Mittwoch, 10. Juni 2009

Hörproben

Früher dachte ich immer, Musiker und Graswachs-Hörspezialisten hätten die feinsten Ohren von allen. Heute weiß ich: Es ist der Berufstand der Putzfrauen, der mit den Ohren sieht. Typische Alltagssituation, ich hole mir einen Eimer Wasser am Restauranttresen, stelle also den Eimer in die Gläserspüle, drehe den Hahn auf und warte, bis der Eimer voll ist. Dauert so zwischen 15 und 30 Sekunden, je nachdem. Während das Wasser in den Eimer läuft, hebe ich den Blick und genieße den Blick durch die großen Fenster ins Freie. Erst hatte der weiße Flieder geblüht, danach die rote Kastanie. Jetzt überall sattes Grün. Das Eimer-Wasser-am-Tresen-holen verheißt stets eine kurze Zeitspanne des Durchatmens, der inneren Ruhe.
Nun ist das Ende dieses kontemplativen Kurztrips abhängig von dem Zeitpunkt, zu dem der Eimer voll ist. Wann der Eimer voll ist, hängt wiederum vom Druck des Wasserstrahls ab. Mit anderen Worten, die Dauer des kleinen Entschleunigungsrituals lässt sich programmieren. Oder manipulieren. 
Wer sich nicht manipulieren lässt, ist Frau Übermop. Als der Flieder noch am Blühen war, hatte sie vor dem Restaurant den Bürgersteig gekehrt. Türen und Fenster waren geöffnet. Wir konnten einander nicht sehen, nur hören. Ich lauschte dem steten gleichförmigen Schrappschrapp  ihres Kehrbesens und drehte den Hahn auf. Der Klang des strömenden Wassers wurde von dem Schrappschrapp entspannt rhythmisiert, der Flieder blühte, die Sonne schien herein, ich seufzte tief, nach 30 Sekunden war der Eimer voll und die Meditation zu Ende. Auch der Kehrbesen war verstummt. In die plötzliche Stille hinein hörte ich Frau Übermop von draußen rufen: "Wenn du den Hahn volle Power aufdrehen würdest, wäre der Eimer schneller voll!" Keine Frage, auch sie versteht etwas von Programmieren. Und von Programmiergeräuschen.
Andererseits ist sie manchmal ein ganz klein wenig schwerhörig; noch habe ich nicht herausgefunden, wann das genau der Fall ist und wann nicht. Heute war wieder mal so eine Situation. Wir stehen im Kühlhaus und prüfen die Sauberkeit der Innenwände. Ein Dialog entwickelt sich.
Ich: "Guck mal, da sind überall feuchte Schlieren an der Wand." 
Sie: "Was für feuchte Dinger?" 
Ich (lauter): "Schlie-ren!" 
Sie: "Ach was." 
Ich (noch lauter): "Doch!" 
Daraufhin fällt der Satz des Tages: "Schlieren sind kein Thema, das ist alles  Konsenswasser." 
"Du meinst Kondenswasser?" erwidere ich so beiläufig wie möglich. 
"Sag ich doch, oder hörst du schlecht?", brummt Frau Übermop zurück. 
Kein Thema. 
Alles Konsens oder was.

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