Sonntag, 21. November 2010

Viele Wege führen ins Prekariat


Die Geschichte ist schnell erzählt:


Eine frischgebackene Hochschulabsolventin stürzt sich hoffnungsfroh auf den (für Hochschulabsolventen) prekären Arbeitsmarkt, schreibt eine Bewerbung nach der anderen, stellt ernüchtert fest, dass kein Hahn nach ihr kräht, schreibt weiter Bewerbungen (abends), während sie (tagsüber) als Kellnerin ihren Lebensunterhalt verdient. Eines Tages wird Fionas (so heißt sie) Flehen erhört: Sie bekommt für ein paar Monate ein schlecht bezahltes Praktikum angeboten. Ist doch schon mal was.
Die ernüchterte Hochschulabsolventin wittert Morgenluft; mag sein, dass sie - desillusioniert, wie sie bereits ist - einer neuerlichen Illusion aufsitzt und einen Strohhalm mit einer beruflichen Perspektive verwechselt. Sie geht mit wehenden Fahnen zum Bewerbungsgespräch und ist bereit, alles zu geben. Denn es könnte ja - man hat schon grüne Pferde vor der Apotheke kotzen sehen - eine Festanstellung daraus werden.

So weit die Geschichte, so weit nichts Besonderes, jedenfalls nicht ungewöhnlich. Da man beim Lesen schon ahnt, dass der akademischen Berufsanfängerin in punkto Festanstellung eine weitere Desillusionierung droht, ist man geneigt, der jungen Frau sein aufrichtiges Bedauern auszusprechen.

Beim zweiten, dritten Lesen mischen sich gemischte Gefühle unter das Bedauern. Während des Bewerbungsgespräches für das schlecht bezahlte Praktikum in einer PR-Firma wird der Bewerberin erklärt, dass man Großes mit ihr vorhabe: Die Firma habe sich nämlich für die nahe Zukunft professionelles Kommunizieren via Social Media auf die Agenda gesetzt, und deshalb "müssen wir uns einen Eindruck verschaffen, wie geübt und kreativ Sie im Umgang mit diesen Tools sind." Warum nicht, denkt sich die hoffnungsfrohe Praktikantin in spe - schließlich ist sie längst als ausgekochte Selbstvermarkterin auf Facebook unterwegs, da wird so ein bisschen Social Media für eine PR-Firma schon zu wuppen sein.

Aber dann kam die Sache mit der "Social Media Challenge": Der Bewerberin wurde mitgeteilt, dass sie eine von zwei verbliebenen Kandidatinnen (Gesamtzahl unbekannt) sei, die von der Firma in die engere Praktikantenauswahl gezogen worden sei. Ehre, wem Ehre gebührt - das Finale erreicht zu haben stachelt den Ehrgeiz doppelt und dreifach an. Die Challenge (wer denkt da nicht sofort an herausfordernd-entblößende Castings im TV-Rampenlicht) bestünde nun darin, sich mit der Konkurrentin in einem edlen öffentlichen (!) Wettkampf zu messen, welche von beiden das bessere, sprich firmenkompatiblere Social-Media-Konzept auf die Beine stelle. Wie gesagt, nicht etwa von einer geschützten, verschwiegenen Büroecke aus, sondern in einer öffentlich inszenierten "PR-Firma sucht den Superstar-Praktikanten"-Castingshow. Der Gewinnerin winke nicht etwa eine Festanstellung, vielmehr würden - wir ahnen es - "ihre Chancen zu einer Festanstellung steigen". (Letzteres wird umgangssprachlich auch gern 'einen vom Pferd erzählen' genannt.)

An der Stelle hätte ich beim Lesen frisch drauflos kotzen können, und das, obwohl ich kein grünes Pferd bin. Offenbar gehört es mittlerweile zum arbeitgeberseitigen Standard, perspektivlose, im Überfluss auf den Arbeitsmarkt drängende Hochschulabgänger als beliebig zu verschaukelnde Manövriermasse in öffentlichen Schaukämpfen zu verheizen. Verzweifelt - aber noch nicht restlos desillusioniert -, wie die akademischen Frischlinge nun mal sind, beugen sie sich diesem "do-anything, fuck-anyone"-Standard und spielen das unwürdige Spiel in der Zweikampf-Arena mit, public viewing inklusive. Bei aller Empathie für die Verzweifelten mischt sich auch in mein Bedauern ein gewisser Brechreiz.

Eine Woche lang hat der Showdown gedauert. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nun hat Fiona - vor den Augen der Öffentlichkeit - eine Bauchlandung hingelegt und gegen ihre Mitbewerberin verloren. Macht sich bestimmt gut bei ihren künftigen Bewerbungen; man darf gespannt sein, ob ihre Chancen auf eine Festanstellung bei irgendeiner anderen Firma dadurch gestiegen sind. Ich kann es mir, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellen.

Auf, auf, zum fröhlichen Praktikanten-Pitch! Nach dem Duell zeigte sich die PR-Firma gegenüber der Verliererin von ihrer menschlich-großzügigen Seite und betrostpreiste die Gescheiterte mit einem dreimonatigen Praktikum (vermutlich um keine schlechte PR wegen Erregung öffentlichen Erbrechens zu kassieren). Danach war Schicht im Schacht: Für eine Festanstellung fehle es der Firma an Geld. Good bye. War nett mit Ihnen.

Während dieses Abschlussgespräches kam die ausgemusterte Fiona auf die (vielleicht etwas verspätete) Idee, ihren Unmut über das von den PR-lern betriebene Einstellungsprozedere zu artikulieren: Ein solches Vorgehen, meinte sie, würfe ein schlechtes Licht auf die Firma (man darf ergänzen: auf eine mit Öffentlichkeitsarbeit befasste Firma). Als Reaktion darauf scheuten die kreglen Öffentlichkeitsarbeiter weder Mühe noch Kosten und kauften der Frischgechassten einen Schokoladekuchen, "a chocolate good-bye cake".

Viele Wege führen ins Prekariat.

Keine Ahnung, ob Fiona inzwischen einen neuen Job als Kellnerin gefunden hat.

8 Kommentare:

  1. Tja "so isses unter den durchschnittlich einssiebzig …"
    Sehe ich genauso, wie Du's beschreibst und fühle auch so - allein, wie soll's anders sein, wenn man "keine besondere Qualifikation" aufweist und mit sehr vielen anderen - austauschbar - auf'm Haufen sitzt? Dass die Firma nich sacht: Wir nutzen in diesem Umfeld unseren Vorteil mit allen Mitteln! iss klar (leider), das auszublenden iss naiv (im doppelten Sinn - auch leider). Mein Älterster iss jezz im Referendariat (Jura). Erster Kontakt mit dem Vater seiner Freundin: "Was machste?" "Jura" "Haste schon den Taxischein?" Auf Grund besonderer (Zusatz-) Qualifikation iss es Gottseidank nich ganz so schlimm.
    Nutzlos aber trotzdem gut, dass Fiona den Jungs am Ende die Leviten gelesen hat … ich hätt' die Bude angezündet … Hm, aber … wie könnte es anders sein und warum isses nich … Fragen über Fragen

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  2. "Was machste?" "Jura" "Haste schon den Taxischein?"

    Hervorragend. Der Vater der Freundin hat den Realitäts-Vollcheck. Macht einen glatt neugierig, was seine Tochter studiert?

    "...allein, wie soll's anders sein...(etc.)":
    Ich finde, selbst ohne "besondere Zusatzqualifikation" und bei ausgeschöpfter Naivität gibt es Grenzen, auf welche 'Angebote' sich Berufsanfänger (und alle anderen auch, logo) noch einlassen sollten, und wo ein klares Nein angesagt ist. Egal, aus welcher persönlichen Verzweiflung/Naivität jemand bei solch grenzwertigen Arrangements mitspielt - es sollte jedem klar sein, dass er damit die eh im Schwund befindlichen 'guten Sitten' im Arbeitsleben vollends verdirbt. Und dass nicht nur er (oder sie) sich damit ins eigene Fleisch schneidet (wie Fiona), sondern auch noch angrenzende Berufsfelder mit runtergezogen werden.

    "ich hätt' die Bude angezündet...", ha, der ist gut ;) - die Frage ist, WANN hättest du sie angezündet? Dann, wenn du den Wettkampf verloren hättest? Oder dann, als sie dir das 'Angebot' eröffnet haben? Hätten. Eröffnet haben hätten. Herrgottnochmal...;)

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  3. "Macht einen glatt neugierig, was seine Tochter studiert?" *lol* Volltreffer! Psychologie … iss aber so was von gut, hat 'n festen Job "ergattert" - mal schaun …

    Natürlich haste recht - Zusatzquali, Grenzen, Verzweiflung (seh' ich auf beiden [!!] Seiten) usw. - trotzdem: Beide Seiten verhalten sich "optimal" … *Grrrrh* (wie soll's anders sein?)

    "'guten Sitten' im Arbeitsleben" gab's die je? Unter welchen Umständen? Wer bestimmte die und wer profitierte davon? Interessanter Punkt, da kannst als SoWi ja 'was zu sagen, oder?

    Nach Hättest/hätten/hatten/haben-hätten … bums! unn die Bude hätte gebrandt - natürlich nur vor meinem geistigen …

    Mir fällt im Moment keine Musik ein, tatsächlich, so ein Scheißthema - nur soviel: Ich war 2x auf den Jazztagen in LEV (Du erinnerst Dich?) *Ätsch*

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  4. Na, die "Verzweiflung" seitens jener PR-Firma musst du mir erst noch erklären - war das aus deren Perspektive etwa eine Verzweiflungstat, wo sie doch Kandidaten aus dem Überfluss schöpfen konnten? Oder war die Firma so verzweifelt knapp an Kohle, dass es zu mehr als einem low-budget-casting nicht gereicht hat? Mir kommen die Tränen.

    Auf den "Schwund" der 'guten Sitten' hatte ich ja schon hingewiesen, vielleicht waren die Sitten noch nie gut; fest steht, dass sie immer schlechter werden, und wenn die Praktikanten das Spiel so verzweifelt mitspielen, sind sie demnächst im freien Fall. Die Sitten. Na ja, die Praktikanten auch.

    Leverkusen. Aha. Ohne mich. Saukerl du...;)

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  5. Ich war 30 Jahre selbständig. Meine Erfahrung: Es gibt nur wenige, die nicht mit den Wölfen heulen (müssen) - das was man so macht, das was "alle" machen, das was halt so üblich ist usw. Gerade bei PR & Co. iss das - nach meinen Beobachtungen - sehr weit verbreitet. Nach viel Lehrgeld habe ich den Bereich selbst betreut und mich stets an "alte Weisheiten" gehalten. Das ging ganz gut. Die Jungs nach mir machen jezz nur moderne Sachen … läuft auch, aber …

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  6. Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß... Bei solchen Berichtenfällt mir immer der alte Film wieder ein. Andererseits: Muß man wirklich alles mitmachen? Natürlich gibt es diesen ökonomischen Druck, aber dieses Einzelkämpfertum, das hier seine logische Verlängerung findet, tut auch seinen Teil dazu, dass solche Pratiken möglich sind. Schrecklich ist es für die "Verlierer" immer erst dann, wenn sie verloren haben.

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  7. "Natürlich gibt es diesen ökonomischen Druck, aber dieses Einzelkämpfertum, das hier seine logische Verlängerung findet, tut auch seinen Teil dazu, dass solche Praktiken möglich sind."

    Genau das war mein Gedanke. Man kann diese Praktiken (zu recht) als menschenverachtend anprangern, aber sobald das Schaf anfängt, "mit den Wölfen zu heulen" (@Vogel), darf es sich nicht wundern, wenn es vom Wolf gerissen wird.

    "Schrecklich ist es für die "Verlierer" immer erst dann, wenn sie verloren haben." Wie wahr - schrecklich und auf brutale Weise augenöffnend.

    Das Thema "mit den Wölfen heulen (müssen)" (Vogel) nistet sich grade in meinem Kopf ein. Ich glaube, ich muss das demnächst mal bebrüten. Vor allen Dingen das "müssen".

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  8. "Das Thema "mit den Wölfen heulen (müssen)" (Vogel) nistet sich grade in meinem Kopf ein. Ich glaube, ich muss das demnächst mal bebrüten. Vor allen Dingen das "müssen"."

    Bin sehr gespannt - freue mich auf diesen Post!

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