Montag, 8. November 2010

Kopfkrise


Pünktlich zum Start der zweiten Novemberwoche dröhnte es mir heute früh ekstatisch aus dem Radio entgegen: Der Einzelhandel sei in Festtagsstimmung. Ein offenbar völlig zugedröhnter Angehöriger der Branche gab zum Besten, dass fürs kommende Weihnachtsgeschäft "Rekordumsätze" zu erwarten seien, gemessen an den flauen Zahlen der letzten Jahre. Rekordumsätze. Und das am frühen Morgen.

Beim Kaffeekochen verbrühte ich mir die Finger, als ich hörte, wie der Handelshansel seine Zuversicht begründete: weil nämlich die "Rahmendaten" stimmten. Rahmendaten! Ist es nicht großartig, dass es so etwas wie Rahmendaten gibt? In aller Regel werden sie aus der Tasche gezogen, wenn dem gemeinen Volk mal wieder irgendeine Geschichte auf die Nase gebunden werden soll. Gut, diesmal halt eine Weihnachtsgeschichte.

Im Jahr 2010 heißt die Weihnachtsgeschichte 'Handelsbarometer'. Die im 'Handelsbarometer' befragten Händler kriegen sich offenbar gar nicht mehr ein vor lauter Vorfreude auf den "erwartbaren", alle Rekorde brechenden weihnachtlichen Konsumrausch der Verbraucher. "Erwartbar?", fragte der Rundfunkmoderator, wie das bitte zu verstehen sei? Als Antwort kam das mit den "Rahmendaten", worunter wir bitte verstehen wollen: wachsende Beschäftigungszahlen, steigende Löhne und Gehälter, allgemein gute Stimmung im Land. Hey, das rockt: geschönte Arbeitslosenzahlen, sinkende bis stagnierende Löhne und Gehälter, steigende Energie- und Krankenkassenkosten, Bombenstimmung - da wird man doch noch ein bisschen euphorisiert im Wald pfeifen dürfen.

Zwei Stunden später fragte ich den deutschen Käselieferanten (vierfacher Familienvater) nach seinem erwartbaren weihnachtlichen Konsumrausch. "Statt zwei nur noch ein Geschenk pro Kind", sagte er ohne Umschweife, "ist hart, aber sie werden sich dran gewöhnen. Es gibt Schlimmeres, zum Beispiel eine ungeheizte Wohnung." Klare Worte. Ich bohrte weiter: was er unter "positiven Rahmendaten" verstünde? Da lachte der Käsemann und antwortete: "Keine Ahnung, aber du klingst so, als ob du mir gleich einen vom Pferd erzählen willst?" Nee, erwiderte ich, nicht vom Pferd, sondern vom Wirtschaftswachstum. Fand er richtig witzig: "Läuft aufs Gleiche raus." Fand ich dann auch witzig.

Am Rande erfuhr ich noch, dass aus der Sicht des Käselieferanten die Wirtschaftskrise auch ihr Gutes habe: Seit ein, zwei Jahren, erzählte er, sei "dieser Terror mit den Markenklamotten wie weggeblasen". Drei seiner vier Kinder gingen noch zur Schule, und er kenne keine Eltern mehr, die ihrem Kind eine Jeans für achtzig oder hundert Euro kaufen würden, "weil es inzwischen bei allen klemmt". Es sei normal geworden, in ganz normalen Jeans rumzulaufen. "Mit normal meine ich die Mehrheit", fuhr er fort, "die Mehrheit der Schüler läuft in ganz normalen Klamotten rum und muss sich nicht mehr von einer Minderheit diktieren lassen, welche Marken sie zu tragen haben." Das täte seinem Haushaltsbudget außerordentlich gut, in welchem es nämlich, wie er anmerkte, "keinerlei Anzeichen von Wirtschaftswachstum" gebe.

Heute mittag beim Radiohören war das Thema schon wieder auf dem Tapet. Es steht zu befürchten, dass die frohe Konsumbotschaft in den kommenden sechs Wochen per medialer Wiederholungsschleife gnadenlos in die Köpfe der Leute gehämmert wird. "Der Einzelhandel stellt eine ausgezeichnete Konsumstimmung bei Verbrauchern fest", wurde der Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE) Josef Sanktjohanser zitiert, und zwar deshalb, so Johanser, weil "die Krise in den Köpfen der Leute" endgültig überwunden sei. So viel zu den Köpfen der Leute.

Und wo bleibt bei so viel Kopf das Herz? Frag' deinen vorweihnachtlich gedopten Einzelhändler, der kennt sich aus:
"Wenn es ans Herz geht, geben die Leute gerne Geld aus."
Das geht mir jetzt wirklich ans Herz.

6 Kommentare:

  1. Da wird wohl auf die "self-fullfilling prophecy" spekuliert, scheint es mir. Aber nicht mit mir! Kein steigender Lohn, sondern sinkender. Jahrelange Inflation wird da nämlich ignoriert, außerdem wurde schon vor Jahren das Weihnachtsgeld abgeschafft, nein "ausgesetzt", aber wider aller Versprechen in 2011 nicht wieder belegt! Also A*** lecken! Weniger Konsum! Braucht eh kein Mensch, den ganzen Sch** !

    AntwortenLöschen
  2. Genau, den Kaufrausch der Massen herbeireden. Nur so kann es funktionieren. Jeder glaubt am Ende, er würde etwas falsch machen, weil die anderen ja auch viel kaufen, also geht man einkaufen.
    Werbung ist alles.
    Was aber vielleicht stimmt: Die, die (noch) Geld haben, geben es lieber aus und gönnen sich etwas, als dass es Ihnen der Staat wegnimmt oder die Geldentwertung sie "arm" macht.

    AntwortenLöschen
  3. @Klari, dvl
    Darauf ein Schokolebkuchenherz! ;)

    AntwortenLöschen
  4. "Die im 'Handelsbarometer' befragten Händler kriegen sich offenbar gar nicht mehr ein vor lauter Vorfreude auf den "erwartbaren", alle Rekorde brechenden weihnachtlichen Konsumrausch der Verbraucher." Verbraucher?, die meinen uns!! 'Mal abwarten ...
    "Jeder glaubt am Ende, er würde etwas falsch machen, weil die anderen ja auch viel kaufen, also geht man einkaufen." [dvl] das glaub' ich auch, hätte aber mehr mit Herdentrieb und Meutenverhalten zu tun als mit "Da wird wohl auf die "self-fullfilling prophecy" spekuliert" [klari]?!

    AntwortenLöschen
  5. Ganz ehrlich, das glaube ich nicht. Ohne Kohle kein Herdentrieb.

    "Mal abwarten", genau - jede Wette, dass am 3. Adventssonntag das Geheule losgeht, die "Umsatzerwartungen" hätten sich nicht erfüllt. Jedes Jahr dasselbe...

    AntwortenLöschen
  6. wegen worten wie 'handelshansel' und den diskursen mit deinen *-lieferanten lese ich selbst die artikel, für dich ich wirtschaftsmuffel eigentlich zu uninteressiert bin. danke ;).

    AntwortenLöschen