Donnerstag, 30. September 2010

Märchenstunde


Die Geschichte ist schnell erzählt:

Ein Mann, 48 Jahre alt, von Beruf Spüler in einer Restaurantküche in St. Petersburg, Florida (USA), fährt am 12. September 2010 nach Beendigung seiner Nachtschicht auf seinem Fahrrad nach Hause, wird von einem unbekannten Autofahrer gestreift und vom Rad geworfen. Das Auto hält nicht an; der Fahrer begeht Fahrerflucht und wurde bis heute nicht identifiziert. Sechs Tage später erliegt Neil Alan Smith seinen schweren Kopfverletzungen, drei Tage vor seinem 49. Geburtstag.

Kurz nachdem der Unfall, die Fahrerflucht und der Tod des Unfallopfers auf der Website der Zeitung St. Petersburg Times gemeldet worden war, besaß ein anonymer Leser die Charaktergröße, den folgenden Kommentar zu posten:
"Ein Mann, der im Alter von 48 Jahren als Spüler bei Crab Shack (Name des Restaurants) arbeitet, ist mit Sicherheit tot besser dran als lebendig."
Tough shit
, dachte ich beim Lesen. Ob dieser Kommentator sich zu mehr Sensibilität hätte aufschwingen können, wenn der zu Tode gefahrene Spüler erst 38 oder 28 Jahre alt gewesen wäre? Was, wenn der Mann bereits 58 Jahre alt gewesen wäre? Wäre es um ihn dann weniger schade gewesen als um, sagen wir, eine totgefahrene und liegengelassene Katze? Was ist das für ein Mensch, der von seinem Computer aus die Welt wissen lässt, dass ein Niedriglohnjob schlimmer ist als der Tod?

Charakter zeigt sich darin, wie jemand sich verhält, wenn niemand zuschaut (zum Beispiel beim nächtlichen Umfahren eines Radfahrers), oder auch darin, wie jemand anonym kommentiert.

Oder darin, wie jemand reagiert auf Täter, die im Schutze der Anonymität handeln. Gestern hat die St. Petersburg Times (via MetaFilter) Charakter bewiesen: Sie veröffentlichte einen ausführlichen, feinfühligen Nachruf auf den 48-jährigen Spüler Neil Alan Smith, aus dem deutlich hervorgeht, warum es eine Reihe von Menschen gibt, die den Verstorbenen schmerzlich vermissen. Respekt vor dem Autor, vor dem Toten, vor den Hinterbliebenen.

"Etwas Besseres als den Tod findest du überall", sprach der altersschwache Esel, der vom Hof verjagt wurde und auf den alten Hund traf, der fortlief von seinem Herrn, da dieser ihn wegen seiner Schwäche totschlagen wollte; dann der alten Katze begegnete, die wegen ihrer stumpfen Zähne keine Mäuse mehr fangen konnte und darum ersäuft werden sollte; dann dem alten Hahn, der für den Festtagsbraten geschlachtet werden sollte. Und so kam es zum Märchen von den vier Bremer Stadtmusikanten. Wenn sie nicht gestorben sind, überleben sie noch heute.

Mittwoch, 29. September 2010

Fünf Euro


Mit fünf Euro kommt man zur Zeit überall durch. So als Gesprächsthema, meine ich. Alle reden über fünf Euro. Sogar lieber als übers Wetter. Was man mit fünf Euro machen könnte, wofür man den Pleite-Heiermann ausgeben könnte, was man sich davon kaufen könnte. Gut, rede ich halt auch darüber.

Zum Beispiel verdammt mich ein frühmorgens entdeckter Platten am Fahrrad zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, um zu meinem Job und wieder zurück transportiert zu werden; eine Dienstleistung, deren Inanspruchnahme mich knapp fünf Euro kostet. Das ist deutlich mehr als die Hälfte eines Stundenlohnes. Das tut weh. Kommt also nicht in Frage. Es darf einfach morgens keinen Platten geben; nur so bin ich geschützt vor dummen Gedanken, die um den Sachverhalt der Beförderungserschleichung kreisen. Fünf Euro für so eine Popelfahrt - geht gar nicht.

Womit ich sagen möchte, dass ich bei der Frage des Wertes oder Gegenwertes von fünf Euro instinktiv denke: Was musst du für fünf Euro tun?, mich sodann ein leichtes Zucken befällt, was dazu führt, dass in der Mehrzahl irgendwelcher kaufrelevanter Situationen die fünf Euro in der Tasche stecken bleiben. Wo sie hingehören. Das macht mich zum Konsummuffel, was mich wiederum zur Kommunikationsbremse macht, weil man sich mit mir einfach nicht länger als eine halbe Minute darüber unterhalten kann, was man mit fünf Euro so alles machen könnte. Mir wird dann fad.

Gar nicht fad finde ich hingegen die Frage, was andere Menschen für fünf Euro zu tun bereit sind. So etwas interessiert mich brennend. Auch wenn es in Wirklichkeit nicht um fünf Euro, sondern um fünf Dollar geht, aber ist ja egal. Hier ein paar Perlen:
Ich mache für Sie eine Stadtführung durch Moskau für 5 $
Ich drucke und verteile Flyer an mindestens 30 Häuser für 5 $
Ich höre mir 15 Minuten lang via Skype deine Beziehungsprobleme an für 5 $
Ich beantworte zehn Fragen über Berlin (Deutschland) für 5 $
Ich werde jeden Song deiner Wahl als Jazz-Song singen für 5 $
Ich mache ein Design für dein Tattoo für 5 $
Ich werde eine Woche lang ein T-Shirt mit der Werbung Ihrer Firma tragen für 5 $
Ich erstelle jedes gewünschte Video in New York City für 5 $
Ich schreibe deinem Kind einen Brief vom Nikolaus für 5 $
Ich gestalte Ihnen eine Website für 5 $
Ich bringe Ihrer Katze in drei Wochen bei, wie sie sich auf Ihre Toilette setzt, für 5 $
Ich installiere Ihnen WordPress plus eine volle Woche Support für 5 $
Ich schreibe eine Rede für einen Brautvater für 5 $
Ich bringe Ihnen das Jonglieren bei für 5 $
Ich werde Sie einen Monat lang jeden Morgen telefonisch wecken für 5 $
Ich komponiere Ihnen ein italienisches Liebeslied für 5 $
Der Marktplatz, auf dem ausschließlich Fünf-Dollar-Niedriglohn-Gigs feilgeboten und nachgefragt werden, heißt Fiverr.com. Das Ganze ist kein Scherz. Obwohl die Seite einen hohen Unterhaltungswert bietet, findet hier eine rege Kleingeschäfte-Macherei statt. Manchmal bleibt beim Lesen das Lachen im Hals stecken. Weil unschwer herauszulesen ist, wie sehr den Anbietern das Wasser bis zum Hals steht.

Am besten hat mir dieses Inserat gefallen:
Ich bringe Ihnen für 5 $ bei, wie Sie mit dem, was Sie bei fiverr anbieten, doppelt so viel Geld machen können.

Dienstag, 28. September 2010

Bruch mit dem Brötchengeber


Du wirst wach von der schneidenden Stimme der Armutsministerin im Radio, trinkst einen schlechtgelaunten Kaffee, findest dieses Video und denkst: Na bitte, geht doch.


Hiermit erstatten wir Strafanzeige gegen alle Mitglieder der Bundesregierung und gegen Unbekannt, da auch andere Außenstehende an den aktuellen Vorgängen beteiligt sind.

1. Bruch des Amtseides
2. Missachtung eines Verfassungsorgans (hier das Bundesverfassungsgericht)
3. Willkürlichkeit im Amt
4. Missachtung des Grundgesetzes
5. Nötigung mit besonderer Schwere
6. schwere Körperverletzung

Diese Strafanzeige bezieht sich auf die aktuelle Bekanntgabe der neuen HartzIV-Regelungen, die verfassungswidrig sind, wie ja in dem Urteil vom Februar des BVerfG diesesn Jahres nachzulesen ist.
Von den Initiatoren ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen.

Montag, 27. September 2010

Das geht so nicht weiter


Die Einschläge werden dichter:

"Sucht ist teuer."

Der Ton rauher:

"Nicht nur für die Abhängigen, sondern auch für alle anderen."

Die geforderten Konsequenzen härter:

"Das geht so nicht weiter."

Sagen die Medien.

"Tiefere und raschere Einschnitte."

Sagen die Suchtforscher.

Hoher "Produktivitätsverlust im Todesfall in Haushalt, Ehrenamt und Job..."

Sagen alle.

Hohes Einsparpotential bei den Sozialkosten infolge verkürzter Lebenserwartung...

...sagt keiner.

Spielsüchtige.
Alkoholsüchtige.
Nikotinsüchtige.

Sagen bald nichts mehr.

Der Ton.

Sagt alles.

Sonntag, 26. September 2010

Leserbrief


Sehr geehrter Herr Reents,

mit Interesse habe ich Ihren gestrigen Ordnungsruf an alle Rucksackträger gelesen, die Ihr ästhetisches Empfinden derart massiv beleidigen, dass Sie - offenbar der Notwehr gehorchend - Ihrerseits zu einem beleidigenden Rundumschlag ausholen mussten und sich dabei nicht scheuten, Ihre Hassobjekte als "Ihr Esel und Stiesel" zu adressieren.

Anscheinend geht Ihnen die lästige Spezies der - ich darf Sie zitieren - "Packesel" gewaltig auf den Zeiger, zum einen wegen ihrer (dem kultivierten U-Bahnbenutzer) unzumutbaren Optik ("würdelos"), zum andern wegen der Gefahr, die jene Lastenträger für die Allgemeinheit darstellen, wenn letztere sich dichtgedrängt auf engem U-Bahnterrain zu arrangieren hat ("gemeingefährlich").

Mit zoologischem Feingefühl empfehlen Sie dem rucksackschleppenden Pack ("wie das stumpfe Vieh"): "Nehmt Euch ein Beispiel an denen, die noch Koffer und Aktentaschen tragen", was sicherlich herzensgut gemeint ist von Ihnen - nur, lieber Herr Reents, warum sollte ich mir ausgerechnet an Ihnen ein Beispiel nehmen? Gehören Sie auch zu jenen Aktentaschenträgern, die ihr Handgepäckstück beim Betreten der U-Bahn wie eine Waffe vor dem Körper tragen, eine respektheischende Geste, die für jedermann unschwer als 'Platz da, jetzt komme ich' zu dekodieren ist? Waren Sie das, der mir neulich die spitze Kante seines Aktenkoffers in die linke Kniekehle rammte, weil ich wegen Überfüllung der U-Bahn zu nahe am Ausgang gestanden hatte, auf dessen barrierefreie Nutzung Sie als Aktentaschenträger ein Naturrecht zu haben meinen?

Oder zählen Sie etwa zur Gattung der Rollkofferzieher? Sie wissen schon, das sind jene menschlichen Vollkoffer, die mit ihrem metallgeräderten Hackenporsche den vollen U-Bahnwagen durchpflügen, als seien sie mit einer Planierraupe unterwegs, Motto: Was schert mich rechts, was schert mich links, jetzt komme ich mit meinem Dings! Mein rechter großer Zeh weiß noch heute ein blaugefärbtes Lied davon zu singen. Waren Sie das? Falls ja, ist Ihnen als typischer Rollkofferzieher bestimmt entgangen, dass Ihr nächstes Opfer ein im Kinderwagen sitzendes Baby war, dem sie mit Ihrem zügig rollenden Hartschalenpanzer ruck-zuck den Schnuller aus dem Mund gesäbelt haben.

Nicht weiter tragisch, das Kind hat halt gebrüllt, der Schnuller hüpfte quer unter der Sitzbank durch, kam vor der Schnauze eines darunter liegenden Hundes zum Stillstand, wurde von letzterem ausgiebig sensorisch geprüft, was das Baby erst recht zum Erzgebrüll anstiftete, die Mutter in den Wahnsinn und zwei Fahrgäste auf alle Viere trieb, um den Schnuller vor der Zerfleischung zu retten, ohne dabei vom Hund zerfleischt zu werden.

Haben Sie gar nicht mitbekommen? Natürlich nicht, denn da hatten sie bereits im anderen Ende des Wagens Platz genommen, versperrten mit ihrem Samsonite den Durchgang, vertieften sich in den abstoßenden Anblick zweier unzumutbar hässlicher Rucksackträger und dachten sich angewidert: "Was habt Ihr da eigentlich immer drin in Euren Säcken? Proviant für Euren Lebensweg, der auch nicht mühsamer sein kann als der unsere?"

Ach Herr Reents, mit dem Proviant liegen Sie gar nicht so falsch - nur das mit dem Lebensweg und der Mühsal, das sollten Sie sich noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, am besten morgen, wenn Sie Ihren gewohnten Gang ins FAZ-Kasino antreten; selbstverständlich ohne Rucksack, denn wer braucht schon einen Rucksack, wenn er trockenen Fußes seine Futterstelle erreichen und dort konvenient zwischen drei Sättigungsbeilagen wählen kann. Mahlzeit, Herr Reents.

Bevor ich es vergesse: Am Ende Ihrer Ungezieferdurchsage rufen Sie nach längst überfälligen Verboten in einer Welt, "in der es offensichtlich noch nicht genug Vorschriften gibt, sonst wäre diese auch ästhetisch nicht eben vorteilhafte Unsitte längst unterbunden", schwingen sich gar zum Ordnungshüter auf ("Also, zum letzten Mal, herunter damit!").

Aber nicht doch, lieber Herr Reents, warum denn gleich so platzhirschmäßig? Sie als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel kennen doch bestimmt Emma Clarke, die berühmte Stimme aus dem Off der Londoner U-Bahn, 'voice of the London Underground', die sich mit problemlösenden Lautsprecherdurchsagen einen Namen gemacht hat. Hören Sie mal rein, ob nicht etwas für Sie dabei ist.

Samstag, 25. September 2010

Immer auf die dummen Dicken


Zur Zeit wird wieder mal die dickste aller dicken Säue durchs Dorf getrieben. Und alle machen begeistert mit bei der Treibjagd. Wer oder was wird gejagt? Mal wieder die Dicken. Die Übergewichtigen. Die Fettleibigen.

Was täten wir nur, wenn wir die vielen Dicken nicht hätten? Die sich so wunderbar in den volksfürsorglichen Klammergriff nehmen lassen? Dann müssten wir das Kind beim Namen nennen, denn es wird uns ja schon seit einigen Jahren eingebleut: Es ist die dicke, dumme, faule Unterschicht, die adipös aus dem Leim geht; die Dicken sind die, die zu dumm, pardon, zu bildungsfern sind, um sich vernünftig zu ernähren. Heute reicht es schon, öffentlich 'den Fettleibigen' ins volksgesundheitliche Gewissen zu reden, und jeder weiß, wer damit gemeint ist. Gelernt ist gelernt.

Viel Dummes ist seither über die dummen Dicken geschrieben worden; aber auch manch Kluges: Dummheit und Körperfett in Bezug zueinander zu setzen, sei eine Steilvorlage für Diskriminierung, so der Soziologe Friedrich Schorb vor knapp einem Jahr - und so ist es ja denn auch gekommen. "Dick" sagen reicht, "dumm" denkt sich jeder selbst dazu. Wer sich von der Unterschicht abgrenzen will, achtet auf sein Gewicht.

"Fette Tatsachen" lautet die heutige Schlagzeile, "Übergewicht wird zur Epidemie" hieß es gestern. Mir dagegen scheint, das sintflutartige Studienaufkommen zum Thema ist mittlerweile selbst zur Epidemie geworden. Auf sogenannte Studien folgt sogenannter Handlungsbedarf, auch das haben wir gelernt; also dürfte sich demnächst mal wieder epidemischer Aufklärungsaktivismus breitmachen, um den Übergewichtigen beizubiegen, dass man es doch nur gut mit ihnen meine und sie deshalb jetzt endlich ihren Lebenswandel ändern sollten, gefälligst, denn allmählich müssten sie es doch gemerkt haben, die Übergewichtigen, die Trinker, die Raucher, die Unsportlichen, die Extremsportler und all die anderen Risikogruppen, was für eine enorme volkswirtschaftliche Belastung sie darstellten. Die Gesundheitspolizei marschiert. Absurderweise meist in Gestalt von übergewichtigen Politikern. Warum muss ich gerade in diesem Augenblick an die Katholen denken?

Nein, ich verteidige weder exzessives Fressen noch Komasaufen. Was mir zunehmend mentales Sodbrennen verursacht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der die verstaatlichte Inobhutnahme des persönlichen Lebenswandels betrieben wird. Ich habe schon Probleme damit, Politiker als Führungspersönlichkeiten ernst zu nehmen; auf der Predigerkanzel finde ich sie nur noch unerträglich. Es geht Politiker nichts an, wie ich lebe, weshalb sie weder die Pflicht noch das Recht haben, mir vorzuschreiben, wie ich zu leben habe.

Trotzdem führen sie sich auf wie überfürsorgliche Sozialarbeiter, die mir auf Biegen und Brechen die Risiken meiner Lebensführung abnehmen wollen. Habe ich sie darum gebeten? Nein. Warum maßen sie es sich dann an? Weil sie sich anmaßen, es gut mit mir zu meinen. Ihre Selbstanmaßung geht so weit, dass sie sich einbilden, ich würde sie wegen ihres alarmistischen Zugriffs auf die bedrohte Volksgesundheit schätzen oder gar wählen.

Übrigens verweist die aktuelle Studie auf eine weitere aktuelle Studie, in der nachgewiesen wird, dass die Dicken durch ihr sozialverträglich frühes Ableben unterm Strich die Renten- und Krankenkassen nicht etwa be-, sondern entlasten. Mehr noch:
"Die Versicherer halten es unterdessen sogar für möglich, dass die Zunahme der Fettleibigkeit eines Tages den Trend zur Langlebigkeit stoppen könnte."
Sind das nicht gute Nachrichten? Grund genug, den Dicken zu Lebzeiten eine fette Prämie auszuzahlen. Und sie ansonsten in Ruhe zu lassen.

Freitag, 24. September 2010

Winterblues


Nach dem Herbstblues kommt der Winterblues. Das ist ganz normal. Zum Winterblues ist eigentlich schon alles gesagt. Trotzdem, er ist wieder da und will mitreden. Kann er haben.

Der Winterblues kommt, wenn es morgens dunkel ist und man genau spürt, dass es noch sehr lange dauern wird, bis es hell wird. Dieses Mehr an Eigenenergie, was aufgebracht werden muss, um wach zu bleiben, weil die natürliche Energie des Tageslichtes fehlt. Anstrengend ist das. Habe ich aber alles schon mal geschrieben.

Neu ist, dass ich neuerdings mit flutlichtähnlicher Beleuchtungsanlage am Fahrrad unterwegs bin. Es ist wie Nacht-Trekking mit Kaninchen- und Eichhörnchenjagd. Der potente Lichtkegel erlaubt es mir, meine Querfeldein-Lieblingsstrecke zu fahren, wo zu zwei Dritteln keine einzige Straßenlaterne steht. Flora und Fauna zuhauf. Die Kaninchen bleiben immer wie hypnotisiert mitten auf dem Weg sitzen, schauen mir schreckensstarr entgegen, um im letzten Moment ins Gebüsch wegzuflitzen. Die Eichhörnchen rasen kreuz und quer und machen sich einen Sport daraus, direkt vor meinem Vorderrad über den Weg zu huschen. Ich muss dann jedes Mal furchtbar laut stöhnen, zur Drosselung der Adrenalinspitzen. Passiert ist noch nichts.

Ja, und dann die Flora. Mein Suchscheinwerfer erfasst unvorstellbare Mengen von Laub auf dem Boden, viel zu früh für die Jahreszeit. Seit heute, wo das Wetter umgeschlagen hat, sagt jeder, mit dem ich rede, melancholisch: "Ach, es wird Herbst", und wenn ich dann antworte: "Nein, Winter", finden sie das übertrieben. Ich nicht. Mein Hund Blues auch nicht. Er schläft zwar, aber anders als sonst. Normalerweise liegt er der Länge nach unterm Sofa; als ich heute aufstand, lag er quer, so dass die Schnauze vorne herausschaute. Augenlider auf Halbmast. Unruhiges Schnaufen. Er kann es nicht leiden, wenn morgens elektrisches Licht brennt. Ich auch nicht.

Donnerstag, 23. September 2010

Systemrelevante Armut


Vorbei die Zeiten, wo die Armut der einen die anderen ankotzte. Heute findet, wer arm ist, bei den weniger Armen volle Unterstützung, zwar nicht finanziell, doch dafür wird ihm in moralischer Hinsicht der Rücken gestärkt. Wo kämen auch die Reichen hin, wenn es keine Armen mehr gäbe?
Armut ist schon lange kein Armutszeugnis mehr. Armut ist ein Zeichen von Wohlstand der anderen. Ohne Armut kein Reichtum. Wer Reichtum sagt, muss auch Armut sagen. Armut ist die neue Arbeit.
Also, frisch ans Werk: Die Zusammenlegung der Ministerien Entwicklungshilfe und Arbeit zum neuzuschaffenden "Ministerium für Armut" steht unmittelbar bevor und wird endlich den Armen amtlicherseits das attestieren, was diese ohnehin seit jeher haben: Systemrelevanz nämlich.
Frau von der Leyen: "Ich möchte alle Menschen in Armut bringen und halten, die es verdient haben. Armut ist systemrelevant. Gerade in fremden Ländern mit vielen fremden Menschen wird meine Hilfe dringend benötigt."

Dirk Niebel: "Armut schafft Arbeitsplätze. Zumindest meinen. Armut ist alternativlos, wenn man nichts gelernt hat oder wenn man von Ursulas 13-Millionen PR-Budget profitieren möchte."
Das Tolle am neuen Ministerium für Armut: Es erspart die eigentlich dringend notwendige Schaffung eines Propagandaministeriums, was wiederum Geld spart für die noch dringlicher notwendige Propaganda des Ministeriums für Armut.
Schon bald, so die Ankündigung der Super-Minister, soll es eine Kampagne des Ministeriums für Armut geben, sich für mehr Armut zu engagieren. Arme sollen direkt angesprochen, und ihre Relevanz für das System in knackigen Sätzen allen eingebleut werden.
Kleiner Vorgeschmack auf die knackigen Sätze der kommenden Kampagne? Bitte sehr:
Ohne Armut können Länder, Gesellschaften und Einzelmenschen sich nicht entwickeln. Armut fordert den einzelnen und fördert ihn. Ohne Armut keine Herausforderungen. Ohne Armut kein Ehrgeiz, kein Wettbewerb, kein fairer sportlicher Wettkampf um die besten Überlebensbedingungen der menschlichen Art. Ohne Armut keine Raumfahrt, keine Offshore-Bohrungen, keine Genpflanzen, keine Atomkraftwerke.
Was wäre eine millionenschwere Kampagne ohne einen knackigen Schlussappell?
Armut macht reich! Arme, wir brauchen Euch!
Und jetzt alle: Arme, äh, Ärmel hochkrempeln!


Alle Zitate aus der mediaclinique. Das Beste, was ich seit langem zur derzeitigen politischen Entwicklung gelesen habe.

Mittwoch, 22. September 2010

Text putzen


Heute war ein erfreulicher Tag. Denn heute nachmittag gab es einen kleinen Lektorier-Job, dem vielleicht noch weitere kleine Lektorier-Jobs folgen werden. Das erfreulichste daran war, dass der Job im Restaurant stattfand, denn bei dem Auftraggeber handelt es sich um einen der Geschäftsführer, der sich gerade ein zweites Standbein als Buchherausgeber und Verleger aufbaut. Auch er ein Multijobber, sozusagen. Wenn auch in einer etwas anderen Liga spielend als ich.

Ich schmiss also um 11:30 Uhr die roten Schuhe von den Füßen und die Schürze vom Leib, hockte mich rollenkonfliktfrei vors Laptop und wurde vom Geschäftsführer mit Speis' und Trank verwöhnt. Da dieser Geschäftsführer das Servicegeschäft leitet, weiß er, wie das geht (das mit dem Verwöhnen). Er gab den Vollprofi.

Ich aber auch. Hocherfreulich war es festzustellen, dass meine sprachfahnderischen Reflexe immer noch einwandfrei funktionieren; die Arbeit am Text ging mir leichter von der Hand denn je. Manchmal hielt ich inne, schaute zum Fenster hinaus und hatte das unbestimmte Gefühl, die nachmittägliche Leichtigkeit der Textarbeit könnte vielleicht irgend etwas zu tun haben mit der schweren körperlichen Arbeit am Vormittag. Vielleicht auch nicht. Ich glaube aber doch. Irgendwie jedenfalls.

Am allererfreulichsten war der Umstand, dass dieser Geschäftsführer als (verlegerischer) Auftraggeber ein pflegeleichter ist: Er zeigte sich durchweg einsichtig, fügte sich allen meinen Verbesserungsvorschlägen fast widerstandslos, und wenn ich anfing streng zu werden ("Das geht so nicht, basta!"), sagte er "okay", stand auf und kochte frischen Kaffee. Es war ein selten gemütlicher und dabei intellektuell herausfordernder Job. Als der Feinschliff am Text sich in die Länge zu ziehen begann - die Zeit drängt, die Buchmesse naht und der Flyer musste heute noch raus -, schaute er auf die Uhr und bemerkte: "Hoffentlich hast du heute nichts mehr vor", worauf ich ein vorwurfsvolles Gesicht aufsetzte und erwiderte: "Doch, ich muss noch bloggen", was sich ja auch irgendwie erfreulich anfühlt, wenn man seinem Auftraggeber gegenüber das einfach so erwähnen kann.

Interessant war es zu erleben, wie das Restaurant im Laufe des Nachmittags sein Gesicht und seine Energie verändert. Köche und Küchenhilfen werkelten lautstark in der Küche, gegen vier Uhr begann der Service zu wuseln, das Telefon ging immer öfter, der ganze Bienenstock fing an zu summen, die Zeit verstrich und aus dem Summen wurde eine Brummen, wie ein Organismus, der sich warm läuft und allmählich auf Hochtouren bringt. Auch war es interessant zu erleben, dass die weiblichen Servicekräfte und Küchenhilfen es hochinteressant fanden, dass da die Putzfrau am Laptop sitzt und dem Chef Vorträge über guten Schreibstil hält; während die männlichen Köche sich so verhielten, als komme ihnen die ganze Szenerie befremdlich und daher völlig uninteressant vor. Kann aber auch Einbildung gewesen sein. Glaube ich aber nicht. Irgendwie jedenfalls.

Doch, der Tag war gut. So ein Tag macht zufrieden.
Es könnte ruhig mehr solcher Tage geben.

Dienstag, 21. September 2010

Worte und Taten


"Die hat doch ein Rad ab!", rief der Weinlieferant, während er Zeitung las. Als ich an seinem Tisch vorbeilief, hob er den Kopf, schüttelte ihn entgeistert und wiederholte: "Die hat doch ein Rad ab!" Ich verstand nichts. Er fuhr fort: "Anders kann man sich das gar nicht erklären - die muss doch ein Rad ab haben, oder?" Ich fragte, wer ein Rad ab habe. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. "Alle", sagte er nach kurzem Innehalten, "die haben alle ein Rad ab."

Vor dem Lieferanten lag der aufgeschlagene Politikteil der Zeitung. Allmählich konnte ich ihm folgen. Bei "alle" war ich ganz seiner Meinung, aber wen meinte er mit "die"? "Na, die Merkel", gab er ungeduldig zurück, "wen denn sonst." Wieso gerade die ein Rad ab habe, wollte ich wissen. "Weil die", schnaubte der Mann, "für alles Verständnis hat. Man kann aber nicht für alles Verständnis haben." Weil es mir weiterhin an Verständnis fehlte, tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Artikel auf der linken Seite: "Da steht: Sie sagt, sie hat Verständnis dafür, dass die HRE Bank ihre Mitarbeiter mit Bonuszahlungen belohnt." Dann tippte er auf einen Artikel auf der rechten Seite: "Und hier steht: Sie sagt, sie hat Verständnis dafür, dass die Bürger sich über diese Bonuszahlungen aufregen." Dann tippte er sich mit dem Finger an die Stirn: "Und ich sage: Die hat doch ein Rad ab, oder?"

Während ich ihm einen Kaffee machte, sagte ich, dass ich Verständnis dafür hätte, dass er zu diesem Befund komme. Im Vorbeigehen sagte Frau Übermop, dass sie Verständnis für Frau Merkel habe, denn die müsse es ja schließlich allen recht machen. Dafür, sagte ich, hätte ich überhaupt kein Verständnis. Worauf Frau Übermop sagte, mir fehle eben das Verständnis für Politik. Wofür wiederum der Weinlieferant kein Verständnis aufbrachte.

"Im übrigen", ergänzte er, "wer Verständnis für jemanden hat, sollte das nicht nur sagen, sondern vor allem zeigen. Durch entsprechende Taten." Während ich noch am Überlegen war, ob er damit Frau Merkel, Frau Übermop oder mich gemeint hatte, verschwand er kurz nach draußen. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir eine wunderschöne schlanke Flasche mit schwarz-rot gemaltem Etikett, darinnen ein (wie ich mich soeben überzeugt habe) vorzüglicher selbstgekelterter Prosecco.

Ein Mann des Wortes und der Tat, denke ich mir, so einen trifft man auch nicht alle Tage. Und weil dem Wort, so es denn Wirkung haben soll, die Tat zu folgen hat, trinke ich gleich noch ein zweites Glas. Lange nicht mehr so etwas Feines genossen.

Montag, 20. September 2010

Take It To The Bridge


Sachen gibt's auf dieser Welt. In Soeul zum Beispiel. Da klimpert man mit dem Fahrrad über eine Brücke und hört dabei sein eigenes Geklimper. Also, richtig wie Musik oder so ähnlich. Weil, wenn ich über diese Brücke radle, aktivieren meine Fahrradreifen lauter kleine Hämmerchen, die dann unterirdisch gegen große hölzerne Xylophonstäbe hauen, und es erklingt eine Melodie. Oder so ähnlich. Tolle Sache. Soll, wenn ich das recht verstanden habe, das umweltfreundliche Radfahren populärer machen. Bisschen radeln, bisschen Musik hören, bisschen was für die Umwelt tun. OK, let it roll.

Was aber, wenn das Radfahren immer populärer wird und ich im Pulk mit -zig anderen Radfahrern über die Brücke rolle? Werde ich dann musikalisch von -zig unterschiedlich langen Xylophonstäben erschlagen, von denen jeder einzelne einer musikalischen Note entspricht? Bricht auf der "Xylophon Bridge" das konzertante Inferno aus?

An die Autobahnbrücke, über die ich jeden Morgen fahre, darf ich gar nicht denken. Wenn die jetzt jeden Morgen anfinge, unter mir zu klimpern? Jeden Morgen! Jeden Morgen dasselbe alte Lied! Und kein Entkommen! Weil die Brücke nichts anderes kann als "Für Elise". Ich würde mich umgehend zur Autobahnbrückensprengmeisterin ausbilden lassen.

Darauf ein schönes altes Lied:


Am schärfsten ist die Stelle bei 1:25, kurz vor der Bridge. Immer wieder. Gern auch jeden Morgen. Na gut, jeden zweiten.

Sonntag, 19. September 2010

Land des Lächelns


Der gestrige Post verdient einen Nachtrag:

Der dort verlinkte Zeitungsartikel bezieht sich auf die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich und ihr kürzlich erschienenes Buch "Smile or Die" (Lächle oder stirb). Der Buchtitel greift das Diktat des sogenannten positiven Denkens auf, wie es der an Brustkrebs erkrankten Autorin aus der Brustkrebs-Community entgegenschlug. Gegen dieses Diktat wehrt sie sich.

Dabei beschränkt sich ihre Abneigung gegen die Kultur des Zwangsoptimismus nicht auf den Bereich der individuellen Lebensführung; wann immer die Formel 'positives Denken' institutionell verabreicht wird (also beispielsweise in der Wirtschaft, der Politik, am Arbeitsplatz), sieht Ehrenreich einen höchst wirksamen Mechanismus zur sozialen Kontrolle am Werk: lächelnd in die Leibeigenschaft, sozusagen. Schlägt das 'Positive' ins Euphorische, ja Wahnhafte um, kommt eine internationale Finanzkrise dabei heraus.

In diesem animierten Film widmet sich die Autorin den dunklen Seiten des positiven Denkens -


- die von dem Zeichner Matthew Taylor auf beinahe irritierend leichtfüßige Weise ins Bild gesetzt werden. Man kann ihm zuschauen, wie er zu den gesprochenen Worten von Barbara Ehrenreich schreibt und zeichnet.
"Vielleicht gibt es gar keinen Grund, positiv zu sein. Vielleicht sollten Sie lieber zornig sein? Ich denke, es gibt in dieser Welt einen Platz für Zorn."
Barbara Ehrenreich

Samstag, 18. September 2010

Markenbildung


Ich bin eine Marke. Du bist eine Marke. Er/sie/es ist eine Marke. Sind wir nicht alle ein bisschen Marke? Haben das jetzt alle begriffen? Nein?

Müssen ja auch nicht alle begreifen. Aber die Freiberufler, die sollten es schleunigst begreifen; besonders die "Freischreiber" unter ihnen. Aus diesem Grund lädt Freischreiber, der Verband freier Journalisten, am heutigen Samstag unter dem Motto "Mach's dir selbst" zum "Zukunftskongress".

Das Motto ist Programm: Schluss mit dem "Jammern" über die spärlich tröpfelnden Aufträge, über den wachsenden Konkurrenzdruck, über die ins Homöopathische sinkenden Zeilenhonorare, die zunehmende Fremd- und Selbstausbeutung - Schluss damit, der Kongress hat sich positives Denken auf die Fahnen geschrieben; denn die Zukunft gehöre den positiv Denkenden und nicht den ewig Rumnölenden und -nörgelnden. Von "intelligenten Optimisten"ist die Rede.

An dieser Stelle halte ich als gestrandete Freiberuflerin inne und frage mich selbstkritisch, wieso ich dieses Wochenende zuhause nörgelnd auf meinem Blog verbringe, anstatt mich auf dem Zukunftskongress in positivem Denken zu trainieren? Ein Blick in die Eigen-PR der Kongressveranstalter nimmt mir die Antwort ab: Auf die Frage "Wie könnte die Zukunft für freie Journalisten aussehen?" antwortet eine der geladenen, nicht unprominenten Referentinnen:
"Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, wie die Gegenwart für freie Journalisten aussieht ... Vieles ist offenbar erstaunlich schlecht bezahlt. Das Gute daran: Für wenig bis gar kein Geld das tun, was man gerne tut, ist eine zukunftssichere Branche."
Klingt das nicht intelligent optimistisch? So viel positives Denken steckt an und rechtfertigt meine Entscheidung, zuhause zu bleiben, um für kein Geld das zu tun, was ich gerne tue, nämlich zu bloggen, und sei es nörgelnderweise. Zwar kann ich nicht "Zukunftssicheres" darin erkennen, wenn ich für kein Geld etwas tue, was ich gerne tue, aber so war das ja auch bestimmt nicht gemeint; wer den freischreibenden Nachwuchs dazu anstiftet, für wenig bis gar kein Geld das zu tun, was er eh gerne tut, der meint mit "zukunftssicherer Branche" wohl eher jene Branchen, die am naiven Idealismus der optimistischen Jungspunde gut verdienen. Aber wahrscheinlich ist das nur mein Nörgel-Ich, was sich da querlegt. Lassen wir das.

Weil das in der Eigen-PR vielbeschworene positive Denken ("Unternehmertum bedeutet immer Wettbewerb. Das geht mit Optimismus, Erfahrung und Vertrauen in das eigene Können.") bereits treffsicher zerlegt worden ist von Martin Reeh (Jungle World) -
"Subjektive Erregungszustände als entscheidender Erfolgsfaktor - das ist eine Aufstiegs-Esoterik, von der man eigentlich dachte, dass sie sich mit dem Absturz der New Economy und ihren Motivationsgurus erledigt habe."
- beschränkt sich mein Nörgel-Post im weiteren auf die Strategie der individuellen Markenführung, die den emporstrebenden Jungschreibern nahegelegt wird, um in der freien journalistischen Wildbahn zu reüssieren.

"Die Marke Ich - Selbstvermarktung und Spezialisierung" heißt einer der Workshops auf dem zukunftsweisenden Kongress, wo freie Journalisten lernen sollen, "ein unverwechselbares Produkt" anzubieten (oder am besten gleich selbst eines zu werden). Klingt das nicht fesch? Mach' dich zur unverwechselbaren Marke, feature-dich-selbst-wie-die-Hölle, hau' am besten noch ein einzigartiges Online-Logo drauf, verpack' das Ganze schick, und los kann's gehen mit der Freischreiberei. Was, du hast dein persönliches Alleinstellungsmerkmal noch nicht auf deine Website gemeißelt? Dann kann's ja nichts werden mit dem Erfolg. Hat in der hinteren Reihe jemand was von 'Medienprekariat' gemurmelt? Nicht doch, ganz böses Wort, wir wollten doch pessimistische Untertöne außen vor lassen!

Von Markenstrategen lernen heißt siegen lernen, haben sich die Kongressvermarkter wohl gedacht. Dieses in eigener Sache empfohlene Marketing hat es mir angetan. Es führt mich in Versuchung, hinabzusteigen in die Niederungen der mir täglich begegnenden Markenwelten im Lebensmittelhandel; dort, wo all die Luxus-, Premium-, Billig-, Handels-, No-Name- und Eigenmarken ihr Eigenleben führen und wo, wenn nicht alles täuscht, viel gestorben wird. Es wird auch viel gesprochen vom sogenannten Markensterben - "Der Markenfriedhof wird immer größer" lautet eines der treffendsten Bonmots. Nur leider ist dieser plötzliche oder schleichende, jedenfalls voll in Gang befindliche Markentod im Konsumgüterbereich kein anschlussfähiges Thema auf dem Zukunftskongress. Ich halte das für eine trügerische Wahrnehmungslücke.

Na ja, höre ich schon: Ist doch bloß so 'ne Metapher, das mit der Marke, damit das Ganze schön griffig wird. Dagegen meine ich: Wenn ich mich schon einer Metapher bediene, sollte ich auch des Metaphernumfeldes gewahr sein und dieses ausloten, statt wild drauflos zu metaphern. Schließlich wurde das Markenrad nicht erst gestern erfunden. Also, wie läuft's denn so, in der schönen neuen Markenwelt, an welche sich metaphorisch angelehnt wird?

Gar nicht gut läuft es dort. Es werden von den Regalen des Handels mehr Marken weggewischt, sprich ausgelistet, als neue hinzukommen. Dort ist die Rede von Markeninflation, Markenerosion, und längst hat sich der Begriff Markenflimmern etabliert. Markenflimmern bedeutet: Es ist einfach zu viel da, zu viel von allem und jedem, zu viele Marken, zu viel bunt, zu viel Auswahl, zu viel Auswahlstress und natürlich viel zu wenig Platz, um all den stetig nachrückenden Marken eine angemessene Regalheimat zu bieten. Also raus damit.

Ein Markenprodukt, soll es es denn erfolgreich werden, bedarf eines Marktes, einer breiten Nachfrage, einer großen, zahlungswilligen Kundschaft. Viele Markenprodukte bedürfen einer noch breiteren Nachfrage und einer noch größeren, noch zahlungswilligeren Kundschaft. Zwar kann ich mir vorstellen, dass die Nachfrage nach Freischreibern wächst, vielleicht sogar die Nachfrage nach freigeschriebenen Markenprodukten; aber dass die Kundschaft sich in irgendeiner Weise zahlungswilliger gerieren könnte als heute - dafür sehe ich beim besten Willen keine Anzeichen. Was passiert mit Markenprodukten, für die gutes Geld auszugeben die Kundschaft nicht bereit ist? Sie werden verramscht. Damit wieder Platz auf dem Regal ist. Ist natürlich jammerschade um all die schönen bunten Marken, aber dafür gibt es ja den Markenfriedhof.

Allerdings sterben die meisten todgeweihten Marken nicht von heute auf morgen; vielmehr siechen sie eine ganze Weile vor sich hin, quälen sich mit sinnlosen Neupositionierungs- und Verkaufsförderungsmaßnahmen, lassen nichts unversucht, bis irgendein Marketingmensch ihnen schließlich die traurige Botschaft überbringt, dass das Boot so voll sei wie das Regal verstopft und der Markt sowieso. Bis dahin darf sich die erfolglose Marke dem stetig anwachsenden Markenprekariat zurechnen.

Nicht wenige einst erfolgreiche Premiummarken wurden inzwischen von einer Flut billiger No-Name-Marken erfolgreich verdrängt. Wobei die No-Name-Marke keineswegs von schlechterer Qualität sein muss als ihr teurer Vorgänger, nur bietet sie sich eben mit deutlichem Preisabstand nach oben feil und wird deshalb gern gekauft.

So viel zum Erfolgsrezept Marke. Behüte Gott, dass die Nachfragerseite im vorliegenden Fall nicht irgendwann das Markenflimmern kriegt. Vielleicht lacht sie sich auch einfach tot über all die vielen Markenfrösche, die verzweifelt in der Milch strampeln, ohne dass aus ihr jemals nahrhafte Butter würde.

Freitag, 17. September 2010

Road Popper


Nein, nicht was jetzt alle denken.


Sondern etwas ganz Cooles: ein Flaschenöffner für unterwegs.

Extem cool, aber auch extrem durchgeknallt - kostet mit Gold-Platin-Beschichtung schlappe 43 Euro und 51 Cent.
Indiskutabel.
Aus rostfreiem Stahl immer noch 31 Euro und 24 Cent.
Immer noch indiskutabel.

Gut, mach' ich halt die Flaschen weiter mit dem Fahrradschlüssel auf.
Aber haben wollen täte ich das Edelteil unter meinem Sattel schon gern.

Ich hab' den falschen Beruf.

Donnerstag, 16. September 2010

Gäste


Als ich heute vom Keller hoch ins Lokal kam, saß an einem Tisch eine nette blonde Frau und wärmte sich durchfroren die Hände an einer Tasse Kaffee. Sie kam mir bekannt vor, ich wusste aber nicht, woher. Ihr schien es umgekehrt genauso zu gehen. Neugierig musterte sie mich von oben bis unten - schwarze Schürze, rote Schuhe, blaue Kapuze auf dem Kopf, alles von zweifelhafter Sauberkeit - und fragte mich: "Arbeitest du hier?"

Ich bejahte. Dunkel meinte ich mich zu erinnern, die Frau vor unendlich vielen Jahren hier im Service erlebt zu haben. Oder auch nicht. Es ist so schwer, sich an Zeiten zu erinnern, an die man sich kaum mehr erinnern kann. Ich schaute die Frau an. Die Frau schaute mich an. Ihr Gesicht war offen. Sie rührte in ihrem Kaffee und sagte halb fragend, halb feststellend: "Ich dachte, du wärst hier mal Gast gewesen?" Da musste ich aus der Tiefe meines Bauches lachen und rief: "Das dachte ich auch mal!"

Sie verstand sofort und grinste breit. Solche Menschen gibt es, aber es gibt davon viel zu wenige. Menschen, die nicht innerlich (oder auch physisch) davonlaufen, wenn sie einer Putzfrau gegenüberstehen, die sie aus einem ganz anderen früheren Leben kennen. Menschen, die da bleiben und verstehen und darin einen Grund zum Lachen erkennen. Menschen, die nicht ausweichen, sondern den Blickkontakt suchen. Solche Menschen sind eine Wohltat.

"Schlechte Zeiten, was?", antwortete sie, während sie über ihren Kaffee blies und ihre Worte nickend bekräftigte. In diesem Moment hätte ich rein gar nichts dagegen gehabt, sie als Putzkollegin an meiner Seite zu haben. Es gibt Menschen, in deren Gegenwart hebt sich die Stimmung irgendwie von allein.

Schlechte Zeiten. Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen, und so resümierte ich: "Es is', wie's is'", was die hinterm Tresen wienernde Frau Übermop - immer noch im Krächzmodus, aber des rustikalen Reimens mächtig - zu der Bemerkung hinriss: "Schiefer Arsch,
schiefer Schiss".

Womit das Thema erschöpfend behandelt wäre.

Mittwoch, 15. September 2010

Gangster


Ein kaputtes Ventil am hinteren Fahrradschlauch trieb mich heute in das Asyl meiner Wahl. Fred im rot gebatikten T-Shirt beäugte die Angelegenheit kritisch und empfahl mir: "Geh nach hinten in die Werkstatt zum Insel-Gangster" (= Giuseppe aus Sizilien aus der Migranten-'Generation Chance', mehr dazu weiter unten). Ich schob das Fahrrad in die Werkstatt. Keiner da. Laut rief ich: "Wo ist denn der Insel-Gangster, bitte?" Aus dem Off tönte ein blutrünstiges "Ha!", und schon kam Giuseppe in die Werkstatt gestürmt. Zur Begrüßung kniff er mir in die Wange und säuselte: "Mein süßes Bastardenhäschen!" Der Typ ist so was von cool.

Dann inspizierte er das Ventil und sprach nur noch mit ihm. "Du armes Ding, was hat sie mit dir gemacht? Sie hat Gewalt angewendet, ich seh' es dir an", was leider zutraf, denn nach der letzten Flickaktion hatte ich den Reifen sehr martialisch - weil ungeduldig - aufgepumpt. Also Schlauch runter, neuen Schlauch drauf. Giuseppe verpasste dem Rad einen von diesen angeblich "unplattbaren", sauteuren Schläuchen; bevor ich protestieren konnte, blinzelte er zwischen den Speichen zu mir rüber und nannte mir einen mafiös guten Preis. Der Bastardenhase willigte freudig ins Geschäft ein.

Kunze erschien mit einem Postpaket unter dem Arm. Mein Rucksack war da! Perfekte Größe, perfekte Passform, fühlt sich im Rücken an wie eine zweite Wirbelsäule - grandios. Ich war vor Freude ganz aus dem Häuschen, bis mich Kunze erstaunt fragte, wieso ich ihn eigentlich dauernd Kunze nenne, was mich insofern in Verlegenheit brachte, als ich dem Kunze ja nur aus blogtechnischen Gründen das Pseudonym Kunze gegeben habe, im wirklichen Leben heißt Kunze natürlich anders, trotzdem sagte ich ganz automatisch 'Kunze' zu ihm - kann man mal sehen! - und geriet in gewisse Erklärungsnöte, was Giuseppe zu der Bemerkung veranlasste: "Mir scheint, die Bastardenhäsin ist nicht ganz koscher", worauf der inzwischen anwesende Bruno knurrte: "Red gefälligst deutsch!", was von Giuseppe gekontert wurde mit: "Wieso denn, noch nicht mal der deutsche Hase findet die richtigen deutschen Worte."

Kurzum, es war mal wieder so richtig zum Auftanken.

Zum Auftanken fand ich auch diesen Beitrag in der Frankfurter Rundschau von Cem Gülay, Autor des Buches "Türken-Sam. Eine deutsche Gangsterkarriere". Gülay sieht nicht nur drei, sondern bereits sechs Deutschtürken-Generationen, zeichnet ihre Biografien nach und formuliert präzise, systematische, knappgefasste Thesen. Ich lese und verstehe. Ich verstehe so vieles. Es ist alles so klar.

Was ich nicht verstehe, ist, warum die FR sich langatmig darüber wundert, dass sich vor einem Jahr "kein Mensch für Thema und Buch interessierte", ganz "im Gegensatz zur jetzigen Debatte, die von Thilo Sarrazin und seinem Buch angestoßen wurde". "Woran lag das?", fragt die Zeitung fettgedruckt und reichlich scheinheilig, denn es findet sich bisher in der FR selbst keinerlei Besprechung, noch nicht einmal eine Erwähnung von Gülays Buch, so dass die Vermutung naheliegt, dass auch die FR sich weder für Thema noch Buch interessiert hat, dafür im Gegenzug der jetzigen Sarrazin-Debatte breitestmöglichen Raum gibt. Über so viel Sichdummstellen kann ich mich ärgern.


Dienstag, 14. September 2010

Im Schweiße deines Angesichts


Eine gute Putzfrau geht putzen, auch wenn sie krank ist. So weit waren wir schon. Trotzdem ist, wenn zwei das Gleiche tun, es noch lange nicht dasselbe.

Mrs. Mop zum Beispiel fuhr in der Hochblüte ihrer Erkältung mit angezogener Handbremse und hat ihr Arbeitstempo gedrosselt. Sie hat sich in der Zeit sogar geweigert, das Kühlhaus zu putzen, weil es ihr dort zu kalt war. Keine zehn Pferde hätten sie in das verdammte Kühlhaus gebracht. Auch kein Ganzkörpergrobstrickanzug mit Sehschlitz. Auch kein dreifacher Stundenlohn. Basta.

Frau Übermop hingegen legt sich doppelt und dreifach ins Zeug. Wobei es sie, wenn wir schon am Vergleichen sind, erkältungstechnisch um einiges härter getroffen hat als mich. Dennoch schuftet sie wie zehn Pferde. Trägt unentwegt ihre Zewa-Rolle unterm Arm mit sich herum, schniefend, triefend, mit leicht fiebrigem Glanz in den Augen. Schuftet sich halbtot. Ich kann es nicht fassen.

"Du spinnst", sagte ich zu ihr in beinahe rüdem Ton. Es kam keine Antwort. Es konnte keine Antwort kommen, weil Frau Übermops Stimme in Mitleidenschaft gezogen war. Darum gab es keinen weiteren Disput. Ich stand da und konnte es nicht fassen. Sie wirkte wie ein aufgezogenes, aber entkräftetes Uhrwerk, was jeden Augenblick zusammenzubrechen droht. Schwer zu ertragen.


Montag, 13. September 2010

Übertragung


Als ich heute früh das Fahrrad vor dem Restaurant parkte, waren durch die gekippten Fenster laute, vitale Geräusche zu vernehmen. Sie klangen vertrauter als mir lieb war. Drinnen hustete, nieste und schneuzte es weltmeisterlich. Oh je, dachte ich. Jetzt hat's die Übermop erwischt. Und das, wo die Mop doch gerade mal so übern Berg ist. Ob ich noch schnell zur Nachtapotheke fahre, überlegte ich, und mir einen Mundschutz besorge? Da stand sie schon in der offenen Tür mit einer Rolle Zewa unterm Arm. Riss Blatt für Blatt ab und hörte nicht mehr auf sich zu schneuzen.

Schamlos fragte ich sie mit einer gewissen Strenge in der Stimme, warum sie um Himmels willen nicht im Bett geblieben sei? "Bist du wahnsinnig?", schnaubte es zwischen den Papiertüchern hervor, "ich kann doch den Betrieb nicht im Stich lassen." Bist du bescheuert?, wollte ich fragen, ließ es aber, weil es ja noch nicht so lange her ist, dass ich meine eigene Dummheit ventiliert habe, auch wenn meine etwas anders gelagert war als die von Frau Übermop. Trotzdem schaffte es mein Zeigefinger, ohne mein Zutun mir an die Stirn zu tippen.

Frau Übermop baute sich vor mir auf wie der leibhaftige Vorwurf: "Du bist schuld, du hast mich angesteckt!" Wer wollte da widersprechen? Die Wahrscheinlichkeit war zumindest groß. Ich entschuldigte mich und versprach, es werde nicht wieder vorkommen, weil ich bei der nächsten Erkältung im Bett bleiben würde. "Untersteh' dich!", fing sie an zu krawallen und wollte tief Luft holen, was in einen mörderischen Hustenanfall mündete. Kenn' ich alles. Ich klopfte ihr auf den Rücken, bot ihr ein Eukalyptusbonbon an und verschwand in die Küche.

Danach gaben sich die Lieferanten die Klinke in die Hand. Mop und Übermop husteten sich durch ihre Reviere. Einmal blieb sie im Kücheneingang stehen und fragte mich: "War das dein Ernst vorher?" Bevor ich bejahen konnte, klingelte das Telefon. Frau Übermop nahm krächzend Reservierungen entgegen. Dann kam der Schornsteinfeger. Nach ihm der Postbote. Schließlich einer der Geschäftsführer. Wir beschlossen, das Gespräch morgen fortzusetzen.

Sonntag, 12. September 2010

Hoch zu Ross


Mit dem Fahrrad von, sagen wir, München nach Frankfurt? Warum nicht? Warum nicht gleich zu Pferde auf einem körpergerecht geformten Sattel? Ich bin ja immer für Economy-Lösungen zu haben - aber in diesem Fall würde ich doch lieber auf den preisgünstigen Kurzstreckenflug verzichten, mich auf meinem Fahrradsattel plazieren und losstrampeln. Danach hätte ich zwar einen Hintern aus Beton, dafür das erhebende Gefühl, Geld gespart statt ausgegeben zu haben.

Im ersten Moment dachte ich tatsächlich, jetzt bestücken sie ihre Economy-Class mit Fahrradsatteln auf Kinderhochstühlen. Um Platz zu sparen, was sonst. Schließlich ist das Prinzip Sardinenbüchse noch längst nicht ausgereizt. Doch nein, das neumodische Gestühl ist Pferdesatteln nachempfunden, und die italienischen Designer scheuen sich nicht, das (so wie es aussieht) knochenstauchende Sitzerlebnis namens SkyRider als "komfortables" Cowboy-Feeling zu verkaufen:
"...komfortables Sitzen auf Flügen mit bis zu drei Stunden Flugzeit. Der Sitz ist wie ein Sattel. Cowboys reiten täglich acht Stunden auf ihren Pferden und fühlen sich immer noch wohl im Sattel."
Nun habe ich zwar immer gedacht, ein Reiter sitzt auf dem Pferd, nicht auf dem Sattel, und hier ist ja weit und breit kein Pferd zu sehen, aber egal. Es sind ja auch keine Steigbügel zu sehen, und Cowboyhüte werden auf den Flügen bestimmt auch nicht verteilt. Trotzdem hätten sie realistischerweise das Model ruhig in die zweite Sattelreihe setzen können, denn bekanntlich reiten Cowboys gern acht Stunden täglich mit dem Rücken des Vordercowboys direkt vor der eigenen Nase durch die wilde Prärie.

Der neue Economy-Stuhlgang ließe sich noch optimieren mit integrierten Pisspötten unter den Satteln; schon hätte die Airline die raumgreifenden Toiletten eingespart. Warum nicht gleich die Passagiere mit großen Haken an mobilen Rundstangen aufhängen, ähnlich der Logistik in chemischen Reinigungsbetrieben? Jeder bekommt seinen individuellen Katheter angeschraubt? Man könnte der Einfachheit halber die Flug'gäste' auch an einem Bein aufhängen und sie wie Fledermäuse ein paar Stunden unter der Kabinendecke baumeln lassen.

Ich warte auf den Tag, wo Lautsprecherdurchsagen in den Terminals die absoluten Preisbrecherangebote verkünden: Verehrte Fluggäste, geben Sie sich doch gleich selbst als Gepäckstück auf.

Samstag, 11. September 2010

Was gehustet


Wie ich mich so durch den Tag schniefe, schneuze und röchele, erreicht mich per Email die folgende multikulturelle Guten-Morgen-Fanfare mit voll integrierter Grußbotschaft:




Bereits beim ersten Anhören wurde meine Stirnhöhle angenehm durchlüftet, gefolgt von befreiendem Lachen, wiederum gefolgt von einem mörderisch anstrengenden, jedoch nicht minder befreienden Hustenanfall.

Beim zehnten Anhören dachte ich, der kleine Soundtrack ist zu schade, um einsam und allein auf meiner Festplatte rumzuhängen. Also röchelte ich mich durch alle möglichen Webspace-Anbieterseiten, schneuzte mir einen Gratis-Account zurecht, schniefte den Sarrazin-Muezzin-Schnipsel hoch, hustete mich durch das Verlink-und-Einbettungs-Gedöns und, hatschi!, habe es geschafft.

Fühlt sich gut an. Besser als eine Doppelpackung Hustinetten.


PS:
Es ließ sich nicht rekonstruieren, wer eigentlich der Urheber dieser genialen musikalischen Grußbotschaft ist. Wie das halt so ist, wenn Emails durch endlose Weiterleitungsschleifen kreisen. Sollte sich jemand auf die Copyright-Füße getreten fühlen, möge er sich bitte ohne Handschellen bei mir melden. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass der Macher dieser mp3-Datei etwas dagegen hat, wenn sein Werk Verbreitung findet.

Freitag, 10. September 2010

Im Schwitzkasten


Wie geht das schöne Sprichwort? Aus Dummheit wird man klug. Oder so ähnlich. Ist ja auch logisch, denn es kommt kein Mensch klug auf die Welt. Vor allem in den ersten Lebensjahren machen wir ziemlich viele Dummheiten, lernen daraus und werden immer klüger. Oder so ähnlich. Irgendwann sind wir groß und klug und machen keine Dummheiten mehr, außer manchmal, wenn wir Schnupfen haben.

Zeit, um vom Plural in den selbstkritischen Singular zu wechseln. Ich ging also gestern mit blühendem Schnupfen putzen und tat dies heute erneut, weil ich unfähig war zu lernen, dass ich mir nach dem gestrigen Arbeitstag keinen Gefallen tue, wenn ich heute noch einen draufsetze. Das nenne ich dumm. Denn während ich gestern früh einen ganz normalen Schnupfen hatte, bin ich jetzt krank. Jedenfalls fühle ich mich richtig krank statt bloß verschnupft.

Lernen hätte ich zum Beispiel können, dass die typischen Bewegungsabläufe beim Putzen - das ständige Bücken - sich fatal auswirken auf den Druck im eh schon brummenden Schädel; dass die in Reinigungsmitteln enthaltenen Chemikalien und Aromastoffe die eh schon gereizten Schleimhäute zu bösartiger Blüte bringen können; dass eingeatmeter Staub den eh schon kratzenden Hals nicht beruhigt, sondern aggressiv herausfordert; kurzum, dass Putzen bei Schnupfen nicht gesünder macht, sondern kränker.

Nach zwei Tagen habe ich es gelernt. Auf die harte Tour.

Wäre ich gestern zuhause geblieben, hätte ich zwar nichts verdient (mein Arbeitsverhältnis beinhaltet keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), wäre jedoch durch einen Tag Bettruhe und Bravsein heute wieder frontbereit gewesen. Wieso blieb ich nicht zuhause? Weil ich einem eingefleischten Reflex gefolgt bin, der besagt: Kranksein darf nicht zu Arbeits-, sprich Verdienstausfall führen - der typische Reflex des Freiberuflers, der ich ja mein Leben lang war und bin. Ein harmloser Schnupfen? Ein kratzender Hals? Waren in meinem bisherigen Selbständigendasein nie ein Thema. Da ich sowieso meist von zuhause aus operierte, weil dort meine Basisstation war, machte ich in meinem Arbeitsstil einfach weiter, zwar hustend und schniefend, aber dabei die Freiheit genießend, stetig zwischen Bett, Badewanne und Schreibtisch zu pendeln und eben irgendwann Überstunden zu machen, wenn mein Gesamtzustand dies erlaubte. Alles in allem hat das ganz gut funktioniert.

Nur, eine Kneipe ist halt kein Home Office. Und ein Feudel ist kein Manuskript, das man zum Korrekturlesen auch mal mit ins Bett nehmen kann. Und eine Putzfrau, möge sie noch so freischaffend sein, kann nicht zwischen Küche und Keller mal eben ein heißes Bad zur Entspannung nehmen. Obendrein sollte sie es vermeiden, in gemütlich ausgefransten Jogginghosen, ungebügelten Schlabber-T-Shirts und XXL-Stricksocken durch die Gegend zu schlurfen, ganz zu schweigen von rotkarierten Pyjamahosen mit blauweiß gestreiften Pyjamaoberteilen. Zuhause kann einem all das egal sein, was erheblich zur allgemeinen Entspannung beiträgt und die Leistungsfähigkeit trotz Krankheit unterstützen kann.

Leider kam von Frau Übermop statt eines moralischen Beistandes die Bemerkung, sie habe, seit sie in diesem Restaurant arbeite, "noch nie krankgemacht". Meinen Einwand, hier ginge es nicht ums Krankmachen, sondern ums Kranksein, überging sie großzügig, indem sie fortfuhr, sie habe es sich nie leisten können "krankzumachen", weil ihr das Geldverdienen stets wichtiger gewesen sei. Was ich selbstverständlich nachvollziehen kann, sonst wäre ich ja nicht gestern und heute wie niesendes Falschgeld durch Küche und Keller getapert.

Empfindlich reagierte ich erst, als ich einen gewissen heroischen Stolz aus ihren Worten heraushörte. Ich finde, es ist das eine, trotz Krankheit arbeiten zu gehen, weil man das Geld braucht, und ein gänzlich anderes, sich damit zu brüsten. Mir war in dem Moment so, als würde mir ein geballtes Stück zutiefst verinnerlichter Leistungsideologie präsentiert, und ich nahm deutlich wahr, dass diese ideologisch unterfütterte Heldenpose meiner angeschlagenen Gesundheit überhaupt nicht zuträglich war. (Übrigens, der Gesundheit von Frau Übermop genauso wenig, deren gesundheitlicher, namentlich orthopädischer Gesamtzustand sich durchaus als chronisch angeschlagen bezeichnen lässt. Deshalb bin ich ihr ja vor anderthalb Jahren zur Seite gestellt worden.)

Heute mittag habe ich einen nicht geringen Teil des Geldes, was ich gestern und heute verdient habe, investiert in eine große Flasche Eukalyptusbad, eine Familienpackung Papiertaschentücher, Nasensalbe, Brustbalsam, Halstabletten, Erkältungstee, Inhalationskonzentrat sowie eine Wärmflasche mit Kuschelbezug. Bin im Drogeriemarkt an der Kasse Schlange gestanden, hatte dabei genügend Muße, über den tieferen Zusammenhang zwischen Geldverdienen, Geldausgeben und Dummheit zu sinnieren. Lasse mir gerade eine Badewanne mit Eukalyptus einlaufen, habe die Wärmflasche ins Bett gelegt, den Tee daneben gestellt und werde mich sogleich einer ausgiebigen Schwitz- und Schlafkur unterziehen.

Übers Wochenende wird sich das Leiden schon auskurieren lassen, damit ich am Montagmorgen wieder schön gesund bin und wieder schön Geld verdienen kann. Ich glaube, eine Kneippsche Spezialkur mit Doppelaufguss wäre nicht verkehrt: als erstes die Erkältung, danach die Dummheit ausschwitzen.

Donnerstag, 9. September 2010

Verschnupft


Eben von den DLF-Frühnachrichten wachgeworden. Dann den "Informationen am Morgen" gelauscht. Ich könnte keine einzige dieser Informationen inhaltlich wiedergeben, denn der Sprecher war so stockheiser gewesen, dass ich nur fasziniert der kieksend gebrochenen Stimme zuhörte, die klang wie ein verrostetes Beil. Bis zehn vor sechs kiekste er sich zum Gotterbarmen durch die Sendung, dann wurde er endlich - kommentarlos - von der gut geölten Stimme des Nachrichtensprechers abgelöst.

Der arme Kerl, dachte ich, wieso bleibt der nicht im Bett? Erst während ich meine Regenklamotten überziehe und den Rucksack packe, fällt mir auf, dass ich seit gestern von einem mittelheftigen Schnupfen geplagt werde, der sich heute früh in krachenden Niesexplosionen, Brummschädel und verstopften Atemwegen entlädt. Falsch - aufgefallen sind mir die Symptome natürlich, schließlich leide ich darunter; aber erst, als ich fix und fertig angezogen bin und mir noch ein Tässchen heiße Zitrone gönne, steigt mir aus dem dampfenden Gebräu die Frage entgegen: Wieso bleibst du eigentlich nicht im Bett?

Keine Zeit zum Beantworten der Frage. Noch ein paar Mal kräftig niesen, dann rauf aufs Rad. Es regnet. Ich niese. Ich schniefe. Im Hals kratzt es. Wieso bleibe ich eigentlich nicht im Bett? Vielleicht fällt mir unterwegs die Antwort ein.

Mittwoch, 8. September 2010

Betonlaufmaschen


Manchmal wird während der Kaffeepause kein Wort gesprochen. Stattdessen schauen Frau Übermop und Mrs. Mop beide mit offenen Mündern zum Fenster hinaus und können nicht fassen, was sie dort beobachten. Nach einer Weile schauen sie sich gegenseitig mit großen Augen an und fragen sich wie aus einem offenen Munde: "Verstehst du das?", und dann sagen beide gleichzeitig: "Nein." Dann schauen sie weiter zum Fenster hinaus und können nicht fassen, was sich dort abspielt.

Das war gestern so und heute schon wieder. Draußen spielte sich folgendes ab:

Das Restaurant liegt ja inmitten einer neugeschaffenen urbanen Idylle. Viel Freifläche zum Flanieren und beschaulichen Sitzen; ein großer, nach modernsten Gesichtspunkten konzipierter Kinderspielplatz; mit einem Verkehr, der dermaßen beruhigt worden ist, dass man, auf einem der vielen naturbastfarbenen Betonklötzern sitzend, fast einen Herzkasper bekommt, wenn irgendwo ein Auto hupt. Um diese Betonklötzer geht es.


Das Foto ist von letztem Sommer. Inzwischen ist alles Knallbunte entfernt; es stehen nur noch einheitliche naturbastfarbene Betonklötzer mit Naturholz-Sitzauflage herum wie der linke Klotz, auf dem eine Frau sitzt. Selbstredend gehört auch die hässliche weiße Markierung der Vergangenheit an; heute ist alles in gesprenkeltem rotem oder grauen Sandstein gehalten, sehr angenehm fürs Auge. Zwar hatten die hässlichen Streifen eine nicht unwichtige Funktion, nämlich auf das Parkverbot hinzuweisen - aber den Stadtteilgestaltern waren sie ein ästhetischer Dorn im Auge. Irgendwie, dachten sie, würden es die Autofahrer auch ohne Streifen schon merken, dass es hier keine Parkplätze zu ergattern gab: Schließlich würden sie ja sehen, dass überall Betonklötzer zum Sitzen stünden, woraus selbst der dümmste, parkplatz-obsessivste Autofahrer schließen müsste, dass hier kein Abstellplatz für dumme Autos sein könne, sondern eine sogenannte "öffentliche Spiel- und Begegnungsstätte".

Nun hat das schon einen gewissen Charme, diese angedachte doppelte Funktionalität der Betonklötzer (a. drauf sitzen und b. sich freuen, dass die Parkplatzsucher sich ärgern). Doch alles Angedachte muss sich dem Härtetest der Praxis aussetzen, und in den Niederungen des Alltags hat schon manche Theorie alt und grau ausgesehen. Oder beigefarben, wie im vorliegenden Fall.
Und damit zur bizarren Szene des gestrigen und heutigen Tages.

Ein LKW mit integrierter Baggerschaufel und großer Ladefläche steht am Rande der Begegnungsstätte und lädt im Zeitlupentempo - die Dinger sind sauschwer - beigefarbene Betonklötzer von der Straße auf die Ladefläche, fährt langsam ein paar Meter, hält an, lädt an anderer Stelle Betonklötzer ab, jedoch nicht alle (manche bleiben auf der Ladefläche stehen), lädt dort wieder (andere) Betonklötzer auf, fährt ein paar Meter, lädt sie wieder ab. Jeder Betonklotz wird von zwei Männern eingehend begutachtet, bevor sie entscheiden, ob er stehen bleiben oder umplaziert werden soll. Jede Neuplazierung wird akribisch abgemessen.

Die monströse Baggerschaufelzangenkonstruktion machte einen Höllenlärm inmitten der beruhigten Begegnungsstätte, und das schon seit über einer Stunde. "Man wundert sich über nichts mehr", hatte gestern Frau Übermop den mysteriösen Betonklotz-Transfer kommentiert, und heute, wo sich der Spuk wiederholte, hat sie sich nur noch gewundert. Mich hielt die Neugierde nicht mehr am Ort; ich trabte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wollte von den Kerlen wissen, was da los sei, und bekam die Antwort: "Wir sollen illegale Parkplätze verhindern", weshalb sie, die Kerle, den Auftrag hätten, die Klötzer an die entsprechenden No-Go-Areas zu verfrachten.

Mir blieb der Mund schon wieder offen stehen. Seit anderthalb Stunden fand hier eine städtische Parkverhinderungsmaßnahme statt unter Einsatz aller erdenklicher Ressourcen - menschliche Arbeit, Baustellen-Spezialfahrzeug, Motorenenergie, und Zeit, viel, viel Zeit. Um Betonklötzer von hier nach dort zu schleppen. Anstatt einfach ein paar Parkverbotsschilder aufzustellen. Nein, sagte der eine Kerl, Parkverbotsschilder würden das Ambiente verschandeln, jetzt, wo doch der ganze Stadtteil so fein herausgeputzt sei. Gegrinst hat er dabei wie der Satan persönlich. Aber gesagt hat er es ganz anerkennend.

"Der da drüben," sagte der andere Kerl und deutete auf einen silbergrauen BMW, illegal auf einer sogenannten Gehwegnase parkend, "der darf das nicht. Dort müssen wir jetzt zwei von den Betonelementen plazieren. Damit klar ist, dass das kein Parkplatz ist." Wobei es bis dato immer noch der BMW war, der sich dort plaziert hatte, aber egal. Ich fand das Ganze recht betonmäßig, so von der Idee, und meinte mich zu erinnern, gestern auf just jener ominösen Gehwegnase zwei beigefarbene Klötzer gesehen zu haben. Beide Kerle lachten verschwörerisch. "Das ist es ja. Wir haben außerdem den Auftrag, alle Betonelemente auf Schäden zu prüfen und die defekten zur Untersuchung abzutransportieren."

Den logischen Zwischenschritt zu vollziehen überließen sie mir: Wieso stehen zwei sauschwere Betonklötzer heute morgen nicht mehr an der Stelle, wo sie gestern noch gestanden hatten? Weil sie jemand mit Gewalt entfernt haben muss, vermutlich in der tiefen Nacht, wenn der Parkplatzmangel am schmerzlichsten ist und der Mensch - der motorisierte zumal - zum Schatten seiner selbst werden kann.

Ich stellte mir nächtliche Klötzer-Räumkommandos vor, verzweiflungsgetriebene, zu allem fähig, zu allem willens, Sinn und Zweck der Begegnungsstätte ad absurdum führend. Weil die Jungs mit dem Rücken zu dem BMW standen, konnten sie nicht sehen, dass der Silbergraue sich in dem Moment dezent rückwärts über den Bürgersteig davonschlich. Ich sah es mit offenem Mund. Weil die Jungs meinen offenen Mund sahen, drehten sie sich um und blickten auf eine leere Gehwegnase.

"Hui", lachte der eine Kerl, "da hat einer Lunte gerochen - dem seine Stoßstange hätte ich mir gern mal aus der Nähe angeschaut". Der zweite ergänzte: "Von so was gehen natürlich die Ecken der Betonelemente kaputt, und man kann den Leuten ja keine kaputten Sitzgelegenheiten zumuten", und anscheinend stand mein Mund schon wieder offen, denn der Satanskerl erklärte freundlich: "Manche Damen bekommen davon Laufmaschen an ihren teuren schwarzen Strümpfen", wobei er satansmäßig an meiner fleckigen Jeans herabschaute, "und das könnte Ärger geben. Den sollen wir verhindern."


Dieses Foto ist von März 2010. Der Mann saß allein auf der Bank mit einer Packung Knäckebrot und führte laute Selbstgespräche. Von weitem hatte es so ausgesehen, als hielte der Mann all den beigefarbenen Betonklötzern eine Standpauke. Ich erinnere mich noch gut, als ich mit dem Flaschenboy geräuschvoll an ihm vorbeigerumpelt kam, da hatte er mir einen unwirschen Blick zugeworfen, war aber gleich wieder bei seiner Sache gewesen.

Ich glaube, der Mann hat das mit der Spiel- und Begegnungsstätte gut verstanden. Ich nicht.

Dienstag, 7. September 2010

Haben wollen


Es gibt Dinge, gegen die stumpft man niemals ab, selbst wenn man sie fast täglich erlebt. Zum Beispiel Sonnenaufgänge. Zum Beispiel heute morgen - das war das Wildeste, was mir je an Sonnenaufgang begegnet ist: eine feuerrote Glut über den gesamten Horizont, wie der Widerschein eines gigantischen, gefräßigen Waldbrandes. Zu atemberaubend, um es mit Worten zu beschreiben.

Es gab mal eine Zeit, da habe ich Fotos von Sonnenaufgängen fast serienmäßig ins Blog gestellt, und dann kam eine Zeit, wo ich dachte, jetzt ist aber mal gut; wo ich überhaupt kein Bedürfnis mehr danach hatte, Sonnenaufgänge zu fotografieren und ins Blog zu stellen, und nachdem eine ganze Zeit das Bedürfnis weg gewesen war, brach die Zeit an, wo die Kamera weg war, weil ich sie eines Nachts dem Regen preisgegeben hatte. Kein Bedürfnis, keine Kamera - ein bedürfnisloses Leben wäre an dieser Stelle zu preisen, gäbe es nicht jene Augenblicke, wo meine Hand immer noch instinktiv an die Fotoinnentasche meines Anoraks fährt, um dann frustriert innezuhalten. So ein Augenblick war heute morgen.

Während der Fahrt ins lodernde Feuer hinein - ich fahre von Westen nach Osten - dachte ich über den dringend erforderlichen Neukauf einer Kamera nach. Nach meinem letzten Millionencoup hatte ich nämlich beschlossen, mich mit etwas Schönem zu belohnen. Schön heißt für mich: praktisch, funktional, Freude bereitend, mein Leben bereichernd und damit verschönernd. Also eine neue Kamera, was sonst. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass mich momentan nichts glücklicher machen würde als eine neue Kamera. Das irrsinnige Naturspektakel am Himmel tat sein übriges, um meine subjektive Bedürfnispyramide vollends zu manipulieren.

Zehn Minuten vor Erreichen meines Arbeitsplatzes fing es an zu regnen. Es hörte nicht mehr auf zu regnen. Es hat bis zum jetzigen Augenblick nicht aufgehört zu regnen. Es regnet in einer Tour. Es macht sich äußerst unangenehm bemerkbar, dass mein Fahrradrucksack nicht mehr so wasserdicht ist, wie er es mal war. Es war mir unsäglich lästig, nach Feierabend den Rucksack trickreich in zwei riesige Plastiktüten zu verhüllen, um seinen Inhalt vor Aufweichen zu schützen. Es soll die nächsten Tage weiterhin Hunde und Katzen regnen. Es war sonnenaufgangsklar, dass es mich nach Feierabend mit meinem weißen Plastik-Pixiklo auf dem Rücken in das nahegelegene Fahrradfachgeschäft meines Vertrauens ziehen würde. Es kam, wie es kommen musste: Nach längerem Fachpalaver und Erfahrungsaustausch mit Kunze kaufte ich einen großen Kurier-Rucksack - absolut wasserdicht, gut durchdachter Tragekomfort und so robust verarbeitet, dass der Rucksack mit großer Wahrscheinlichkeit mein kleines Leben überdauern wird.

Um genau zu sein, ich habe den Rucksack nicht gekauft, sondern bestellt. Jetzt fiebere ich ihm voller Vorfreude entgegen. Wenn ich Glück habe, ist er am Freitag da. Was gibt es Schöneres als einen soliden Kurier-Rucksack, allzeit verlässlich wie ein guter Kumpel? Ich kann es kaum erwarten.

Wie, eine Kamera? Hätte ich vor lauter Überschwang fast vergessen. Eine Kamera möchte ich haben, brauche sie aber nicht. Einen Fahrradrucksack brauche ich und möchte ihn haben. Einsnull für den Rucksack. Natürlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass die gute Qualität des Rucksacks ihren stolzen Preis hat; bei 79 Euro werde ich einige Putzüberstunden Zeit haben, um diese Investition wieder reinzuholen. Auf der anderen Seite ist der Rucksack nur halb so teuer wie die Kamera. Also habe ich doch, nach Lieschenmüllerhochrechnung, etwas gespart, oder nicht? Jetzt ertappe ich mich schon bei Überlegungen, wie ich die andere Hälfte sinnvoll verprassen könnte. Nieder mit dem Konsumwahn.

Montag, 6. September 2010

Undercover


Einerseits, andererseits.

Einerseits ist da eine kluge, mutige, sympathische Frau: die französische Reporterin Florence Aubenas, heute für das Wochenmagazin 'Nouvel Observateur' tätig. In den neunziger Jahren arbeitete sie während des Krieges zwischen Islamisten und Armee in Algerien; dann in Ruanda nach dem Völkermord an den Tutsi; dann im Irak, wo sie 2005 bei einer Recherche entführt und ein knappes halbes Jahr lang in einem Kellerloch eingesperrt war. Ihr jüngstes Projekt führte sie von Februar bis Juli 2009 in den Norden Frankreichs, nach Caen, einer Hafenstadt in der Normandie, wo die Fähren nach England anlegen und starten. Um das französische Prekariat aus der Nähe kennenzulernen, heuerte sie auf einer Fähre als Putzfrau an und reinigte dort nachts Kabinen und Toiletten.

Andererseits sagt Florence Aubenas so vollmundige Sachen wie: "Ohne die Erfahrung der Geiselhaft (im Irak) hätte ich mich das (den Putzfrauenjob in Frankreich) nicht getraut", und da musste ich dann doch dreimal schlucken - wieso, bitte, kann man als Französin in Frankreich nicht Putzfrau werden, ohne die Erfahrung einer Geiselhaft im Kreuz zu haben? Geht es nicht auch ein paar Nummern kleiner? Zum Beispiel so: Wenn die Not am größten ist und einem das Wasser bis zum Hals steigt, geht man eben zur Not auch putzen, sei es in einer Kneipe oder auf dem unteren Kabinendeck einer Fähre.

Andererseits ist die französische Journalistin und Tochter eines EU-Diplomaten ja nicht aus Not putzen gegangen, sondern weil sie ein Buch schreiben wollte; ein Buch darüber, wie es im französischen Prekariat so von "ganz unten" aussieht; das Buch einer Undercover-Journalistin über ein halbes Jahr Rollenspiel im Dreck, denn so heißt das Buch: "Putze. Mein Leben im Dreck" - auf den Spuren ihres Idols Günter Wallraffs wandelnd, wie sie freimütig bekennt. Offenbar braucht man, wenn man nicht aus Not, sondern im Rahmen eines Buchprojektes putzen geht, zuvor ein spezielles Härtetraining im Irak.
Mittlerweile hat sie das Unterschichten-Kostüm wieder abgelegt und ist ins Journalistenleben zurückgekehrt, als Reporterin an einer ziemlich langen Leine. Ihr Erfahrungsbericht hat es in Frankreich zum Bestseller gebracht.
Einerseits habe ich absolut nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand aus Publikations- und Verwertungsinteresse einen zeitlich begrenzten Selbstversuch als Putzfrau durchzieht.

Andererseits erwarte ich von solchen Unterschichtenschickalsverwertern so viel Respekt, Reflektion und damit Infragestellung der eigenen temporären Rolle, dass es einen Unterschied wie Tag und Nacht ausmacht, ob ich genau weiß, dass ich nach sechs Monaten Maloche das Autorenhonorar ein- und die Putz-Segel streichen kann, oder ob meine Perspektive nach sechs, nach zwölf oder nach achtzehn Monaten Putzen die von weiteren sechs, zwölf oder achtzehn Monaten Putzen ist. Geschweige denn die Perspektive von Putzfrauen vom Schlage einer Frau Übermop, die ihr Leben lang in diesem Beruf gearbeitet haben und ihn vermutlich auch im Rentenalter noch ausüben werden. Aus Not, wie gesagt.

Ich finde es bei solchen Undercover-Reportagen immer etwas vermessen, wenn die Experimental-Unterschichtler sich bei ihren Buchvorstellungen feiern lassen wegen der großen Authentizität ihrer Erlebnisdarstellung - wie authentisch kann einer das Unterschichtsleben erleben und darstellen, wenn der Tag nicht fern ist, an dem er das "Unterschichten-Kostüm" wieder ablegt?

Einerseits heißt es bei Autoren wie Aubenas und anderen Enthüllungsjournalisten immer, sie wollten "Menschen Gehör verschaffen, die sonst keines finden", gern auch "die Unsichtbaren ein Stück weit sichtbar machen". Das ist löblich und aller Ehren wert.

Andererseits kommen solche edel-selbstlosen Autorenmotive bei einer Putzfrau aus Not, Schrot und Korn eher schräg an, weil sie, die Motive, so unerträglich sozialpädagogisch-gefühlig artikuliert werden, dass ich mich des unguten Eindrucks eines klientelistischen Gekraultwerdens nicht erwehren kann.

Einerseits hat sie, die befristete Putzfrau, sich verdient gemacht um literarische "Menschenbilder" von "bewegender Dichte"; andererseits hat daran gut verdient die erfolgreiche Journalistin und Diplomatentochter. Das geht voll in Ordnung, und weil es voll in Ordnung geht, sehe ich überhaupt keinen Grund, warum die Herrschaften Enthüllungsjournalisten immer so tun, als seien sie im Auftrag des Herrn unterwegs und nicht etwa im Dienste der Geldschöpfung.

Einerseits gehen mir diese enthüllungsjournalistischen Selbstinszenierungen à la Florence Aubenas ziemlich auf die Nerven. Andererseits kann ich nicht umhin, diese Frau, wie schon erwähnt, sympathisch zu finden, denn sie sagt auch so kluge Sachen wie:
"Wenn der Schwache überleben will, muss er verstehen, wie der Mächtige denkt, während sich der Mächtige nicht darum schert, was dem Schwächeren durch den Kopf geht."
So ist es. Genau darin liegt die Chance des Schwächeren.
Use ya' loaf of brain, folks.

Sonntag, 5. September 2010

Dachgeschossprosa


"Ach, wenn man in einer schönen Nacht den bestirnten Himmel sieht, ist man sofort bereit, sich die Hose aufzuknöpfen, um allen Gekrönten aufs Haupt zu pissen."
Honore de Balzac



Samstag, 4. September 2010

Fahrradversteher


Zu den Segnungen meines Arbeitsplatzes gehört ein in der Nähe befindliches Fahrradfachgeschäft. Es ist das beste Fahrradfachgeschäft, in dem ich jemals Kundin wurde, und ich war schon in vielen Fahrradfachgeschäften Kundin, in manchen allerdings nur kurz, nämlich einmal und nicht wieder.

Beim Thema Fahrrad und Einzelhandel bin ich schrecklich wählerisch und furchtbar leicht zu irritieren, zum Beispiel durch zwangskumpelhaftes Anbiedern, oder durch genretypisches Geschnösele ("Ich bin Extrembiker, und was bist du?"), oder durch unpersönlich-pseudoverbindlich geschultes Verkäufergetue, dem es egal ist, ob es um ein Fahrradschloss oder ein Lebkuchenherz geht, Hauptsache Umsatz; oder durch anmaßende Beratungsleistungen, die die Lösung schon im voraus kennen, noch bevor das Problem artikuliert wurde. Es gibt noch hundert weitere Marotten, die ich in einem Fahrradgeschäft partout nicht ab kann, womit klar sein dürfte, dass ich selbst eine zweibeinige Marotte bin. Wenn es ums Fahrrad geht.

Doch jetzt habe ich in meiner ganzen Marottenhaftigkeit endlich ein Geschäft gefunden, das zu mir passt, mehr noch: Es zieht mich dorthin. Ich gehe richtig gern hin. Auf dem kurzen Weg vom Restaurant zum Geschäft freue ich mich regelrecht darauf.

Meistens werde ich von Fred oder Kunze empfangen. Kunze ist ein dürrer langer Schlaks mit wirrer Haarkrause und einem Bart, von dem man nie weiß, ob Kunze ihn einfach vergessen hat zu rasieren, weil er grade wieder am Tüfteln war. Kunze ist der leidenschaftlichste Fahrradtüftler, dem ich je begegnet bin. Fred ist ein noch längerer Schlaks mit langem blondem Pferdeschwanz und sympathisch rotem T-Shirt (immer). Er ist der Kommunikator des Ladens.

Als ich gestern einen Kurz-Rant zum Thema Straßenlaternen vom Stapel ließ, lächelte Fred nur milde und erwiderte sanft: "Siehst du, deshalb will ich dir ja diese Vorderlampe aufschwatzen", worauf ich schon tief Luft holen wollte, er mir aber zuvorkam: "...damit du nie mehr mit schlechter Laune hier reinkommst." Tja, so kann man mich kriegen. Es folgte ein halbstündiges Fachgespräch über das Preisleistungsverhältnis jenes fulminanten, jedoch schweineteuren Leuchtkörpers, an dessen Ende mir die Gegenargumente ausgingen und ich nur noch eines wollte: das fette Teil an meinem Lenker haben.

Zu diesem Zweck schob ich mein Fahrrad nach hinten in die Werkstatt, wo mich Giuseppe empfing. Giuseppe ist klein, stämmig, unglaublich wendig und beweglich, und während er sich um das aufgehängte Fahrrad herumschlängelte, begann er mit ihm zu reden. Mir ging das Herz auf - ein Fremder fängt an, sich mit meinen geliebten Rad zu unterhalten, als kenne er es schon ewig! "Meine Gute", sprach Giuseppe - nicht zu mir, sondern zur Fahrradkette - "meine Gute, dich hat sie aber ganz schön aushungern lassen", und dann, vorwurfsvoll zu mir gewandt: "Die Kette spricht schon die ganze Zeit zu dir, wieso hörst du ihr nicht zu?" Die Gute hatte in letzter Zeit tatsächlich vor Hunger geklappert, aber aus reiner Faulheit hatte ich sie auf Diät gesetzt.

Während Giuseppe die Kette mit Öl benetzte und sie dabei langsam durchlaufen ließ, fuhr er fort: "Ah, das gefällt dir, nicht wahr? Die reinste Wellness - wie schön, dich zufrieden schnurren zu hören", wohlgemerkt, seine Gesprächspartnerin war die Fahrradkette. Dann griff er zu einem weichen Lappen; bevor er ihn ansetzte, sagte er: "Jetzt kommt das Allerbeste, meine Gute, jetzt kommt das Peeling", sodann wurde meine Fahrradkette hingebungsvoll von überschüssigem Öl und alten Dreckpartikeln befreit. Ich stand daneben und war hin und weg.

Die Lenkerhalterung für das neue Leuchtmittel zeigte sich zunächst widerspenstig bei der Montage - kein Problem für den Fahrradflüsterer Giuseppe. "Mein Hase", - ohne Scherz, er nannte das verzickte Leuchtenklemmdings "mein Hase"! - also, "mein Hase, nun stell' dich doch nicht so an." Und tatsächlich, der Hase wurde unter seinen Händen gefügig und passte sich genau dem Lenkerdurchmesser an, "sehr gut, mein Hase, genau dort wollte ich dich haben!" Ist schon sehr speziell. Muss man mögen, so etwas. Ich mag so etwas.

"Mein Freund, du machst mir etwas Sorgen", sprach Giuseppe schließlich zu dem Scharnier des Lenkers. Er bewegte den Lenker hin und her und fragte mich: "Hörst du das?" Ich hörte nichts. Seufzend wandte Giuseppe sich wieder dem Scharnier zu und fragte es: "Sie hört dich nicht, mein Freund, das macht dich traurig, nicht wahr?" Die Geschichte ging mir ans Herz. Giuseppe griff zu einem Schraubschlüssel, da kam Bruno zur Werkstatt herein.

Bruno ist mittelgroß, Glatze, bulliger Typ, kein Freund großer Worte und seines Zeichens Chef der Werkstatt. Er kann es nicht leiden, wenn Frauen in der Werkstatt herumstehen, aber an mich hat er sich inzwischen gewöhnt, weil er irgendwie nachvollziehen kann, dass ich mein Fahrrad ungern aus den Augen lasse. Außerdem lungere ich für mein Leben gern in Fahrradwerkstätten herum und halte Maulaffen feil, und solange ich kein dummes Zeug daherrede, toleriert Bruno mich. An guten Tagen macht er sogar Witze, aber nur seinen männlichen Kollegen gegenüber, freut sich aber heimlich ins Fäustchen, wenn ich über seine Witze lache.

"Falscher Schraubschlüssel", brummte er zu Giuseppe, "passt nicht zum Scharnier, sieht doch ein Blinder!" Theatralisch schlug sich Giuseppe die Hand vor die Stirn: "Kannste mal sehen, wir Gastarbeiterkinder, wieder mal typisch!", worauf Bruno grinsend grunzte: "Sizilianischer Klempner!" und Giuseppe sich zu dem Scharnier beugte, um es zu fragen: "Hast du das gehört, mein kleiner Freund? Klempner hat er zu mir gesagt, der Ausländerfeind!", was Fred im Verkaufsraum aufschnappte und in die Werkstatt rufen ließ: "Kannst du dich nicht endlich mal integrieren, Giuseppe?", und weil Giuseppe einer von der schlagfertigen Sorte ist, rief er klagend zurück: "Prego, Alfredo, muss ich erst fragen meine Papa!"

Ich liebe dieses Fahrradfachgeschäft. Wenn ich könnte, wie ich wöllte, würde ich mein Blog dazu benutzen, um hemmungslos und voller Herzenslust Werbung für dieses Fahrradfachgeschäft machen. Auf dass bei denen die Umsätze brummen. Aber so, wie die Dinge nun mal liegen, werde ich alles Weitere für mich behalten und mich freuen, dass ich mit meinem persönlichen Lieblingsfahrradfachgeschäft eine neue kleine Heimat gefunden habe.

Freitag, 3. September 2010

Licht aus


Es gibt Sachen, über die kann ich mich tierisch aufregen, und am allermeisten regt mich auf, dass sich außer mir niemand darüber aufregt. Gut, gut, wir leben in einer pluralen Gesellschaft, deren glühender Verfechter ich ja bin, und jeder kann sich nach Belieben aufregen oder es lassen und überhaupt und sowieso. Aber es gibt Sachen, da finde ich, ist Sichaufregen erste Bürgerpflicht. Doch sie kommen ihrer Pflicht nicht nach, die Bürger, weil sie der Meinung sind, es gebe Wichtigeres zum Sichaufregen als eine Straßenlaterne, und wenn ich dann frage: Ja, was denn Wichtigeres zum Beispiel?, dann sagen sie "Äh..." und dann grinsen sie schief und sagen "...zum Beispiel, was ich gleich beim Italiener zum Mittagessen bestellen werde" und finden sich witzig und mich humorlos.

Wobei ich betonen möchte, dass ich mich nicht über eine Straßenlaterne aufrege, sondern über viele, sehr viele Straßenlaternen. Namentlich die vielen nichtbrennenden Straßenlaternen, die mittlerweile in der absoluten Überzahl sind gegenüber den Licht verströmenden Einzelgängern. Ich betone: In meinem Stadtteil verhält es sich so; die Rede ist nicht vom Innenstadt-Glamour. Mein Stadtteil hat eine recht unterschichtige Bewohnerstruktur mit ein paar Ausreißern aus der unteren/mittleren Mittelschicht und nur wenigen Highlights aus den Schichten darüber. Highlights schon deswegen, weil bei denen auf der Straße nächtens Festbeleuchtung herrscht - großartig, wenn man dort zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist. Ist man nur meistens nicht, wenn man in den unterschichtigen Wohngegenden lebt und die kiez-eigene 'Oberstadt' als eher fad erlebt, so wie ich.

Im großen Rest des Stadtteiles ist es nachts und am frühen Morgen so dunkel wie im Hintern einer Kuh, man sieht allenfalls 50 Meter entfernt ein schwaches Licht zwischen viel Baumlaub hervorfunzeln und was das Ärgerlichste ist: Es wird schleichend stets noch dunkler, sprich, es werden noch mehr Straßenlaternen abgeschaltet. Das Problem sind nicht etwa fehlende Straßenlaternen, sondern die sukzessive Deaktivierung von immer mehr vorhandenen Straßenlaternen.

Meine morgendliche Route führt mich durch zwei weitere Stadtteile, in denen es zwar nicht ganz so finster wie bei uns zugeht, aber insgesamt doch ein trübes Halbdunkel vorherrscht, bei dem ich immer das Gefühl habe, durch einen zähen Nebelschleier zu fahren. Dabei brennen einfach nur viel zu wenige der vorhandenen Laternen.

Also, für mich ist das ein Aufreger erster Ordnung. Fange ich dann an, mich über die neumodische öffentliche Sparflamme aufzuregen, belassen es meine Gesprächspartner bei gleichgültigem Schulterzucken und sagen "Na, das sind halt notwendige Sparmaßnahmen", dann frage ich "Wie, an was wird da gespart?", dann heißt es "Na, an Energiekosten natürlich", dann sage ich "Blödsinn, da wird an der Verkehrssicherheit gespart, vom subjektiven Sicherheitsgefühl der Bürger ganz zu schweigen", was diesen Bürgern dann aber auch egal ist. Verstehe ich nicht. Wie kann einem so etwas egal sein?

Der vierte Stadtteil schließlich, durch den ich morgens radle (in dem mein Arbeitsplatz gelegen ist), präsentiert sich bis in den hintersten Winkel hell und augenfreundlich ausgeleuchtet. Dort gibt es eine Laternendichte, von der andere Viertel nur träumen können - brennende Laternen, wohlgemerkt. Haben die es gut! Ich werde immer fast geblendet beim Durchfahren, denn irgendwie gewöhnen sich die Augen ja schon an das Fahren bei Dunkelheit; aber es ist eine schlechte Gewohnheit, weil die Realität auf den Straßen nur schemenhaft wahrgenommen wird.

In diesem vierten Stadtteil ist sogar der Kinderspielplatz gegenüber dem Restaurant nachts voll ausgeleuchtet; auch die inzwischen abgeschlossene Umgestaltung des Straßenumfeldes (es wurde hier im Blog letzten Sommer detailliert berichtet) zu einer amtlicherseits so genannten "Spiel- und Begegnungsstätte" mit bunten Sitzwürfeln, naturbelassenen Holzbänken im Bio-Designerlook, fußgängerfreundlichen Gehwegnasen und nur wenigen Autos (außer den vielen parkenden und parkplatzsuchenden) erstrahlt, wenn ich bei morgendlicher Dunkelheit um die Ecke biege, in hellstem Straßenlaternenlicht. Der ganze Stadtteil - mit aufwendig sanierten Altbauten, schicken Immobilienneubauten, liebevoll hergerichteten Hinterhöfen und von Gärtnerhand gepflegten Paradevorgärten - ist beleuchtungtechnisch ein einziges Highlight und gilt im übrigen als Grünenwähler-Hochburg. Er zählt zu den begehrtesten Wohnlagen, und wer es sich leisten kann, zieht hierher; wer nicht, zieht halt ins Dunkel und wird dort nicht gesehen, denn die Stadt muss Energie sparen.

Heute mittag habe ich tief in meine flache Tasche gegriffen und im Fahrradfachgeschäft einen potenten LED-Scheinwerfer erstanden. Nennt sich "Lichtrevolution", haut einen riesigen Lichtkegel auf die Straße mit fetten 40 Lux - selbstverständlich dimmbar -, für schlappe 98 Euro und 95 Cent. Ist ja auch logisch, in Zeiten klammer öffentlicher Kassen: Da muss die Stadt an Energie sparen, im Gegenzug halt der Bürger in Energie investieren. Vermutlich hat das neulich die Grünen-Stadtverordnete gemeint, als sie etwas von "...müssen alle den Gürtel enger schnallen" in die Mikrofone zu schwallen beliebte.

Jetzt bin ich morgens und nachts mit Flutlicht am Fahrrad unterwegs und fühle mich wie King of the Road. Aufregen tue ich mich aber trotzdem weiterhin über die unzähligen ungenutzten Straßenlaternen sowie über die unzähligen Bürger, die mit dem Status der Unterbelichtung offenbar gut leben können.

Amerika, du hast es besser. Nicht weil dort die Straßen so gut beleuchtet sind - das Gegenteil ist der Fall. Die große Krise hat bereits flächendeckende Dunkelheit im öffentlichen Raum hinterlassen. Aber: Man regt sich wenigstens angemessen darüber auf. Es werden Zahlen veröffentlicht, nicht nur über ausgeschaltete (und möglicherweise bald zweckentfremdete) Straßenlaternen, sondern auch über öffentlich versteigerte Polizei-Hubschrauber, über gestrichene Feuerwehr-Etats und über asphaltierte Straßen, die zu Schotterstrecken "entpflastert" ("unpaving the roads") werden, um das Geld für die Instandhaltung der Straßen zu sparen. Auch das Einstellen von öffentlichen Buslinien sowie das Schließen von Schulen an Freitagen erfreut sich zunehmender Beliebtheit.

Die wunderbar scharfzüngige TV-Moderatorin Rachel Maddow macht das einzig Richtige, was man mit solchen "halt notwendigen Sparmaßnahmen" machen kann: Sie regt sich darüber auf, indem sie sie auf souveräne Weise ins Lächerliche zieht.

gefunden bei Jakebaby via Narrenschiff