Donnerstag, 29. Dezember 2011

Begegnung zwischen den Jahren


Zwischen den Jahren, dachte sich Alice, wäre es doch keine schlechte Idee, mal ein wenig im Wald spazieren zu gehen. Denn tagein, tagaus immer nur Camp - so sinnierte sie weiter - macht ja auf Dauer ein bisschen plemplem. Zumindest bestand die Gefahr. Also nichts wie raus in den Wald.

Wie sie so zwischen den Bäumen einherstapfte, erkannte Alice plötzlich in der Ferne ein Ei. Nicht irgendein Ei, sondern ein menschliches Ei; genauer gesagt, ein riesengroßes menschliches Ei. Zunächst dachte Alice, das kann ja wohl nicht wahr sein - wie kann ein Ei einem Menschen so ähnlich sehen, oder vielmehr, wie kann bloß ein Mensch einem Ei so ähneln? Ich glaube, ich spinne, sagte Alice zu sich selbst.

Jedoch, das Ei wurde groß und größer, je mehr sie sich ihm näherte, und nicht nur das - es wurde immer menschlicher. Auf ein paar Meter Entfernung konnte sie an dem Eierkopf deutlich zwei Augen, eine Nase und einen Mund erkennen. Als sie schließlich dicht vor ihm stand, sah sie, dass es sich um niemand anderen handelte als um Humpty Dumpty höchstpersönlich. Das muss Humpty Dumpty sein, wer sonst?, murmelte Alice und stellte befriedigt fest, dass sie keineswegs eine Spinnerin war, sondern ganz normal tickte.


Humpty Dumpty saß mit überkreuzten Beinen auf einer hohen Mauer, so hoch, dass Alice zu ihm hinaufschauen musste, um ihn anzusprechen. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass die Mauer sehr schmal war, so schmal, dass Alice sich wunderte, wie der Eierkopf sich dort oben ausbalancieren konnte. Während ihr ein verblüfftes "Mensch, der sieht ja exakt aus wie ein Ei!" entfuhr, streckte sie instinktiv die Hände nach vorne aus, um ihn aufzufangen, weil sie erwartete, er könnte jeden Augenblick von der Mauer herunterfallen.

"Das war jetzt sehr despektierlich", erwiderte nach langem Schweigen Humpty Dumpty, der immer alles hörte, obwohl er immer so tat, als ob er weghörte, "wer will schon gern ein Ei genannt werden?", worauf Alice freundlich meinte, sie habe ja nur gesagt, er sehe aus wie ein Ei, und außerdem gebe es einige Eier, die sehr hübsch aussähen, mithin keinen Grund, beleidigt zu reagieren. Humpty Dumpty, der immer noch so tat, als ob er weghörte und es vermied, Alice anzuschauen oder sie gar direkt anzusprechen, antwortete grummelnd: "Manche Leute haben nicht mehr Verstand als ein Kleinkind!"

Da Alice nicht wusste, ob diese Bemerkung nun an sie oder an den nächsten Baum gerichtet war, finge sie leise an, ein altes Kinderlied vor sich hin zu singen:
"Humpty Dumpty saß auf dem Eck,
Humpty Dumpty fiel in den Dreck,
und auch der König mit seinem Heer
rettete Humpty Dumpty nicht mehr."
Humpty Dumpty unterbrach sie ungeduldig, sie solle aufhören mit diesem kindischen Geschwätz. Ob ihr nichts Intelligenteres einfalle? Doch, gab Alice zurück und fragte ihn, ob er es nicht im Interesse seiner eigenen Sicherheit für sinnvoller halte, von der hohen Mauer herunterzusteigen auf den Boden, noch dazu, wo diese Mauer doch bedenklich schmal sei?

"Was für eine extrem dumme Bemerkung", befand der Eierkopf in knurrigem Ton, "natürlich nicht! Denn selbst wenn ich je von der Mauer herunterfallen sollte, was allerdings völlig ausgeschlossen ist - aber nur mal angenommen, ich würde fallen - ", hier nahm er eine gravitätische Pose ein, so gravitätisch, wie es einem Eierkopf nur eben möglich ist, "für diesen Fall hat der König mir versprochen, jawohl, er selbst hat es mir höchstpersönlich versprochen, in seinen eigenen Worten hat er mir versprochen, dass, ähm, ja, also dass er, ähm..."

"... dir sein Heer vorbeischicken würde, um dir zu helfen?", versuchte Alice, ihm bei der Satzvervollständigung behilflich zu sein.

"Genau so ist es", schnaubte Humpty Dumpty, "sein komplettes Heer mit all seinen Pferden und Soldaten! Im Handumdrehen werden sie mich vom Boden wieder aufheben!", rief er voller Überzeugung aus, korrigierte sich aber schnell, "würden, wohlgemerkt, würden! Weil einer wie ich ja, wie gesagt, gar nicht von der Mauer fallen kann!"

Huch, dachte Alice, ich glaub, ich steh im Camp - korrigierte sich aber schnell und dachte, ich glaub, ich steh im Wald, was ja durchaus der Wahrheit entsprach.

Die beiden diskutierten dann noch eine Weile über Semantik, wobei Alice auffiel, dass Humpty Dumpty ein Faible für semantische Spitzfindigkeiten an den Tag legte.

"Wenn ich ein Wort verwende", sagte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, "dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes." Komisch, dachte Alice, kommt mir irgendwie bekannt vor, und wagte einzuwenden: "Die Frage ist doch, ob du den Worten einfach so viele Bedeutungen geben kannst." Da war sie an den Falschen geraten. "Die Frage ist", erwiderte Humpty Dumpty, "wer die Macht hat - und das ist alles."

Tough shit, dachte Alice, als sie später aus dem Wald wieder herausspazierte, und ihr fiel ein, was sie irgendwann mal gelesen hatte: 'Als Humpty-Dumpty-Argumente werden Behauptungen bezeichnet, die in einer Diskussion als gültig angeführt werden, ohne dass eine andere Begründung für sie angegeben wird als die Berufung auf faktische Macht, die es erlaubt, auf wirkliche Argumente zu verzichten.' Kein Zweifel, sie war mitten im Wald an einen machtbesessenen Eierkopf geraten.

Beim Verlassen des Waldes konnte Alice nicht umhin, laut zu sich selbst zu sagen: "Von allen unbefriedigenden ..." (das letzte Wort wiederholte sie genüsslich, weil es sich so schön in sechs abgehackte Silben zerlegen ließ) "... von allen unbefriedigenden Leuten, die mir je in meinem Leben begegnet sind..." - weiter kam sie nicht, denn genau in diesem Moment erschütterte ein irres Getöse den hinter ihr liegenden Wald.

Wie, ist schon Silvester?, fragte sich Alice überrascht, ist doch noch viel zu früh, ist doch erst zwischen den Jahren? Sie beruhigte sich, nachdem ihr klar wurde, dass nichts weiter Schlimmes passiert war. Es war nur ein menschlicher Eierkopf lärmend von seinem Podest gefallen. Zwischen den Jahren hatte Alice mal eben hinter die Spiegel geguckt.

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