Samstag, 3. August 2013

Neues Lagerdenken


Mich beschäftigt die Frage: Woran ist Faschismus zu erkennen?

Bestimmt nicht daran, dass eines Tages Horden von schwarzen Stiefeln durch die Straßen knallen, an die Tür meines dunkelhäutigen/homosexuellen/arbeitslosen/behinderten Nachbarn klopfen und ihm befehlen: Los, Sie kommen jetzt mit ins Arbeitslager, und dann nehmen die schwarzen Stiefel meinen Nachbarn mit, und ich höre und sehe nie wieder etwas von ihm und ziehe daraus den Schluss, dass irgend etwas Faschistisches im Gange sein muss.

Weil, er wäre ja blöd, der Faschismus, wenn er so in seinen schwarzen Stiefeln mitsamt der Tür ins Haus fallen würde und alle würden es mitkriegen. Obwohl er es ja damals in Deutschland genauso gemacht hat und keiner hat etwas mitgekriegt. Angeblich. Oder wie auch immer.

Allerdings war der Faschismus auch damals nicht so blöd, von jetzt auf gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern hat sich gedacht: immer schön langsam, eins nach dem andern, peu à peu die Schraube anziehen, und wenn die Leute sich erst mal dran gewöhnt haben, klappt der Rest wie von selbst. Hat ja dann auch geklappt. Grade weil der Faschismus erst mal auf Samtpfoten daherkam, bevor er sich die schwarzen Stiefel überzog.

Samtpfoten hieß so viel wie: Wir wollen doch nur euer Bestes. Wir wollen euch ja nur zeigen, wo's lang geht. Wir wollen euch helfen, in die Spur zu kommen. Weil ihr das ja von allein offenbar nicht schafft. Also wollen wir ein bisschen nachhelfen. Besonders denjenigen, denen nur schwer zu helfen ist. Solltet ihr euch allerdings unseren Hilfsangeboten so dauerhaft und halsstarrig widersetzen, dass wir zu dem Schluss kommen, dass euch gar nicht mehr zu helfen ist, dann müssen wir ein bisschen mehr nachhelfen. Und ein wenig härter durchgreifen. Natürlich nicht von jetzt auf gleich. Sondern erst später. Dann, wenn alle anderen gemerkt haben, dass euch anders nicht zu helfen ist. Dann gehen wir zur Sache. Weil wir bis dahin alle anderen so weit gekriegt haben werden, dass die das ganz normal finden, das mit dem Helfen. Vor allem, wenn wir denjenigen helfen, denen sonst nur schwer zu helfen ist. Das nennen wir dann Umerziehen, und alle finden das ganz normal.

Aber, wie gesagt, peu à peu. Nichts überstürzen.

In England zum Beispiel sind seit geraumer Zeit die Samtpfoten unterwegs. Manchmal sind sie ziemlich unangenehm laut, die Samtpfoten, aber Stiefelknallen? Keine Spur. Wozu auch? Funktioniert ja auch so. Auf Samtpfoten.

Jetzt haben die Samtpfoten ein neues Programm aufgelegt. Sie nennen es
"Hilfe für diejenigen, denen am schwersten zu helfen ist". 
- und meinen damit ein sogenanntes Arbeitsprogramm ("Work Programme"), das speziell auf behinderte arbeitslose Menschen zugeschnitten ist und sich zum Ziel setzt, diese behinderten Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen ("fit for work"). Das Programm "Fit for Work" gibt es zwar bereits seit einiger Zeit, wurde jedoch bislang nicht von dem erwünschten Erfolg gekrönt, denn ein Konzept, das behinderte Menschen fit zum Arbeiten machen will, stößt gewissermaßen an natürliche Grenzen, drum musste etwas Neues her.

Das Besondere an dem neuen Hilfsangebot für behinderte arbeitslose Menschen ist, dass es sich um ein "Residential Training" handelt, also um eine Trainingsmaßnahme, die in einer speziell dafür geschaffenen Einrichtung stattfinden soll, in der die Teilnehmer wohnen, leben und für den Arbeitsmarkt trainiert werden.

Die Dauer des Arbeitstrainings ist (bislang) auf ein Jahr veranschlagt; der behinderte Mensch wird somit ein Jahr lang fernab seines Wohnorts, seiner (eventuell behindertengerecht eingerichteten) Wohnung, seiner (ihn eventuell pflegenden) Angehörigen oder Freunde, seiner (ihn betreuenden und behandelnden) Ärzte und Pflegekräfte in einer Gemeinschaftseinrichtung untergebracht sein, zusammen mit vielen anderen behinderten Menschen, die ebenfalls fernab ihrer Wohnung, ihrer Angehörigen, Freunde, Ärzte und Pflegekräfte dort untergebracht werden.

Das sich aufdrängende unschöne Bild eines Arbeitslagers versuchen die Samtpfoten mit allerlei plüschigen Pinselstrichen zu weichzuzeichnen: Beispielsweise wird jeder Teilnehmer am Residential Training ein eigenes Zimmer (Zelle?) bekommen - zumindest jetzt, zum verheißungsvollen Start des neuen Programmes. Beispielsweise ist die Teilnahme am Programm freiwillig und ohne Sanktionen für den, der die Teilnahme ablehnt oder das Training vorzeitig abbricht - zumindest jetzt, zum verheißungsvollen Start des neuen Programmes.

Beispielsweise, heißt es zum verheißungsvollen Start des neuen Programmes, diene das Konzept 'fernab des gewohnten Lebensumfeldes' ausschließlich dem Wohl des behinderten arbeitslosen Menschen:
"Das 'residential element' des Programmes aktiviert arbeitslose behinderte Menschen zum 'Denken neuer Gedanken' bezüglich ihrer Lebenschancen und ihrer Fähigkeit zum Arbeiten."
- eine samtige Philosophie, die dem Denken neuer Gedanken auf die Sprünge hilft, etwa dem Gedanken an ein Art Umerziehungslager für behinderte Menschen.

Vielversprechend klingt auch die bereits jetzt angekündigte Perspektive,
"... das Programm des Residential Training zu erweitern und langzeitarbeitslose nichtbehinderte Menschen mit einzubeziehen."
Das Konzept erscheint also ausbaufähig. Und weil bekanntlich alles, was ausbaufähig, auch marktfähig ist, wurde bereits der Gedanke an die Marktchancen eines zusammengepfercht lebenden Haufens von gut trainierten Billigarbeitskräften gedacht:
"Das Konzept sollte für den Markt geöffnet werden. Dieser Prozess könnte, als Testlauf, nächstes Jahr mit einer öffentlichen Ausschreibung beginnen."
- was wiederum das Denken völlig neuer Gedanken aktiviert, nämlich den Gedanken an das dem Markt innewohnende Wettbewerbsprinzip, dessen tragende Säule das Kostendämpfungsprinzip darstellt: je kostengünstiger betrieben, desto konkurrenzfähiger. Downgrading heißt das Zauberwort: goodbye, Einzelzimmer; welcome, Schlafsaal mit Mehrfach-Etagenbetten. Es muss sich ja rechnen, das neue Programm, wenn die Privatwirtschaft daran partizipieren und davon profitieren möchte.

Und weil es sich rechnen muss, sollte - wenn der Markt erst mal auf den Geschmack gekommen ist - beizeiten der Gedanke an Sanktionen gedacht werden: Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt, verweigerst du die Teilnahme am neuen workfare-Camp, bekommst du keine Transferzahlungen mehr.

Zwangsarbeit, anybody? Arbeitslager? Umerziehung?

Behinderte und nichtbehinderte Menschen.
Hauptsache arbeitslos.
Gebrandmarkt als arbeitsscheu.
Alle unter einem Dach.

Dann vielleicht doch lieber Konzentrationslager? Weil, die Insassen sollen sich ja konzentrieren auf das Denken neuer Gedanken. Und dabei soll ihnen geholfen werden. Hört ihr? Wir wollen euch doch nur helfen. Obwohl es sich so anfühlt, als raste ein losgelassener Kampfhund mit gefletschtem Gebiss durch die Gegend, ein Kampfhund, dessen Besitzer freundlich ruft: Der will doch nur spielen.

Women in workhouse

Und deshalb beschäftigt mich die Frage, woran Faschismus zu erkennen ist. Und zwar möglichst frühzeitig. Weil, wenn es zu spät ist, ist es zu spät.

36 Kommentare:

  1. Nur eine kleine Anmerkung zu deinem erschreckenden Artikel: Der seinerzeitige Faschismus kam nicht auf "Samtpfoten", um erst später die "schwarzen Stiefel" anzuziehen. Die erste große Gewalt-, Verhaftungs- und Internierungswelle stand am Beginn der Naziherrschaft. Der Nationalsozialismus zog dann die "schwarzen Stiefel" erst einmal wieder aus, die Schlägertrupps verschwanden von den Straßen - bis zur Pogromnacht im November 1938. Es war eher das Prinzip "Shock and awe", nicht zuletzt um zu zeigen: Das können wir, und das können wir jederzeit wieder!

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  2. Wir sind nicht weit davon entfernt. Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen.

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    1. Vielen Dank für diesen Hinweis!
      Ich habe gerade hier (sehr guter Text) über die Schule der Arbeitslosen gelesen - Bundesagentur der Angst, fiel mir dazu ein; der gesamte "Plot" erscheint wie eine vorweggenommene, beklemmende Reminiszenz an die derzeitige Entwicklung (nicht nur, aber besonders) in England.

      "Wir sind nicht weit davon entfernt."
      Wir schreiben ja auch erst das Jahr 2013. Zelter hat sein Sphericon im Jahr 2016 angesiedelt, bis dahin ist noch einiges machbar.

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    2. Arbeiter aller Länder – entspannt euch!

      ... à propos „Schule der Arbeitslosen" und „Work is Freedom“ fällt mir spontan Bob Black's Text aus dem 1985 ein:

      The Abolition of Work | [original txt]
      ~~~
      Niemand sollte jemals arbeiten.

      Arbeit ist die Ursache nahezu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenkliche Übel geht aufs Arbeiten oder auf eine fürs Arbeiten eingerichtete Welt zurück. Um das Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.

      ~~~
      Viel Spaß beim Lesen!

      p.s.:
      Deutsche Übersetzung:
      Bob Black - Die Abschaffung der Arbeit


      p.p.s:
      Der restliche Ham-Speak im Kommentariat ist mir heuer 'too long; didn't read'.

      Grüße & Ich bin dann mal wieder wech ;~)

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    3. Aha. Mit an Brettl nach Zwettl, stimmt's? Beneidenswert ;)

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  3. Gut geschrieben.
    Ich warne seit 1990 vor dem Faschismus hier.
    Ach ja - seitdem gehöre ich zu diesem Staat.

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  4. Hallo Mrs.MOP,

    Das "Schwarzbuch Kapitalismus" von RobertKurz gibt auf Seite 16/letzter Absatz, Seite 17 erster Absatz sowie ab Seite 62 -Die Mühlen des Teufels-
    sehr gute Einblicke ins Thema.
    daraus wird auch ersichtlich das (ungezügelter) Kapitalismus reinster Faschismus ist.
    (Das Buch kann sich jeder kostenlos herunterladen bei
    www.exit-online.org

    MfG: M.B.

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  5. Faschismus? Dann war 1834 auch schon Faschismus am Werk. Erinnert an Thomas Robert Malthus. Wer hätte gedacht,dass sich dessen fit-for-workhouse-Experimente im Jahre 2013 einer zweifelhaften Renaissance erfreuen dürfen.

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  6. @ M.B.

    Marktwirtschaft führt zum Kapitalismus, Kapitalismus führt in die Barbarei. Das verläuft quasi naturgesetzartig.

    Aber es macht wenig Sinn, jegliche Barbarei im marktwirtschaftlichen System als „Faschismus“ zu bezeichnen, weil Faschismus eine spezifische historische Erscheinungsform der marktwirtschaftlichen Barbarei ist.

    Horkheimer wies darauf hin, dass der Kapitalismus aus ureigenstem Prinzip zur Verbrecherherrschaft tendiert. Ergänzend wäre hinzuzufügen: Zur legalen Verbrecherherrschaft.

    Der deutsche Militärimperialismus zum Zwecke der Errichtung einer Raub- und Versklavungsökonomie im Osten unterscheidet sich in seinen Erscheinungen doch ganz wesentlich von den neoliberalen Privatisierungen, von PPP-Projekten, von Staatsverschuldung zum Zwecke von „Bankenrettungen“. Etc.

    Selbstverständlich ist auch dies Betrugs-, Raub- und Plünderungsökonomie, aber sie richtet sich nicht – wie im Faschismus – in erster Linie gegen andere Völker, sondern gegen die eigenen Bevölkerungen. Auch wird nicht in nationalistischer bzw. nationalsozialistischer Weise die „Volksgemeinschaft“ idealisiert.

    Faschismus in seiner historischen Erscheinungsform ist ein gesellschaftliches Phänomen aus früheren Zeiten imperialistischer Konkurrenz, als herrschende nationale Klassen noch vermittels ihrer Nationen gegeneinander konkurrierten.

    Heute ist die herrschende Klasse supranational als eine globale Klasse organisiert.

    Robert Kurz hätte der Aussage, dass „(ungezügelter) Kapitalismus reinster Faschismus ist“ entschieden widersprochen. Zum einen, weil er die Vorstellung einer „Zügelung“ des Kapitalismus für Nonsens gehalten hätte, zweitens weil er gerade im „Schwarzbuch Kapitalismus" beschreibt, dass die Marktwirtschaft von Anfang an barbarische Züge hatte, weil die Barbarei dem marktwirtschaftlichen System inhärent ist, weil dieses ohne die neue Sklavenklasse der eigentumslosen und ausgebeuteten Lohnarbeiter gar nicht existieren kann.

    @Anonym3. August 2013 21:08
    Faschismus? Dann war 1834 auch schon Faschismus am Werk. Erinnert an Thomas Robert Malthus.

    Guter Hinweis, weil zutreffende Kritik am inflationären und begriffslosen Gebrauch von “Faschismus”.

    Gruss
    HAM

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  7. leider gibt es soviele definitionen von faschismus, daß sich auch aufrechte faschismusgegner daran jahrelang abarbeiten und ausdiskutieren können ohne sich mit dem jeden tag greifbar werdender realen faschismus auseinandersetzen zu müssen.
    was ist das denn, wenn die usa samt nato weltweit staaten auslöschen, destabilisieren oder bedrohen und dabei mit allen mitteln mordend und plündernd menschen in not und elend stürzen?
    sicher die menschenverachtung, die sich zeigt, wenn man mittels hartz oder ähnlichen gesetzen grosse menschengruppen ihrer rechte beraubt und ihnen ein friedliches leben verweigert, ist eine andere als die derjenigen, die veranlassen mittels bomben und raketen ganze städte und länder in schutt und asche zu legen - aber beide sind bereit über leichen zu gehen, um ihre ziele zu erreichen und da sie dabei eben keine grenzen kennen, sind ihre motivation, mittel oder aussagen eigentlich nebensächlich. menschenmordende regimes sind nun einmal faschistisch - egal wie, wo und wieviel sie morden.

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  8. @ landbewohner4. August 2013 08:25
    leider gibt es soviele definitionen von faschismus, daß sich auch aufrechte faschismusgegner daran jahrelang abarbeiten und ausdiskutieren können ohne sich mit dem jeden tag greifbar werdender realen faschismus auseinandersetzen zu müssen.

    Bezogen auf die Gesamtheit der betroffenen Menschen waren die sog. goldenen 70-er Jahre keineswegs besser. Man erinnere sich an Vietnam, Chile, an die südamerikanischen Militärdiktaturen etc. Vor allem denke man daran, wie durch marktwirtschaftliche Ausbeutung (s. „terms of trade“), damals Hunger und Elend der Menschen in der III. Welt - in Südamerika, Asien und Afrika – verursacht wurde, und zwar im Rahmen einer Überschuss- und Vergeudungsökonomie.

    Man muss schon sehr nationalistisch und selbstbezogen denken, wenn man die damalige Zeit als „nicht-faschistisch“ und die heutige als „faschistisch“ deklariert, weil man damals selbst nicht von der marktwirtschaftlichen Barbarei betroffen war, sondern als Teil der Metropolen-Lohnarbeiterschaft zu den Profiteuren der kapitalistischen Ökonomie gehörte, während sich heute die Zustände in den Metropolen verschlechtern, aber bei weitem nicht an das damalige Elend der III. Welt heranreichen.

    MfG
    HAM

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  9. @HAM
    Da es, wie "Landbewohner" richtig anmerkt, viele unterschiedliche Definitionen des Begriffes 'Faschismus' gibt, habe ich mir meine eigene gestrickt, und diese lautet:
    Immer wenn sich eine Gruppe von Menschen aus ideologischen, religiösen, rassischen , finanziellen oder was auch immer für Gründen sich denen überlegen fühlt die dieser Gruppe nicht angehören, dann ist es Faschismus. Die Konsequenzen für die Mitglieder dieser Gruppe können in zwei Aktivitäten aufgeteilt werden:
    Bei den Ideologisch- religiösen Gruppen wird versucht die 'Andersgläubigen' entweder der eigenen Gruppe einzuverleiben oder sie aus zu grenzen, beim rassisch bedingten Faschismus geht nur Ausgrenzung oder Vernichtung, beim finanziellen Faschismus dagegen steht die Ausbeutung der Ausbeutungsfähigen und absolute Verarmung der "Überflüssigen" auf dem 'Programm'.
    Das R.K. der Aussage, das ungezügelter Kapitalismus reinster Faschismus ist, widersprochen hätte, mag sein. Aber ich sehe mich ja nicht als Papagei von R.K. nur weil ich sein Buch gelesen habe. Ich habe das Buch gerne gelesen, habe viel daraus gelernt, muss aber deswegen nicht unbedingt seine komplette Denkweise auch übernehmen. MfG: M.B.

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  10. @M.Brand4. August 2013 11:38
    Da es, wie "Landbewohner" richtig anmerkt, viele unterschiedliche Definitionen des Begriffes 'Faschismus' gibt, habe ich mir meine eigene gestrickt, und diese lautet:
    Immer wenn sich eine Gruppe von Menschen aus ideologischen, religiösen, rassischen , finanziellen oder was auch immer für Gründen sich denen überlegen fühlt die dieser Gruppe nicht angehören, dann ist es Faschismus.


    Diese Definition beschreibt aus meiner Sicht das allgemeine Phänomen von ausbeuterischer Herrschaft. Herrschaft hat immer zum Zweck, andere Menschen zu Knechten oder Sklaven zu machen. Faschismus hingegen ist durch spezifische Besonderheiten gekennzeichnet.

    Die Angehörigen einer herrschenden Klasse fühlen sich immer als „Herrenmenschen“ und den beherrschten Klassen wertmäßig überlegen. Psychologisch kann man sagen, dass in anatgonistischen Klassengesellschaften die Beziehung der Herrschenden zu den Beherrschten auf Gegenidentifikation, also auf menschlicher Abwertung, basiert.

    Das ist das Gegenteil vom kategorischen Imperativ, also von sozialer Reziprozität. Die Maxime der Herrenmenschen lautet nicht: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!“, sondern der Herrenmensch sieht im Gegenteil sich im Recht, andere Menschen zu versklaven, auszubeuten und zu erniedrigen, weil er sich biologisch, kulturell oder religiös überlegen ansieht.

    Darauf beruht die gesamte europäische Geschichte gegenüber anderen Völkern, angefangen von den Konquistadoren, über die Sklavenhaltung von schwarzen Afrikanern durch europäische Auswanderer in Nordamerika, über den Völkermord an den indianischen Ureinwohner, über Kolonialismus, imperialistische Kriege etc.

    Während die Beziehung der Herrenmenschen zu den „Untermenschen“ durch Gegenidentifikation gekennzeichnet ist, basiert die Beziehung der Angehörigen der herrschenden Klassen untereinander auf Identifikation. Sie wissen um ihre Minorität und ihre soziale Stellung, aus diesem Klassenbewusstsein resultiert eine Klassensolidarität. So spricht Noam Chomsky im Zusammenhang mit dem Neoliberalismus von einer Art „Sozialismus der Herrschenden“.

    Das Besondere an faschistischer Herrschaft ist, dass ihr die Idee von „Volksgemeinschaft“ und „nationalem Sozialismus“ zugrunde liegt. Ursprünglich war der „nationale Sozialismus“ eine sozialliberale Idee, formuliert vom Liberalen Friedrich Naumann. Auf eine einfache Formel gebracht lautet die Idee: Sozialismus nach innen, aggressive Konkurrenz – ggf. mit militärischen Mitteln – gegen die anderen Völker.

    Die Klassen sollten dabei eine nationale Einheit (Volksgemeinschaft) bilden und kooperieren, anstatt gegeneinander Klassenkampf führen (vgl. Nationaler Sozialismus, Korporativismus, Korporatismus).

    Auch die SPD-Politik ist historisch durch ein klassenkorporatistisches Konzept gekennzeichnet, daher auch ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914, die „Burgfriedenspolitik“ im WK I und die Niederschlagung der deutschen Revolution 1918. Mit der neoliberalen Wende und Durchführung der „Agenda 2010“ hat sich die SPD vom Sozialliberalismus verabschiedet.

    Zu unterscheiden vom „nationalen Sozialismus“ sozialliberaler und sozialdemokratischer Provenienz ist der „Hitlerismus“ mit seiner rassistischen Orientierung und mörderischen Barbarei. Rassismus und Antisemitismus waren kennzeichnend für den deutschen Faschismus (Hitlerismus), aber keineswegs generell für alle Faschismen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Faschismus).

    Der Gegenidentifikation der Herrschenden hat zum Pendant die idealisierende Identifikation der Beherrschten mit den Herrschenden, also Unterwerfungsbereitschaft der Beherrschten und ihr Bedürfnis nach Führung bzw. nach einer guten FührerIn.

    Erich Fromm sprach vom Sadismus der Herrschenden dessen Gegenstück der Masochismus der Beherrschten sei, also ein in der erworbenen Triebstruktur verankertes, zwanghaftes und suchtartiges Bedürfnis nach Beherrschtwerden.

    MfG
    HAM

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  11. @HAM

    ich glaub im Grunde sind wir uns einig das alle Systeme in denen Eine (kleine) Gruppe sich als die Überlegene sieht und eine (große) Gruppe unterdrückt, sei es ideologisch oder materiell, kann von faschistoiden Zügen gesprochen werden. Ob jetzt die beherrschende Gruppe sadistisch ist, kann, muss aber nicht sein. Denn Beherrschten unterstelle ich allerdings einen, zumindest latenten, Masochismus.

    MfG: M.B.

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  12. Mir fällt dazu etwas ein:

    Die französische Republik definiert sich in den Begriffen von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" (Liberté, Egalité, und Fraternité).

    Während des deutschen Faschismus und unter der Kollaboration des Vichy-Regimes wurden diese Begriffe ersetzt durch "Arbeit, Familie und Vaterland" (Travail, Famille,Patrie).

    Das gibt doch einen Anhaltspunkt dafür, worauf Faschismus letztendlich hinausläuft.

    Franz Schandl, Historiker, hat die Diktatur als Zwillingsschwester der Demokratie gekennzeichnet, was darauf verweisen soll, das der Mensch in der Demokratie einerseits freies Subjekt ist andererseits in der Wirtschaft unfreies, Herr und Knecht zugleich, der Zwangscharakter darin schon angelegt ist.

    Im Faschismus soll dieser Widerspruch aufgehoben werden. Die Gesellschaft formiert sich zur Volksgemeinschaft. Der Lohnarbeiter wird von der Konkurrenz untereinander befreit und wird zum Arbeitssoldaten, die Wirtschaft kommt unter einheitliche Kontrolle, das Wohl der Nation steht im Vordergrund.

    Widerstand dagegen wird brutal beseitigt. Das Volk herrscht jetzt absolut über sich selbst. Es gibt keine Klassen mehr, nur noch einen einheitlichen Volkskörper mit einheitlichem Willen. Keine parlamentarische Mehrheit regiert mehr über eine Minderheit. Wahlen werden logischerweise unnötig.

    Ich halte es für falsch, verschiedene Erscheinungsformen der Krisenbewältigung im Kapitalismus mit dem Prädikat Faschismus zu kennzeichnen.

    Richtig ist sicher, dass viele davon Parallelen zum Faschismus aufweisen, insbesondere die Momente, die auf eine Unterwerfung der Lohnarbeit hinweisen, wie die Zwangsarbeit.

    Ideologische Aspekte des Faschismus lassen sich ebenso ausmachen, betrachte ich aber noch nicht als gesamtgesellschaftlich mehrheitsfähig, sondern eher als Ausdruck dafür wie gesellschaftliche Gruppen ihre innere Krisenbewältigung aufbereiten.

    Vielleicht noch ein Aspekt: Um die Gesellschaft für eine Volksgemeinschaft zu gewinnen, bedarf es noch einer Bedrohung der nationalen Existenz. Diese wird zur Zeit noch für unwahrscheinlich gehalten.

    Mein Fazit daraus: Wir haben es mit autoritären Mitteln der Krisenbewältigung zu tun, die für mich eher dahin führen wie es Robert Kurz mal sinngemäss ausgedrückt hat: Wir schauen in die Hölle des Kapitalismus des 18-ten Jahrhunderts.

    Bekommen wir die Kurve?



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  13. @ M.Brand 4. August 2013 15:15

    Faschistoide Züge weisen sowohl die Herren wie auch die Knechte bzw. Sklaven auf. Fromm spricht vom „autoritären Charakter“. Beide verhalten sich nicht wie freie Menschen, sondern beide nehmen – wie Hegel in seiner Herr-Knecht-Dialektik zeigt – sich gegenseitig die Freiheit.

    Auch der „Herrenmensch“ befindet sich tiefenpsychologisch in einer Zwangsstruktur, welche von Fromm als „sadistisch“ bezeichnet wird. Wie bei fast allen psychoanalytischen Begriffen ist auch hier der Bedeutungsinhalt nicht kongruent zum Alltagsverständnis. Nicht nur der der Mensch nicht mit Knechtscharakter, sondern auch der „Herrenmensch“ ist ein Zwangsneurotiker, der aus innerem Zwang andere Menschen beherrschen muss.

    Beide – sowohl der Mensch mit Knechtscharakter wie auch der Herrenmensch – sind psychisch keine freien Menschen.

    Robert Kurz beschreibt im "Schwarzbuch Kapitalismus", dass die Logik der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems es erfordert, die Lohnarbeiter auf so niedrigem Niveau des Privateigentums zu halten, damit sie fortwährend gezwungen werden, Lohnarbeit zu leisten. Am besten ist, wenn sie sich mit Konsumentenkrediten verschulden, so müssen sie lebenslang Lohnarbeitssklaven bleiben. Die größte Angst von Lohnarbeitern ist, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und nicht mehr Lohnsklave sein zu DÜRFEN.

    Das System funktioniert auf Basis der Selbstversklavung der Lohnarbeiter, und daher kommt es auch zur Entwicklung von entsprechenden Charakterstrukturen.

    Persönlich kenne ich keinen einzigen Menschen, der über ein derartiges arbeitsfreies Einkommen verfügt, dass er nicht mehr arbeiten muss. Ausgenommen die Rentner natürlich. Die meisten sind Angestellte, ein paar arbeiten als selbständige Dienstleister, aber sind dort ähnlichen, zum Teil noch größeren Arbeitszwängen als Angestellte unterworfen. Es gibt auch Eigentümer von KMUs, für die gilt Ähnliches. Sie alle befinden sich in alltäglichen Hamsterrädern und klagen über die Zunahme von Stress und Arbeitshetze sowie beruflicher Unsicherheit.

    Die meisten wissen, dass sie Sklaven und Gefangene eines ökonomischen Systems sind, aber trotzdem üben sie keine Systemkritik oder fordern ein anderes ökonomisches System.

    Sie hängen im System drin und kommen noch nicht einmal im Gedankenexperiment dort hinaus. Es scheint, als seien sie nicht in der Lage, über das System hinauszudenken, und total dem TINA-Syndrom verfallen zu sein.

    MfG
    HAM

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  14. @Troptard 4. August 2013 16:00
    Bekommen wir die Kurve?

    Ja, warum nicht? Im Gegensatz zu früher bin ich heute sehr zuversichtlich.

    Um mich selbst zu zitieren:

    Objektiv ist die gesellschaftliche Situation alles andere als alternativlos. Nur subjektiv erscheint sie so, weil die Menschen glauben, sie wären in einer „Sackgasse“ oder „auswegslosen Situation“. Die Menschen sind gefangen in ihren Realitätskonstrukten bzw. in der kognitiven Strukturierung ihres Gehirns, wie es die Neuropsychologie ausdrücken würde.
    (http://le-bohemien.net/2013/03/01/weltrevolution-in-der-szenekneipe/#comment-73958)

    HAM

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  15. @HAM
    zum gefangen sein im Denken. Diese Entwicklung wurde ja von R.K. in seinem buch sehr anschaulich beschrieben.
    Es scheint den KUM-Leuten nicht möglich zu sein zu realisieren das sie mit den Arbeitnehmern gegenüber dem Kapital in einem Boot sitzen. Ich habe weitere Überzeugungsversuche schon vor einiger zeit eingestellt.
    Zu den Neurosen kann nur sagen, so ist es. Ich zähl mich ja auch dazu, habe aber vielleicht die ganze Tragweite noch nicht erkannt, aber was nicht ist, kann ja noch werden.
    @Troptard
    Die Zwangsarbeit wurde bei uns (in D) mit den Harz-Gesetzen offiziell und für jeden sichtbar eingeführt.
    Sonst, interessante Ausführungen was die Zusammenarbeit der Vichy-Franzosen mit den Nazis anbelangt. So detailliert wusste ich das noch nicht.

    MfG: M.B.

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  16. Anonym, 17.08 Uhr

    Wobei ich die äussere Schranke des Kapitalismus nicht vernachlässigen würde.

    Die Ressourcenvernichtung und das sehr wahrscheinliche Umkippen des Klimas, welches sich ja bereits andeutet und erhebliche Konsequenzen für die Ernährung der Menschen haben wird.

    Solange der Schein trügt, weil in den Supermärkten ja alles noch frei und im Überfluss zur Verfügung steht,
    solange können wir uns mit vergifteten Lebensmitteln beschäftigen, uns nach Alternativen aus dem Biomarkt umschauen ,ohne dass wir uns bewusst werden müssen, dass uns genau das bevorsteht, was für die Mehrheit der Menschen schon immer Leid war, Hunger.

    Die Hinterlassenschaft des Kapitals wird nicht so einfach zu bewältigen sein, wie das Linke so gern sehen möchten.
    Wenn der Kapitalismus zusammenkrachen sollte, wird es nicht einfach so sein, dass wir aus einem schlechten Traum erwachen und danach wird alles gut.

    Für zukünftige Generationen wird das die grösste Herausforderung sein und diese birgt wiederum selbst die Gefahr autoritärer Strukturen in sich.

    Ich bin da weniger optimistisch.



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  17. Wenn mich der Optimismus verlässt, ziehe ich um auf den Hauptfriedhof.
    Besser ein etwas verrückter Optimismus als ein depressiver Fatalismus.

    MfG: M.B.

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    1. Fatalismus: "Glaube des Menschen,, dass sein eigener Wille an seinem Schicksal nichts ändern könne."

      Kaum versuche ich einen anderen Aspekt in die Diskussion einzubringen, die verzweifelte Ausbeutung der letzten Ressourcen und das sehr wahrscheinliche Umkippen des Klimas, um damit anzudeuten welche Konsequenzen das für die Zukunft haben könnte,wird mir sofort die Fatalismus-Keule an den Kopf geschleudert.

      Ich bin fast versucht,dies als linken Reflex abzutun, einer Linken, die selbst zur Gestaltung der Zukunft nichts mehr beitragen kann, aber alle Gedanken aus dem Weg räumen will, die ihm nicht ins linke Oberstübchen passen.

      Und dann reicht auch nicht der Vorwurf des Fatalismus allein,sondern es muss daraus auch noch ein depressiver konstruiert werden.

      Leider neigst Du gern zu Unterstellungen!
      Hier als Beispiel: "... muss aber deshalb nicht unbedingt seine komplette Denkweise auch übernehmen( die von Robert Kurz)" gerichtet an HAM.

      Ehrlich gesagt finde ich diese Aussage ganz schön dreist, unverschämt sogar, jemanden zu unterstellen, dass hier ein Kommentator nur das wiederzugeben in der Lage ist, was er bei Robert Kurz gelesen hat.

      Damit genug, Gruss Troptard.

      Löschen
  18. Hallo Troptard,

    ich teile Deine Argumente und Sorgen durchaus.
    Das, was Du Unterstellung nennst, sind einfach meine Ansichten welche Du nicht auf Dich beziehen brauchst. Also, bis zum nächsten mal.

    MfG: M.B.

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  19. @M.Brand

    Der Ausdruck „depressiver Fatalismus“ charakterisiert sehr gut einen Aspekt des psychischen Zustands der Bevölkerung wie auch der Mehrheit der Linken. Zur Depression gehören Resignation und Regression, der Fatalismus ist Ausdruck des Unvermögens, die Zukunft des Gemeinwesens (mit)zugestalten. Er war und ist die Philosophie der beherrschten Klassen.

    Im Zentrum des zivilisatorischen Niedergangs in den spätkapitalistischen Gesellschaften steht jedoch der allgemeine Rationalitätsverlust, die Individuen sind – mit Ausnahme kleiner Minderheiten - nicht (mehr) in der Lage, gesellschaftliche Prozesse rational zu erfassen, geschweige denn, zu gestalten.

    Die Individuen erkennen keine logischen Widersprüche, z. B. wenn behauptet wird, man müsse die Renten kürzen, um diese sicherer zu machen. Eine sichere Rente wäre jedoch logischerweise eine, die KEINE Kürzungen erfährt.

    Der Satz: „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ müsste doch jedem denkfähigen Menschen sofort als Idiotie auffallen.

    Auch das linke Bewusstsein steckt voller Schizophrenie und Idiotien. Jedem müsste doch eigentlich klar sein, dass Kapitalismus nichts anderes ist als entwickelte Marktwirtschaft. Dennoch gibt es nicht wenige Linke, welche „Marktwirtschaft statt Kapitalismus“ fordern. Und die meisten können sich eine arbeitsteilige Gesellschaft ohne Marktwirtschaft gar nicht konkret vorstellen.

    Weit verbreitet bei den Linken ist der Irrglaube, man könne den Kapitalismus zum Wohle aller steuern bzw. zügeln.

    Wäre es so, warum ist dies nicht geschehen und warum geschieht es heute nicht? Dass Obsolenzproduktion die Umwelt zerstört und gesamtwirtschaftlich Ressourcen, also Arbeitskraft, Energie und Rohstoffe, vergeudet und deshalb Irrsinn ist war ein wichtiger Grund für die Forderung der 68-er Linken nach Systemveränderung.

    Was ist daraus geworden? Die Obsolenzproduktion hat zugenommen, so wie jede Scheiße im Kapitalismus, wenn diese nur Profit bringt. Zum Beispiel wurde ein hervorragendes Gesundheitssystem ruiniert, weil sich in der Pharmaindustrie und mit Krankenhäusern so gut Profit machen lässt.

    Die Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen ist alt, zum Positiven hat sich in den letzten 40 Jahren nichts geändert, im Gegenteil. Die Lohnarbeiterklasse hat sich buchstäblich arm gearbeitet. Der Arbeitsstress nimmt zu, die Reallöhne und Renten nehmen ab.

    Trotzdem behaupten die Reformlinken, man könne den Kapitalismus steuern, wenn es die Politik nur wolle. Und auch der linke Mainstream glaubt es, obwohl es im vollständigen Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit steht.

    Die größte Idiotie auf Seiten der Linken ist, das Gewinnmotiv moralisch zu verurteilen. Denn niemand ist wirtschaftlich aktiv, sei es als Investor, als Unternehmer oder auch als Lohnarbeiter, wenn er dabei nicht einen wirtschaftlichen Vorteil erreicht. In einer Marktwirtschaft ist die Gewinnmöglichkeit die unverzichtbare Grundlage des Systems, ohne Gewinnerwartung gibt es keine Wirtschaftsaktivität. Alles unterliegt dem Gesetz von G --> W --> G´, alles muss zur gewinnbringenden Ware gemacht werden, damit es überhaupt im Wirtschaftskreislauf bleibt. Wenn der Lohnarbeiter nicht gewinnbringend wirtschaftlich eingesetzt werden kann, dann wird er nicht eingestellt bzw. entlassen.

    Wer wie die Reformlinken propagiert, dass höhere Löhne ein wirtschaftliches Heilmittel seien, um wohlstandsförderndes Wirtschaftswachstum zu erreichen, muss erklären, wie Lohnerhöhungen möglich werden sollen, ohne die Gewinne zu reduzieren. Das wird niemandem gelingen. Trotzdem glaubt man diesen linken Schwachsinn, der nichts weiter ist als politische Rattenfängerei.

    Der Rationalitätsverlust der spätkapitalistischen Gesellschaften führt dazu, dass man geradezu von Idioten umzingelt ist. Wobei hier Idiot im ursprünglichen (griechischen) Sinne zu verstehen ist, nämlich als unmündiger Bürger, der unfähig ist, als Subjekt das Gemeinwesen vernünftig mitzugestalten.

    Dieser Rationalitätsverlust ist m.E. für Menschen, die noch über Verstand und Humanismus verfügen, am schwersten zu ertragen.

    MfG
    HAM

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  20. Ergänzung:

    Um nicht im Kontext der vorangegangen Kontroverse missverstanden zu werden, möchte ich betonen, dass ich den Ausdruck „depressiver Fatalismus“ nicht auf Troptard beziehe.

    Heutige Fatalisten sind eher „Zwangsoptimisten“, die sich dem Imperativ des „Think positive“ unterwerfen und meinen, es werde irgendwie schon gut gehen, und dabei die realen gesellschaftlichen Bedrohungen verdrängen und verleugnen.

    Die depressiven Fatlisten wollen vor allem „Spaß“ und Unterhaltung haben. Im Internet schwätzen, klagen und jammern sie und exhibitionieren sich gern mit ihrer „Betroffenheit“, um zu zeigen, welche guten Menschen sie sind.

    Aber sie befassen sich nicht ernsthaft mit kritischer Theorie und Reflexion und leisten keinerlei relevanten Beitrag in der Praxis bzw. zu Erkenntnissen und Lösungen.

    MfG
    HAM

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  21. @HAM
    so wie Du sehe ich es im Großen und Ganzen auch. Auch R.K. sieht ja die Linke im kapitalistischen Denken gefangen.
    Was ist der Ausweg oder die Lösung? Ein Anarchismus nach Bakunin oder wie er Spanien und der Ukraine schon ausprobiert wurde?
    Ich weiß es nicht. Beklagen was alles falsch läuft mit Angabe von möglichen Gründen ist eine Sache, der leichtere Teil, gangbare und mehrheitsfähige Lösungsansätze allerdings ungleich schwerer.
    Zu sagen, ich könnte in einer anarchistischen Gesellschaft leben, mag stimmen aber was ist mit all denen die sich einen herrschaftslosen (nicht gesetzlosen) Zustand nicht vorstellen können? Leider bilden diese die Absolute Mehrheit und zwar von beiden Seite, Herren und Knechte.
    MfG: M.B.

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  22. @M.Brand 5. August 2013 20:08
    Was ist der Ausweg oder die Lösung?

    Ein Freund, ein Soziologe, antwortete einmal auf diese Frage: „Ganz einfach – Revolution!“. Und die Reaktion der kleinbürgerlichen Fragesteller war Erstaunen und Abwehr. Denn Revolution wollten sie auf keinen Fall. Sie wollten ein Gesellschaftsveränderung ohne Revolution gemäß dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“.

    Das ist schon über ein Vierteljahrhundert her.

    Nach wie vor ist Revolution ein absolutes Tabu.

    Wobei eine Revolution des jakobinischen oder leninistischen Typs angesichts der entwickelten Herrschaftstechnologien nicht mehr möglich wäre, vor allem auch keineswegs wünschenswert. Denn es geht nicht um eine gewaltsame Machtergreifung mit dem Ziel der Auswechselung der Herrschaftsfiguren, sondern um den Prozess einer emanzipatorischen Struktur- bzw. Kulturrevolution.

    Und dieser Prozess ist schon voll im Gange, allerdings ist dies der Gesellschaft nicht bewusst, weil die Befreiung der Menschen von der einfachen Reproduktionsarbeit vermittels des Einsatzes von Maschinen nicht als Emanzipation, sondern als Problem erlebt. Eben weil Arbeitslosigkeit bei den eigentumslosen Menschen zum Verlust ihres Erwerbseinkommens führt und damit zu ihrer Exklusion aus der geldvermittelten Warenwirtschaft. Weil heute alles gekauft werden muss, benötigt man für alles Geld. Aber ein arbeitsloses Geldeinkommen ist in diesem System nur für Vermögensbesitzer möglich.

    Die Lösung liegt logischerweise in der Entwicklung einer neuen Eigentumsordnung sowie einer neuen Produktionslogik, konkret: der Transformation der tauschwertorientierten Ökonomie in eine gebrauchswertorientierte.

    Die Ideen dafür sind schon lange vorhanden. Nach der Phase der revolutionären Ideen zu Zeiten der sog. 68-er-Bewegung gibt es jedoch seit über 30 Jahren nur noch intellektuellen Stillstand oder Niedergang, bekannt als TINA-Syndrom.

    Die kapitalistische Welt ist zum Irrenhaus geworden. Angesichts des gesellschaftlichen Verlusts von Rationalität haben intelligente Ideen auch keine Chance, jemals „mehrheitsfähig“ zu werden. Das liegt jedoch nicht an den Ideen, sondern am psychischen und kognitiven Zustand der Gesellschaft.

    Wobei der Rationalitätsverlust sich auch bei den kapitalistischen Funktionseliten findet.

    Das kapitalistische Irrenhaus ist längst „out of control“ und es ist schon der Zeitraum absehbar, wo das kapitalistische System manifest dysfunktional wird. Man wird versuchen, mit Mitteln der Diktatur das System möglichst lange am Laufen zu halten. Inzwischen sind wir schon längst in der „postdemokratischen Phase“. Sennett spricht vom „sanften Faschismus“. Zu erwarten ist, dass dieser zunehmend unsanfter wird, und dies werden insbesondere die „Überflüssigen“ zu spüren bekommen und immer größere Teile des sog. Mittelstandes werden „nach unten“ abdriften.

    Anschließend im Teil 2 einige Gedanken zur zukünftigen Entwicklung.

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  23. Teil 2 - einige Gedanken zur zukünftigen Entwicklung:

    Aus globaler Perspektive sehen wir zwei unterschiedliche Tendenzen, nämlich eine allgemeine wirtschaftliche Abwärtsbewegung in den alten kapitalistischen Ländern, also in den USA und in Europa, und eine Aufwärtsbewegung insbesondere in China.

    Während in den alten kapitalistischen Ländern die Produktivkräfte zu gesellschaftlichen Destruktivkräften werden. die sich gegen das Gemeinwohl und den allgemeinen Wohlstand richten, ist dies in China anders. China hat ein anderes gesellschaftliches System und eine andere Eigentumsordnung.

    China geht einen anderen Weg und daraus wird sich – so meine Annahme - eine neue Systemkonkurrenz auf globaler Ebene entwickeln.

    Zu einem System der Zukunft kann ich nur sagen, dass es prosoziales Verhalten belohnen muss und anti-soziale Verhalten bestrafen muss.

    Entsprechend muss z. B. die Höhe der Löhne von Aspekt der sozialen Nützlichkeit her bestimmt werden.

    Die zur gesellschaftlichen Reproduktion durchschnittlich notwendige Arbeit wird stark reduziert sein, vielleicht auf 10 Std. pro Woche. Alle Menschen erhalten ein existenzsicherndes Grundeinkommen. Aber viele Menschen werden freiwillig forschende und kreative Tätigkeiten aus Lust am Entdecken und Entwickeln ausüben, so wie sie heute ihren Hobbys nachgehen.

    Da sich die Betriebe im Gesellschaftseigentum befinden und nicht mehr der betriebswirtschaftlichen Logik der Maximierung von Privateigentum unterworfen sind, gib es keine Obsolenzproduktion mehr. Im Gesundheitswesen wird nach medizinischer Notwendigkeit und Nützlichkeit entschieden und nicht mehr nach dem betriebswirtschaftlichen Gewinnerwartungen der Kapitalgeber. Das Bildungswesen dient der Entwicklung der Potentiale der Individuen und nicht der Zurichtung der Menschen für deren Brauchbarkeit zur marktwirtschaftlichen Kapitalverwertung.

    Es wird persönliches Eigentum und auch weiterhin Geld geben. Denn jede arbeitsteilige Gesellschaft benötigt Fachhierarchien. So wird die postkapitalistische Gesellschaft kein „Gleichmachersozialismus“ sein.

    Das sind einige Gedanken zu einer auf dem heutigen Stand der Produktivkräfte möglichen konkreten Utopie. Aufgabe einer emanzipatorischen Bewegung ist es, dies den Menschen bewusst zu machen.

    MfG
    HAM

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  24. Hallo HAM,

    Deine Gedanken und Vorschläge finde ich gut und, mit genügend Menschen, die guten Willens sind, auch machbar. So etwa 15 - 20% der Gesamtbevölkerung werden benötigt um einen entsprechenden Wandel (Revolution)herbeizuführen.
    Den Einstieg, den hast Du auch schon beschrieben, nämlich:
    Das Einkommen eines Jeden ist proportional zur sozialen Nützlichkeit der Tätigkeit.
    Wenn dieser Punkt gelänge, dann ist alles Andere was Du beschrieben hast, der leichtere Teil. Aber die, die jetzt viel Einkommen beziehen für Gesellschaftsschädliche Tätigkeiten, die haben leider zur zeit das Sagen. Wie also kommen wir auf die ca. 15-20% "Willigen" um eine Umdenken einzuleiten??

    MfG: M.B.

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  25. @M.Brand 7. August 2013 13:09

    Der Anteil jener Menschen, die von ihrer Charakterstruktur her antisozial, also gewissermaßen den Prototyp des Menschenfeindes und Berufsverbrechers darstellen, ist wahrscheinlich sehr gering und liegt nach meiner Schätzung gesellschaftsübergreifend bei ca. 1%.

    Die meisten Menschen suchen lediglich ihren persönlichen Vorteil unter den vorgefundenen gesellschaftlichen Bedingungen und würden sie sich in einem System befinden, welches prosoziales Verhalten belohnt und anti-soziales bestraft, so würden sie sich prosozial verhalten, weil dies ihnen Vorteile bringt und Nachteile vermeidet.

    Die alltägliche Verhaltenssteuerung funktioniert über „positive Verstärkung“ bzw. über die Vermeidung negativer Sanktionen. Entsprechend verhalten sich heutzutage die meisten Menschen in diesem System, nämlich vorteilsorientiert sowie Nachteile und Konflikte vermeidend. Man kann dies opportunistisch und egoistisch etc. nennen. Als Wissenschaftler sollten wir jedoch nicht in eine unwissenschaftliche, nämlich moralisierende und wertende Betrachtung verfallen, sondern die psychologische Verhaltenssteuerung erkennen, welche aus den Systembedingungen resultiert. So wie eben in einem Spiel die Methode und Strategie gewählt wird, welche die besten Chancen bietet, zu den Gewinnern zu gehören.

    Wenn wir das latente ökonomische Potential in dieser Gesellschaft betrachten, dann ist klar, dass über 90% von einer Gesellschaftstransformation profitieren können. Um ein paar Beispiele zu nennen:

    95% und mehr der Ärzte – außer jenen, die ein Spitzeneinkommen erzielen.
    99% des Krankenpflegepersonals – außer PflegedirektorInnen
    99% der Polizisten
    99% der LehrerInnen und ErzieherInnen
    generell: über 95% der im Öffentlichen Dienst arbeitenden Angestellten und Beamten mit Ausnahme der Spitzenbeamten
    über 90% der ProfessorInnen, mit Ausnahme der „gekauften“ mit Spitzennebeneinkünften
    Usf.

    Nahezu alle Berufe, welche gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten ausführen sind in dieser Gesellschaft unterbezahlt und würden von einer Systemtransformation profitieren.

    Um zu begreifen, wie ein anderes System funktionieren könnte, bedarf es eines historischen und wissenschaftlich-technischen Wissens, des abstrakten Denkens und kreativer Vorstellungskraft.

    Also genau jenes Wissens und kognitiven Könnens, über welches der lohnarbeitende Normalo in der Regel nicht verfügt.

    Ob Lenin, Adorno oder Bourdieu, sie stimmen darüber ein, dass das „Proletariat“ nicht in der Lage ist, ein fortschrittliches, systemtransformatives Bewusstsein zu entwickeln.

    weiter:
    Zur Rolle der Intelligenzschichten im Prozess der Systemtransformation (Teil 2)

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  26. Zur Rolle der Intelligenzschichten im Prozess der Systemtransformation (Teil 2)

    Nur die Intelligenschichten sind potentiell in der Lage, ein systemtransformatives Bewusstsein zu entwickeln, dies zeigt auch die Empirie der revolutionären 68-er-Bewegung, deren historische Erfolglosigkeit nicht aus einem Defizit an Bewusstsein resultierte.
    Aus der Retrospektive meine ich, dass damals die Gesellschaften objektiv noch nicht „reif“ zur Transformation waren, weil der Prozess der Automatisierung und Roboterisierung noch nicht so weit vorangeschritten war, um die „Arbeitsgesellschaft“ (vgl. http://www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit) überwinden zu können.

    Es ist aufgrund dieser Erkenntnisse klar, dass eine Strategie der Aufklärung, welche sich ans Proletariat oder Prekariat wendet, zum Scheitern verurteilt ist.

    Nur die Intelligenzschichten bilden ein potentiell systemtransformatives Potential, zum einen, weil zumindest Teile von ihnen die erforderlichen intellektuellen Fähigkeiten aufweisen, zum andern durch ihre Verfügung über gesellschaftliche Funktionsmacht.

    Das reaktionäre Establishment hat dies erkannt. So haben die gesamten Bildungs“reformen“ seit den 70-er Jahren im Schul- und Hochschulbereich als Ziel, die Herausbildung von systemtransformativen Intelligenzschichten aka von „mündigen Bürgern“ zu verhindern. Letztes Beispiel ist die „Bologna-Reform“ (vgl. z.B. Konrad Liessmann „Theorie der Unbildung“). Das (Un)Bildungssystem ist so programmiert, dass es Arbeits- und Konsumidioten produziert.

    Soweit meine kurze Antwort.

    Ich finde diese Diskussion sehr interessant, aber wir führen sie m.E. am falschen Ort.

    Denn diese Art von Internetblogs funktionieren wie Müllschlucker. Was hier heute diskutiert wird, ist morgen Datenmüll. Außer uns wird wahrscheinlich niemand diese Diskussion nachlesen.

    Zudem bereiten meine Beiträge Mrs. Mop kein Vergnügen, wie sie schrieb.
    Deshalb will ich ihre Gastlichkeit hier nicht weiter in Anspruch nehmen.

    Wenn wir Zukunft mitgestalten wollen und durch unsere Ideen Wirkung erzielen wollen, dann benötigen wir entsprechende organisatorische Kontexte (Medien, Diskussionszirkel, Arbeitsgruppen, Tagungen etc.). Auch andere Strukturen im Internet. Vgl. z. B. die Diskussion ab:
    http://le-bohemien.net/2013/03/01/weltrevolution-in-der-szenekneipe/#comment-72256

    MfG
    HAM

    P.S.
    Ein interessanter Text, der gut zur Diskussion passt:
    http://wertkritische-beitraege.blogspot.ch/2012/04/wir-sind-die-krise.html

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  27. @HAM
    Um die Diskussion hier zu beenden, noch zwei Fragen:
    1. Wie nähert man sich diesen Intelligenzschichten (in genügender Zahl)an?
    2. Wie kann man sie motivieren, bei etwas derartig ungewohnten aktiv zu werden?

    Ich wird mal auf die beiden Seiten gehen die Du angegeben hast, Danke. MfG: M.B.

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  28. Hallo M.B.,

    um mit der 2. Frage zu beginnen:
    Die Motivation geschieht durch den Gesellschaftsprozess, d.h. durch den kontinuierlichen gesellschaftlichen Niedergang, welcher auch ihre Zukunft bedroht.
    Die Menschen entwickeln ein Unbehagen am Status quo und es kommen Fragen auf: Wie wird die Zukunft aussehen? Können wir auf den Gesellschaftsprozess Einfluss nehmen, wenn ja, wie ist dies möglich?

    Man muss sich in diesem Zusammenhang bewusst machen, dass die Idee einer proletarischen Revolution mit Ziel eines „Gleichmachersozialismus“ längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Niemand – mit Ausnahme von marxistisch-leninistischen Sektierern - will heute noch eine „Diktatur des Proletariats“ oder einen „Arbeiter- und Bauerstaat“.

    Eine postkapitalistische Gesellschaft wird hierarchisch differenziert sein, so wie auch es die sowjetkommunistischen Gesellschaften trotz anderslautender sozialistischer Propaganda und Ideologie waren und wie es die heutige chinesische Gesellschaft ist.

    Eine hocharbeitsteilige Gesellschaft erzwingt von der Sachlogik eine horizontale und vertikale Differenzierung des Arbeitsprozesses.

    So haben auch im post-maoistischen China die fachlich hochqualifizierten Intelligenz- und Funktionsschichten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung einen privilegierten Status, verbunden mit dem sozialistischen Auftrag, ihre Arbeit in den Dienst der Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen zu stellen. Hingegen sind im Kapitalismus die großen Profiteure eine parasitäre Plutokratie sowie eine kleine Minderheit hochbezahlter Vermögensverwalter, Politmarionetten und Ideologen, welche primär in ihrem bornierten Eigeninteresse handeln und dabei skrupellos in Kauf nehmen, die Gesamtgesellschaft zugrunde zu richten.

    Nur haben es die Intelligenzschichten in den kapitalistischen Gesellschaften noch nicht kapiert, dass sie – und zwar die große Mehrheit - zusammen mit der gesamten arbeitenden Bevölkerung von einer Systemtransformation profitieren würden.

    MfG
    HAM

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  29. @HAM
    Genau, der letzte Abschnitt benennt das Problem.
    Die 'Intelligenzschichten' in der Kap. Gesellschaft habens noch nicht kapiert da sie vermeintlich überproportional vom System profitieren.
    Leider zeichnet sich auch in China schon eine Dynastiebildung beim Kapital, und schlimmer noch, bei den hohen Parteifunktionären ab.
    Erst wenn die Prekarisierung auch der 'Intelligenzia' größere Ausmaße annimmt, setzt vielleicht ein Umdenken ein. Wie viele Leute aus Deinem (weiteren) Umfeld sind tatsächlich bereit etwas zu tun, und wenn es nur das schreiben von kritischen Beiträgen auf Foren ist?
    Ansonsten stimme ich mit Dir überein.

    MfG: M.B.

    P.S: Was meint eigentlich Mrs. MOP zu diesem Thema?

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  30. @M.Brand
    Erst wenn die Prekarisierung auch der 'Intelligenzia' größere Ausmaße annimmt, setzt vielleicht ein Umdenken ein.

    Das Umdenken wird m.E. am ehesten bei den Privilegierten einsetzen, wenn sie sehen, dass ihre Zukunftssicherung (Job, Vermögenswerte, Renten, Pensionen, Lebensversicherungen etc.) durch eine Systemkrise bedroht ist.
    Von den pauperiserten und prekarisierten Intelligenzschichten erwarte ich da wenig. Die sozial Deklassierten haben genug damit zu tun, in ihrem Alltag materiell und psychisch über die Runden zu kommen. Die bilden eher ein faschistisches Potential, wie die Geschichte der NS-Bewegung zeigt.

    Es ist eine persistierende Fehlannahme, dass Armut und Verelendung revolutionäre Gegenkräfte hervorbringen. Die sog. Verelendungstheorie scheint gegen Empirie immun zu sein. Dazu gibt es einen guten Text:
    Das Elend und die Theorie
    Warum Armut noch keine Revolution macht

    http://phase-zwei.org/hefte/artikel/das-elend-und-die-theorie-248/

    MfG
    HAM

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  31. Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt zurückkommen.

    Oben fragte Troptard (4. August 2013 16:00): „Bekommen wir die Kurve?“
    Und meine Antwort (4. August 2013 17:08) war:

    “Ja, warum nicht? Im Gegensatz zu früher bin ich heute sehr zuversichtlich.“

    Troptard hat dann nicht mehr mitdiskutiert, womöglich hat er es vorgezogen, sich mit den Beeren in seinem Garten zu beschäftigen. :-D

    Die Frage ist, wer mit dem „Wir“ gemeint ist? Für mich ist es die Menschheit. Und da bin ich heute viel zuversichtlicher als in den 70-er Jahren, wo die Menschheit ständig am Rande der atomaren Selbstzerstörung bei x-fachen Overkill-Potential stand. Gorbatschow hat den „Kalten Krieg“, der jederzeit zu einem globalen Inferno werden konnte, beendet, indem er kapitulierte und den USA die Weltherrschaft überließ.

    Gorbatschow – und seinen Mitstreitern und Unterstützern in der Führung der KPdSU – ist es zu verdanken, dass damals die Menschheit „die Kurve bekommen hat“.

    Man kann Troptards Frage auch so verstehen, ob unsere Gesellschaft „die Kurve bekommt“? Da bin ich für die EU und für Deutschland sehr skeptisch. Für einzelne Länder, wie die Schweiz oder Norwegen, sehe ich gute Zukunftschancen. Sie verfügen über ein gutes Bildungswesen, erstklassige Universitäten und Forschungseinrichtungen und eine moderne, zukunftsträchtige Wirtschaftsstruktur. Das Wohlstandsniveau und die soziale Zufriedenheit sind hoch, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Investitionen in den Bildungs- und Infrastrukturbereich sind hoch.

    Dagegen erscheint Deutschland wie ein Steinbruch, der geplündert wird.

    Deutschland war einmal berühmt für seinen wissenschaftlich-technischen Fortschritt, seine Ingenieurskunst und die Produktqualität „Made in Germany“.

    Heute sind sie noch nicht einmal in der Lage, eine Magnetschwebebahn mit automatischen Anti-Kollisionsschutz zu bauen oder den Berliner Flughafen zeitgerecht fertigzustellen. Die Hamburger Elbphilharmonie scheint eine Ruine zu werden (http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/public-private-partnershit.html).

    Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass die Funktionseliten hier in der EU „die Kurve bekommen“. Ich denke eher, dass der Niedergang hier weitergeht und dass das heutigen PIIGS-Länder das Zukunftsmodell der EU sind.

    Auch Deutschland ist zu einem Billiglohnland mit zunehmender Pauperisierung und Prekarisierung gemacht worden, typischerweise von Rot-Grün.

    Die Frage ist, wie die Intelligenzschichten damit umgehen, wenn sie sehen, dass ihre Zukunftssicherung durch die Systementwicklung bedroht ist?

    Vermutlich werden die Intelligentesten vermehrt auswandern, wie sie es schon seit Jahren machen. Gegenwärtig gibt es in Deutschland keinen organisierten Kontext, der intelligente Lösungen in die Richtung Systemtransformation für die Zukunft entwickelt. Nicht die Linkspartei, nicht Attac, die Grünen schon gar nicht, nicht die Piraten, die SPD und Gewerkschaften sowie nicht und die Marktfanatiker von CDU/CSU und FDP schon gar nicht.

    Die progressive Intelligenz in Deutschland ist marginalisiert und hat keinen einzigen „ThinkTank“. Das „Institut Solidarische Moderne“, welches sich selbst zum „linken ThinkTank“ ernannte, hat in den 3 Jahren seiner Existenz nichts Relevantes hervorgebracht, was aufgrund des parteilichen Hintergrundes und der personellen Zusammensetzung keineswegs überrascht.

    Dass Deutschland und die EU in absehbarer Zeit die Umkehr zu einer gesellschaftlichen Aufwärtsentwicklung schaffen, glaube ich nicht. Selbst wenn das Empire demnächst kollabieren sollte. Aber die strukturellen Defizite insbesondere im Bildungswesen und im Bildungsstand der Bevölkerung lassen sich nicht so schnell kompensieren. Das braucht mehrere Generationen. Die Zukunft sieht daher für eine sehr lange Zeit finster aus.

    So long
    HAM

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  32. Hallo HAM,

    eine letzte Bemerkung noch zur Unfähigkeit der verarmten Schichten eine Revolution zu beginnen:
    Es ist das Denken -ich (wir) kann ja sowieso nichts ändern (Lethargie).
    Es fehlt jemand, der diese Schichten so ansprechen kann das sie verstehen in welcher Lage sie sind, wer sie dahin gebracht hat und das es möglich ist, sich aus dieser misslichen Situation zu befreien.

    Sehe ich mir an wie die 68er agiert haben so wird sehr schnell klar warum sie (auch) so erfolglos waren bei der Arbeiterschaft, sie hatten eine Sprache die NIEMAND verstand. Das gleiche Problem existiert auch heute. Frag mal jemand der z.B. etwas naturwissenschaftlich - technisches studiert hat (so wie ich) was bedeutet kryptogam, pauperisieren usw.
    Du wirst nur Unverständnis sehen. Auch die revolutionäre Sprache muss erst mal verständlich gemacht werden.
    Bis Zu nächsten Mal, alles Gute. MfG: M.B.

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