Der Mauerfall nimmt kein Ende. Geht das jetzt die nächsten zwanzig Jahre so weiter? Heute kam der Hype aus allen Rohren und mir aus den Ohren. Ich wollte schon aufhören Zeitung zu lesen, weil überall das gleiche Gejubel stand, da stieß ich auf etwas Feines hier: eine tiefsinnige, zugleich amüsante Betrachtung über das neuzeitliche Phänomen der Handtuchspender in öffentlichen Toiletten, geschrieben mit viel Liebe zum Detail und dem Wissen um die stete Herausforderung der Theorie durch die Praxis.
Erst war ich misstrauisch, weil ich einen kulturvergleichenden Aufsatz befürchtete, der die zwanzigjährige erfolgreiche Anpassung der Osthandtuchspender an die Westhandtuchspender feiert: Sogar auf unseren Klos leben wir jetzt ohne Mauern, oder so ähnlich. Jedoch, allein schon die Abwesenheit jeglicher Es-wächst-zusammen-was-zusammen-gehört-Prosa machte den Artikel zu einem Lesevergnügen. Man glaubt ja gar nicht, wie viele verschiedene Handtuchspendersysteme es gibt; eine so informative wie witzige Fotostrecke klärt auf.
Gut gefallen hat mir das Design mit transparenter Handtuchspeicherbox: Da sieht die Putzfrau sofort, was Sache ist und kann sich gegebenenfalls das Gefummle mit dem Schlüsselchen und der Auffüllprozedur sparen, um sich intelligenteren Tätigkeiten zu widmen. (Leider Gottes sind die Handtuchspeicherboxen der Restauranttoiletten aus blickdichtem Blech, also aus unsinnig arbeitszeitraubendem Material.)
Treffend beschrieben werden die Tücken des in Amerika beliebten Handtuchspendermodells, besser bekannt unter dem Namen Papierwurstspender:
Man erkennt sie an der heraushängenden Papierwurst. An ihr zieht man, bis man ausreichend Material in den Händen zu halten meint. Eine Einschätzung, die sehr unterschiedlich ausfällt, denn nur so ist zu erklären, dass immer wieder Waschraumnutzer mehrere Meter lange Würste aus den Geräten ziehen, bevor sie sich entschließen, das Band abzutrennen.
Allerdings bin ich überzeugt, dass die amerikanischen Waschraumnutzer mehrheitlich durchaus entschlussfreudig die noch kurze Papierwurst abtrennen wollen, diese sich aber nicht abtrennen lassen will. Man zieht an ihr verzweifelt nach oben, unten, hinten, vorne, nach rechts und nach links - kein Chance, das Papier erweist sich immer wieder als extrem reißfest. Und die Wurst wächst Meter um Meter.
Ach ja, die korrekte Bezeichnung für den Papierwurstspender lautet "Papierhandtuchspender für Papierhandtuchrollen zur Innenabwicklung" - ein Wortwulst, mit dem man jemanden erschlagen könnte; am besten den, der sich das Trumm ausgedacht hat. Beim Stichwort "Innenabwicklung" musste ich glatt zweimal hinschauen, ob da wirklich von amerikanischen Abwicklungsverfahren die Rede war oder nicht doch von ostdeutschen.
Wie man so liest, ist die Branche extrem innovativ eingestellt und schreckt vor keiner vorgeblichen Produktverbesserungsmaßnahme zurück. Jetzt basteln sie gerade am nächsten großen Ding: ein in die Frontseite des Handtuchspenders integrierter Flachbildschirm zum Abspielen von Werbefilmen. Hilfe. Meine Nerven. Dann schon lieber Printwerbung via Innenabwicklung.
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