Donnerstag, 5. April 2012

Politiker-Schockstarre


"(Das Ereignis) ist dermaßen schockierend, dass es jeden politischen Kommentar als unpassend und wertlos erscheinen lässt."
Evangelos Venizelos, PASOK Partei, Ex-Finanzminister Griechenlands
"Wir müssen in solchen Fällen sehr vorsichtig sein, wenn wir irgend etwas kommentieren. Wir können keinen Zusammenhang konstruieren zwischen diesem Suizid und der aktuellen finanziellen Notlage des Landes."
Panos Beglitis, PASOK Partei

Andere sind ebenfalls schockiert, nehmen jedoch gerade ihren Schock zum Anlass,
1. passend zu kommentieren,
2. politisch zu kommentieren,
3. weniger vorsichtig zu kommentieren und
4. einen direkten Zusammenhang herzustellen zwischen dem gestrigen Suizid in Syntagma Square und der aktuellen finanziellen Notlage nicht nur des Landes, sondern seiner Bürger und im Besonderen des 77-jährigen Rentners, der es vorzog, Hand an sich zu legen anstatt für den Rest seines Lebens nach Lebensmittelresten in Mülltonnen zu suchen:

Austerity Suicide in Greece:


"Es ist abscheulich. Idiotische, ökonomisch inkontinente Politiker sind gleichermaßen inkontinenten und desorganisierten Bankern hörig, die zu viel Geld verliehen und das ganze Land an den Bettelstab gebracht haben; diese Politiker sind außerstande zuzugeben, wie ihre eigenen Leute sich gezwungen sehen, sich selbst umzubringen, um der Armut zu entgehen.

Absolut abscheulich. Buchstäblich jeder in der griechischen Politik und eine riesige Anzahl von Politikern in der EU stehen unter Anklage, ihre Bürger zu Tode hungern zu lassen.

Es ist so absolut abscheulich und grauenhaft für jeden Bürger, der sich damit konfrontiert sieht. Um Klartext zu reden: Wir haben alle in unseren westlichen Geschichtsbüchern gelesen, wie abscheulich es war, dass Stalin seine Landsleute in der Sowjetunion verhungern ließ. Wie abscheulich ist es, dass heute Menschen in der EU gezwungen werden sich umzubringen, um den Belastungen zu entkommen, die ihnen auferlegt werden durch verheerende Fehlentscheidungen von Regierungen durchweg in der gesamten EU? Durch Austerität und immer noch mehr Austerität?"
Und für alle, die schon immer nach einer ultimativ passenden Definition von Austerität gesucht haben:
"Die Fuck-you-Finanzpolitik der EU."
Und für alle, die jetzt nach dem ultimativ unpassenden Kommentar eines Politikers suchen:
"Auch der (nichtgewählte) technokratische Premierminister Lucas Papademos schaltete sich in die Tragödie ein, indem er an die Griechen appellierte, ihren Mitbürgern in der Not beizustehen."
Während der spontanen Solidaritätskundgebung griechischer Bürger am gestrigen Abend kam es zum Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken.

10 Kommentare:

  1. Mrs. Mop
    "Die Fuck-you-Finanzpolitik der EU."

    Wer macht die Finanzpolitik der EU?
    Doch nicht die „EU-Bürokraten“ oder die "Polit-Schauspieler".

    Jenes Deutungsmuster, was die gegenwärtige Situation in Griechenland mit der Nazi-Besetzung vergleicht, ist völlig falsch, führt in die Irre und stärkt nur reaktionäre nationalistische Kräfte.

    In Griechenland sind doch keine Kollaborateure an der Regierung, welche Interessen einer fremden Macht (EU, Merkel-Deutschland etc.) gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen. Sonden sie machen eine Politik im Interesse der griechischen Plutokratie. Und diese Politik deckt sich mit den Interessen der „internationalen Plutokratie“, also der herrschenden Klassen im Kapitalismus.

    HAM

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  2. "Wer macht die Finanzpolitik der EU?
    Doch nicht die „EU-Bürokraten“ oder die "Polit-Schauspieler"."

    Eben. Genau darüber spricht ja der Interviewte im Video. Das komplette Video anzuhören bringt bestimmt mehr als nur einen einzelnen Satz herauszupicken und sich an dessen plakativer Kurzformulierung hochzuziehen. Nicht umsonst habe ich mir die Mühe gemacht, längere Strecken des gesamten Gespräches zu übersetzen und hier einzustellen.

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  3. @Mrs. Mop

    Was ist denn die Botschaft des Videos?

    Nicht weiter als eine personalisierte Schuldzuweisung:

    „Idiotische, ökonomisch inkontinente Politiker sind gleichermaßen inkontinenten und desorganisierten Bankern hörig“

    Neues „Leadership“ wird gefordert, Staatsbankrotterklärung der griechischen Regierung und Austritt aus der Euro-Zone.

    Das ist nicht weiter als die Propagierung von politischen Illusionen unter Ignorieren der tatsächlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse.

    HAM

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  4. Danke, mo. Von den Suiziden in Italien vor dem Hintergrund der dortigen Entwicklung (Austerity etc.) ist übrigens (mit Filmszenen von den massiven Protesten in Italien) auch im oben eingestellten Video die Rede.

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  5. @mo

    "The social framework in Greece has become pathogenic -- we have a morbid social environment where one of its symptoms is suicide."

    (Artikel auf CNN)

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  6. ""The social framework in Greece has become pathogenic..."

    das ist hier natürlich ganz anders, im gefühlt seit jahrhunderten währenden aufschwung [TM] - ähm, moment mal...

    (ich fürchte mich etwas vor einem weiteren update).

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  7. we have a morbid social environment where one of its symptoms is suicide

    Wie bei jeder Krankheit erklärt die Beschreibung der Symptome des „morbid social environment“ nicht dessen Ursachen. Und personalisierende Schuldzuweisungen bleiben meist auf der Symptomebene.

    one of its symptoms is suicide

    Wobei als “Suizid” auch protrahierte Formen der Selbstzerstörung erkannt werden sollten, wie zum Beispiel die Selbstzerstörung durch Drogen wie Heroin.

    Warum bezeichneten sich die Drogenkonsumenten selbst als „Junkies“? Weil sich darin ihr Erleben ausdrückt, jene Dialektik zwischen Zerstörung durchs System und Selbstzerstörung.

    Wenn man bedenkt, dass die „Selbstzerstörung durch Drogen“ ein Symptom ist, welches bereits vor 4 Jahrzehnten in relativ großem Umfang aufgetreten ist, dann bekommt man vielleicht eine Ahnung davon, in welch fortgeschrittenem Stadium sich die „Krankheit der Gesellschaft“ befindet.

    Das Beschreiben und Beklagen der Symptome des „morbid social environment“ führen m. E. nicht weiter, genauso wenig wie all jene Rezepte, die nur Versuche von Symptomkuriererei sind, und jene symbolischen Aktionen, die meist durch magisches Denken gekennzeichnet sind.

    Ich möchte sogar die These aufstellen, dass die symbolischen Aktionen selbst nur ein Symptom der „Krankheit der Gesellschaft“ sind, wenn das politische Handeln sich darauf beschränkt und nicht wirklich die gesellschaftlichen Ursachen angegangen werden.

    Sondern es sich um eine politische Pseudo-Praxis handelt, die bewusstseinsmäßig nur oberflächlich bleibt, ein psychisches Mittel der „Verdrängung“ von gesellschaftlicher Realität ist und daher auch an der gesellschaftlichen Realität nichts ändern kann und deshalb immanent in jener Dialektik zwischen Zerstörung durchs System und Selbstzerstörung bleibt.

    HAM

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  8. @mo

    Danke für den Hinweis.

    "(ich fürchte mich etwas vor einem weiteren update)."

    Anlässlich des heutigen Begräbnisses von Dimitri Christoulas macht sich Keep Talking Greece an ein deprimierendes update (letzter Absatz).

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  9. Mrs. Mop, der „systembedingte Suizid“ ist in Deutschland schon längst zu einem Alltagsphänomen geworden. Ich habe über Beispiele bereits aus den 80-er Jahren berichtet. So wird seit dieser Zeit ständig in den Medien über Suizide - und andere Verzweifelungstaten - aus wirtschaftlichen Gründen berichtet.

    Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten zig-tausende Menschen „systembedingten Suizid“ begingen, wendet sich die mediale Aufmerksamkeit selektiv einem Fall in Griechenland zu.

    Warum?
    Nicht passiert zufällig in den Medien.
    Also, welche politische Intention mag dahinter stecken?

    Denn mit der Art der Fokussierung medialer Aufmerksamkeit wird Politik gemacht.

    So beispielsweise im Fall von Libyen.
    Ging es dort angeblich doch um eine humanitäre Intervention zum Schutze der libyschen Bevölkerung unter Einsatz militärischer Mittel.

    Wie viele Opfer aus der Zivilbevölkerung gab es durch die NATO-Intervention?
    30.000, 50.000, 90.000?

    Wie müssen die Menschen jetzt in Libyen leben?

    Was hat Griechenland mit Libyen zu tun?

    Die etablierten Medien stellen keine Zusammenhänge zum gesellschaftlichen Ganzen her, sondern systematisch wird ein zusammenhangsloses Bewusstsein erzeugt, welches verunmöglicht, gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge zu durchbrechen.

    Die meisten Internetblogs – so meine Erfahrung – sind in dieser Hinsicht nichts weiter als ein Abklatsch der etablierten Medien, wenngleich aus anderen Motiven. BlogbetreiberInnen und KommentatorInnen schaffen sich virtuelle Milieus nach ihren subjektiven Bedürfnissen.

    Im Prinzip ist dies alles unpolitisch bzw. pseudo-politisch. Denn bewegen und verändern kann man damit nichts, sondern es dient einfach der eigenen psychischen Regulation.

    Natürlich ist dies alles völlig o.K. Jeder kann sein Leben so gestalten, wie er es will.

    Aber so entstehen jene „Privatwelten“, die sich nicht mehr kommunikativ vermitteln lassen, so wie es Bourdieu im „Das Elend der Welt“ zeigte. Die Menschen können das parzellierte Bewusstsein nicht mehr durchbrechen, es bleibt an der Oberfläche und ist verinselt.

    So wie für viele Menschen „der Strom aus der Steckdose kommt“, machen in ihrem Bewusstsein die Regierungen die Politik.
    Sie begreifen die tatsächlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht.

    Es fehlen ihnen die Mittel zum Begreifen dieser Welt. Denn ohne entsprechende Theorie geht es nicht.

    Wie die auf Symbolpolitik beschränkten Aktionen, so befriedigt die Internetkommunikation in erster Linie individuelle Bedürfnisse, ist Unterhaltung und Amüsement. Ein Konsum, der nichts ändert, im Gegenteil, die Individuen davon abhält, als politische Subjekte tätig zu werden.

    Vgl. dazu Adorno
    http://www.youtube.com/watch?v=Xd7Fhaji8ow&feature
    (Wobei Adorno allerdings nur diese eine Seite der Pop-Musik sieht.)

    Schöne Ostern!

    HAM

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