte. Mindestens vier der versammelten Foto-Gaffer (mich eingeschlossen) brüllten gleichzeitig 'Neiiin!'. Keineswegs aus Enttäuschung oder Schreck, sondern aus Ärger: Hatten wir doch alle abgedrückt, als der Klotz erfolgreich geborgen schien. Keiner von uns war schnell genug am Drücker gewesen, um das unerwartete Scheitern fotografisch festzuhalten - das wäre doch das symbolträchtige Motiv der Stunde gewesen. Der Absturz lauert schließlich überall. Wer wüsste das nicht in diesen unangenehmer werdenden Zeiten.

Nichts bleibt, wie es war. Gestern stand der Altglascontainer noch dort, wo jetzt der Bagger parkt. Heute mittag stand der Container dort, wo heute morgen noch das Pixiklo stand.
Gut, ein Klohäusl mitten auf der Straße, kann man verstehen, dass sie es dezent ein wenig nach hinten und dafür den Glascontainer in die erste Reihe gerückt haben. So finde ich ihn auch leichter. Denn es ist ja nicht gerade so, dass der Zugang zum Glascontainer barrierefrei wäre - was per Luftlinie nach einem Katzensprung aussieht, ist de facto ein aufwendiges Gekurve um Baulöcher und -fahrzeuge herum, immer auf der Suche nach einer abgesenkten, aber noch nicht ausgehobenen Stelle am Gehweg, die mir der tolpatschige Flaschenboy nicht allzu übel nimmt.
Ich ertappte mich bei der Phantasie, den überquellenden Flaschenboy Hals über Kopf in den Baugrund zu kippen, um dann gierig zu gaffen, wie die Baggerschaufel mit einem kraftvollen Hub denn Flaschenberg nach oben wuppt und auf die andere Seite der Straße hievt. Erstaunt hörte ich meine Stimme ein lautes, langgezogenes 'Aaaah!' machen.

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