Montag, 30. April 2012

Schamlos


Sozialdemokraten schmücken sich ja gern mit der Farbe Rot. Obwohl sie es im wirklichen Leben nicht so haben mit der Farbe Rot. Im Gegenteil. Zum Beispiel wenn sie hanebüchenes wahlkämpferisches Wortgeklapper absondern, ohne dabei schamrot zu werden.

Zum Beispiel der griechische Sozialdemokrat Venizelos von der PASOK Partei. Ohne rot zu werden, warnte er heute seine Landsleute eindringlich davor, dem "marschierenden Stechschritt der extremen Rechten" den Zugang zum Parlament zu ebnen bei den Wahlen am kommenden Wochenende. Insbesondere warnte er vor einem Wahlerfolg der rechtsextremistischen Partei Golden Dawn (Goldene Morgendämmerung):
"Golden Dawn ist ein extremes Phänomen, ich glaube, sie sind ein Beispiel für Faschismus, und wir lehnen sie radikal ab. Sie sind eine Beleidigung gegenüber unserer Geschichte und dem Parlament," erklärte er gegenüber Reuters und legte nahe, Griechenland könne womöglich seine eigene Version von Deutschlands "Weimar"-Jahren erleben, die zu einem Aufstieg der Nazi-Partei und Adolf Hitler führte.
Da hat er natürlich recht. Einerseits. Denn nicht nur tritt Golden Dawn an unter einer Flagge mit einem dem Hakenkreuz nachempfundenen Symbol, vielmehr hat die Partei es maßgeblich abgesehen auf Immigranten, die sie, ohne groß zu fackeln, am liebsten (unter Umständen auch mit Fackeln) aus dem Land rauswerfen möchte. Weshalb der Sozialdemokrat Venizelos fortfuhr:
Wir werden nicht zulassen, dass Neo-Nazis mit Stechschritt und Hitlergruß ins Parlament marschieren.
Das ist natürlich ehrenhaft für einen Sozialdemokraten. Einerseits.

Andererseits hätte ihm eine sattes schamhaftes Erröten gut zu Gesicht gestanden: Die sozialdemokratische Partei PASOK ist nämlich dermaßen alarmiert vom Aufstieg der extremen Rechten, dass eben sie, die PASOK Partei, in den letzten Wochen Tausende illegaler Immigranten in Athens Innenstadt wie Vieh zusammengetrieben und über 30 Internierungslager zu deren Unterbringung errichtet hat. Parteigenosse Chrysochoidis bezeichnet diese Lager in unverhohlen rechtspropagandistischer Manier nicht als das, was sie sind, sondern als "Geschlossene Zentren für Gastfreundschaft". Und keinem dieser sauberen, säuberungsfanatischen Genossen treibt es die Schamröte ins Gesicht.

Redner Venizelos richtete dann - unter Beibehaltung seiner neutralen Gesichtsfarbe - noch einen dringenden Appell an die Europäische Union, sich des Problems der morgendämmernden extremen Rechten anzunehmen, indem er anmerkte, der jüngste Wahlerfolg der französischen rechtsextremen Front-National-Führerin Marine Le Pen (rund ein Fünftel aller Stimmen) sei bedenklich, weil er "ein Beweis für den Rechtsruck" in Europa sei.

Ja, das ist bedenklich, noch bedenklicher ist allerdings, dass Sozialdemokraten das Erröten verlernt haben, wenn sie selbst sich ungeniert in die rechtsextreme Kurve legen, um den noch Rechtsextremeren Wählerstimmen abzujagen.

Scheint überhaupt ein neuer europäischer Politikersport zu sein, dieses Fischen in trüben rechtsextremen Gewässern. Bei open euro blog gibt es heute ein heiteres Ratespiel "Wer hat was gesagt?"
Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Disziplin für Grenzkontrollen. ... Wir wollen kein Europa mehr, das durchlässig ist wie ein Sieb. Ein Europa, das den Immigrantenfluss nicht kontrolliert, ist am Ende. ... Ohne Grenzen gibt es keine Nation, keinen Staat, keine Republik, keine Zivilisation.
Na, wer war's? Der holländische Rechtsaußen Wilders? Ein Hardliner von der italienischen Liga Nord? Die markige Le Pen vom französischen Front National? Alles falsch. Die verzweifelt wahlkämpfenden Kopisten sind mittlerweile mit rechten Parolen fast besser aufgestellt als die Originale. Rätsels Lösung: Es war der Franzose Nicolas Sarkozy, dem derzeit die Felle davonschwimmen. Zwar kein Sozialdemokrat. Aber rot werden tut er trotzdem nicht.

"Stichwahl"
(zum Vergrößern auf Link klicken)

Gastfeindschaft


Was ist Gastfreundschaft?

Eine Kultur zwischenmenschlicher Zivilisiertheit und Kontaktfreude. In ihr kommt zum Ausdruck der Wunsch nach einem großzügigen, freigiebigen sozialen Miteinander, das die Beteiligten unentgeltlich bereichert. Sei mein Gast - vielleicht werden wir irgendwann Freunde. Gastfreundschaft: Mein Haus ist offen für dich. Du kannst kommen und gehen, wie du möchtest.

Gastfreundschaft ist mehr als nur ein Wort. Es ist aber auch ein Wort. Als Wort eignet es sich, wie alle Worte, für Propagandazwecke; auch solche der niedersten Art. Wenn das 'offene Haus' als Synonym für Gastfreundschaft gilt, was ist dann unter "geschlossener Gastfreundschaft" zu verstehen? Etwa: Du darfst kommen, aber nicht mehr gehen? Oder: Du kommst als Gast und bleibst als Feind? Oder: Sei mein Gast, lass dich einsperren?

Bild: Katerina Komita

In Griechenland wurden auf die Schnelle 30 Internierungslager zur "Unterbringung" illegaler Immigranten eingerichtet, auf Initiative des griechischen Ministers für sogenannten Zivilschutz. Natürlich nennt der Zivilschutzminister seine Internierungslager nicht Internierungslager.

Internierung? Ach wo. "Gastfreundschaft"! Lager? Nicht doch. "Zentren"! Das klingt hilfreich, edel und gut. Vielleicht ein wenig zu hilfreich, edel und gut? Weil, es soll ja keiner die neuen "Zentren für Gastfreundschaft" mit einem offenen Haus verwechseln. Na gut. Der Minister für Zivilschutz ist um kreative Wortfindungs- beziehungsweise Wortverdrehunglösungen nicht verlegen und nennt seine Internierungslager darum:
"Geschlossene Zentren für Gastfreundschaft"
("Closed Hospitality Centers")
Natürlich sollte hospitality (Gastfreundschaft) in diesem Kontext keinesfalls verwechselt werden mit hostility (Feindseligkeit), auch wenn beides ähnlich klingt. Natürlich ist "zivil" im Kontext von "Zivilschutz" keinesfalls zu verwechseln mit 'zivilisiert', auch wenn beides ähnlich klingt. Schließlich will der Minister für Zivilschutz ja nicht den zivilisierten Umgang mit Immigranten, Flüchtlingen, Asylanten (also: Menschen) schützen, sondern dem unzivilisierten Umgang mit diesen Menschen Tür und Tor öffnen; weshalb es unter propagandistischem Aspekt als nahezu genial gelten darf, dass er seine gastfreundlichen Zentren als "geschlossen" bezeichnet. So geschlossen wie Lager nun mal sind.

Natürlich würde der Minister für Zivilschutz sich entschieden dagegen verwahren, unterstellte man ihm, bei seinen Zentren der Gastfreundschaft handele es sich um Sammelstationen für Menschenmüll. Weil, so etwas sagt man nicht, selbst wenn man es so meint.

Was der Minister für Zivilschutz allerdings meint, wenn er sagt: "Athens Innenstadt säubern" ("clean up the center"), ist unschwer zu erraten. Vollends unzweideutig und politrhetorisch kaum zu toppen ist seine zweideutige Formulierung "sweeping operations": Sweeping ist ein semantisch biegsamer Begriff - sweeping bedeutet einerseits "drastisch, weitreichend, einschneidend"; andererseits heißt sweeping nichts Eindeutigeres als "kehren". Und zwar, laut Wörterbuch, "in hohem Bogen", gern auch "im Rundumschlag".
Niedriger, fürchte ich, geht es nicht; eine Gesellschaft in tiefer Krise betrachtet ihre Mitmenschen als "Müll", und anstatt, wenn ihr "Closed Hospitality Centers" zu Ohren kommen, damit Konzentrationslager zu assoziieren, betrachtet sie diese Zentren als die Lösung. "Endlösung"?
Gestern gab der Minister für Menschenmüll die "Einweihung" des ersten "Geschlossenen Zentrums für Gastfreundschaft" bekannt; 56 Immigranten ohne Papiere wurden in das Internierungslager Amygdaleza* im Nordwesten Athens deportiert. Pardon, eingeladen.


Die Amygdala ist ein Kerngebiet des Gehirns. Sie ist wesentlich an der Entstehung der Angst beteiligt und spielt allgemein eine wichtige Rolle bei der emotionalen Bewertung und Wiedererkennung von Situationen sowie der Analyse möglicher Gefahren.

Ach du lieber Kapitalismus




Weiß er ja auch ganz genau, der liebe Kapitalismus.
Er stellt sich nur dumm und tut so,
als ob er das nicht wüsste.

Nur gut, dass immer weniger Leute ihm das abnehmen.

Weil, weißt du, lieber Kapitalismus,
aus Schaden wird man nämlich klug.
Also, du ja bekanntlich nicht.
Aber wir schon.

Samstag, 28. April 2012

Seuchenbekämpfung


Was für ein herrlicher Frühlingstag. Der Himmel nur blau und sonst gar nichts, Vögel trällern seit dem frühen Morgen, das Thermometer hat bereits vor drei Stunden die 20-Grad-Marke gerissen und mich hat's eben kreuzelend vom Hocker gerissen. Weil mir schlecht wurde, so schlecht.

Wie neulich schon kurz erwähnt:
Seit heute (Mittwoch) früh finden in Athen umfangreiche Polizeieinsätze statt. Polizeibusse mit Hunderten von Polizisten beginnen, komplette Gebäudeblocks zu blockieren und in Häuser einzudringen. Sie halten jeden fest und durchsuchen jeden, der wie ein Ausländer aussieht. Die Menschen ohne Papiere, die verhaftet wurden, werden in die neu errichteten Internierungslager abtransportiert.
Zu diesem Vorgang äußerte der griechische Minister für Zivilschutz, Michalis Chrysochoidis:
Athen wird innerhalb weniger Tage gesäubert (bzw. geräumt, im O-Ton: "will be cleared") sein. Wir müssen den öffentlichen Raum zurückerobern.
Das war am Mittwoch. Da fühlte ich mich schon leicht unpässlich. Heute ist im Detail zu lesen, welche akute Gefahr droht, wenn der öffentliche Raum nicht schleunigst zurückerobert wird:
Auch heute (27. April 2012) wurden die behördlichen Kontrollen in mit Ausländern überbelegten Athener Wohnungen mit der Begründung fortgesetzt, dass diese Seuchenherde darstellen.
Seuchenherde. Ausländer. Überbelegt. Die Assoziationsmaschinerie rattert. Flaues Gefühl im Magen.

Die festgenommenen Menschen
... wurden von den Ärzten des KELPNO ('Nationaler Träger für Ansteckungskrankheiten', war bei der Räumungsaktion anwesend) untersucht um festzustellen, ob sie an Infektions-, übertragbaren oder sonstigen Ansteckungskrankheiten leiden.
Ansteckung. Krank. Ansteckungsgefahr. Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Wieso fühle ich mich im Magen-Darm-Trakt auf einmal so ungesund?
Wie von der Polizei bekannt gegeben wurde, werden Wohnungskontrollen in verschiedenen Gebieten Athens durch gemischte Einsatzgruppen auf alltäglicher Basis erfolgen,
Gemischte Einsatzgruppen. In verschiedenen Gebieten. Auf alltäglicher Basis. Damit ihr euch schon mal dran gewöhnt, Leute. Ist doch was ganz Normales. Mir dreht sich der Magen herum.
... während an die Bürger, welche die überzählige Unterbringung von Immigranten in Wohnungen feststellen, appelliert wird, sich telefonisch oder per SMS an die Rufnummer 100 an die Einsatzzentrale der Polizei zu wenden.
Immigranten untersuchen, räumen, verhaften. An Bürger appellieren.
Liebe Bürger, Ausländer sind keine Bürger. Falls ihr das noch nicht gemerkt habt, sagen wir euch das jetzt mit allem Nachdruck.
Bürger, wehrt euch gegen Ausländer.
Bürger, unterstützt die Polizei.
Bürger, meldet alle verdächtigen Elemente der Polizei.
Bürger, helft der Polizei, den öffentlichen Raum zurückzuerobern.
Bürger, holt euch keine ansteckenden Krankheiten bei den Ausländern.
Bürger, lasst euch anstecken von unserer Kampagne im Dienste der Volksgesundheit.

Und, Bürger, vergesst nicht: Es herrscht Wahlkampf.
Mit allen Mitteln. Auch den dreckigsten.
Macht mit beim Säubern unserer Stadt.
Wir versprechen, euch nach der Wahl fürstlich zu belohnen. Mit noch mehr Reformen. Noch mehr Einschnitten. Noch mehr Verarmung. Noch mehr Hunger. Noch mehr Elend.
Aber dafür mit weniger Ausländern.

Mann, ist mir kotzübel.


Freitag, 27. April 2012

Noch Fragen?


On the Turntables:
Der Fiskalpakt ist verhandelt, er wurde von 25 Regierungschefs unterzeichnet und ist bereits von Portugal und Griechenland ratifiziert. Er ist nicht neu verhandelbar.
Ende Mai werde in Irland per Referendum darüber entschieden.
Klingt nach Basta.
Klingt nach alternativlos.
Klingt nach 'Kein Widerspruch!'
Klingt so, als ob bereits feststehe, dass das irische Referendum einen von Merkel gewünschten Ausgang nehmen wird, und sollte es das nicht tun: 'mir doch wurscht'.
Klingt danach, dass der französische Präsidentschaftsanwärter Hollande überhaupt nichts zu melden hat, obwohl er angekündigt hat, den Fiskalpakt "neu verhandeln" zu wollen.
Klingt so, als ob es Merkel völlig sonstwo vorbeigeht, wen oder was die Griechen Anfang Mai wählen werden.

Klingt so, als ob DJ Merkel in absolutistischer Manier allein die Scheiben auflegt.
Klingt so, als wäre die Erde eine Scheibe, wenn es nach Merkel geht. Oder ein Wurstbrot. Oder eine One-Woman-Show.
Klingt nach Tyrannei.
Klingt nicht alternativlos.
Klingt vielmehr so, als ob sämtliche Alternativen im Keim erstickt werden sollen.
Klingt verzweifelt.

Kein Beileid.

Update:


Elchtest


Heute mal ein kleiner Exkurs ins Tierreich. Genauer: ins Reich der wilden Tiere. Dort, wo die wilden Wölfe wohnen. Wo wohnen die wilden Wölfe? In New York City.

Wilde Wölfe in New York City? Wer denkt da nicht gleich an die verfressenen wilden Wölfe der Wall Street? Ha. Falsch gedacht. Demnächst wird nämlich die vom Aussterben bedrohte New Yorker Wall Street von einem Rudel bösartiger kapitalismuskritischer wilder Wölfe heimgesucht werden. Vor dieser exterrestrischen Raubtierinvasion müssen die bedrohten Arten in Manhattans Bankenviertel dringend geschützt werden.

Zunächst zum Hintergrund:
Um ihre geplanten Sicherheitsmaßnahmen für die am 1. Mai zu erwartenden Demonstrationen zu erläutern, greifen die von Banken engagierten Sicherheitsfirmen zu Metaphern aus dem Reich der Jagd. Großbanken in New York und anderen Städten kooperieren, indem sie Überwachungsdaten und -informationen untereinander austauschen, die von Sicherheitsbeamten gesammelt werden.
Metaphern aus dem Reich der Jagd? Yep, man scheut sich in Security-Kreisen der Finanzelite nicht vor tierischen Analogien, wenn es ums Verteidigen des eigenen Revieres geht:
Banken, die überwachungstechnisch kooperieren, sind wie Elche, die Wölfe abwehren. Während andere Tiere vergeblich versuchen, alleine zu flüchten, überleben Elche solche Attacken, indem sie sich zu einem Ring zusammenschließen.
Ah! Banker vernetzen und verkleiden sich als Elche! Man hat ja schon von vielem gehört, auch von Wölfen im Schafspelz und Wölfen, die sich als Großmütter verkleiden - aber Banker im Gewand von Elchen? Welchen Elchen? Solchen Elchen:
Die Banken bereiten sich vor auf Occupy-Demonstrationen beim Nato-Gipfeltreffen am 20. und 21. Mai in Chicago, indem sie Informationen von Video-Überwachungsmaterial, Robotern und Gebäude-Sicherheitsbeamten austauschen; Informationen, die ihnen einen Überblick "in Echtzeit und ein 360-Grad-Feedback" liefern, sagte McNary, der an dem Projekt beteiligt ist.
Herrschaftszeiten. Bisher war ich - bei nur laienhaften zoologischen Kenntnissen - fest davon überzeugt, dass Elche keine Video-Überwachungskameras zur Abwehr von Wölfen benutzen, aber so kann man sich täuschen. Sind schon raffinierte Luder, diese Elche. Zumindest, wenn sie von Bankern als tierischer Totem benutzt werden.

Der oben zitierte Brian McNary ist übrigens "director of global risk" bei Pinkerton Consulting & Investigations, einer Tochtergesellschaft der schwedischen Securitas AB (SECUB). Er arbeitet im Auftrag von internationalen Finanzunternehmen, um protestierende Demonstranten quer über alle social-media-Kanäle "methodisch zu identifizieren, zu kartografieren und ihre Fährten zu verfolgen". Fährten verfolgen! Den wilden Wölfen auf der Spur! Zum Schutz der globalen Elch-Elite vor dem globalen Wolfs-Risiko!

Derweil wird aus gut unterrichteten Kreisen hoher Tiere kolportiert, dass Grimms Märchenschatz in Kürze überarbeitet und - in Anbetracht des herrschenden Bedrohungsszenarios in den globalen Finanzzentren - aktualisiert werden wird.
Arbeitstitel: Der Wolf und die sieben Elchlein.

Mittwoch, 25. April 2012

Demokratie im Risikomanagement


Ach, die Finanzmärkte. Was täten wir bloß ohne die Finanzmärkte? Das Leben wäre stinklangweilig. Es wäre ein langer, ruhiger Fluss, unterbrochen nur von hier und dort mal zur Wahl gehen, so alle vier Jahre im Schnitt. Das würden wir dann Demokratie nennen. Zum Gähnen langweilig!

Gut, dass wir die Finanzmärkte haben. Die bringen ein wenig Kitzel in das reizarme demokratische Einerlei: ein wenig Nervosität hier, ein bisschen Panik da, eine angemessene Dosis Beunruhigung - und schon fängt die Demokratie an zu schlottern. Schließlich hat man ihr jahrelang eingebleut, gefälligst marktkonform zu funktionieren, und irgendwie hat sie das ja auch so leidlich hingekriegt, im Großen und Ganzen; und sobald das Ding mit der Marktkonformität nicht so recht auf Wunsch klappen wollte, haben die Finanzmärkte interveniert, den Politikern ihre Beunruhigung signalisiert, die Politiker haben dem Wahlvolk die Beunruhigung der Finanzmärkte signalisiert und alles war wieder in marktkonformer Butter. Diese routinemäßig durchgezogene Show wird Ihnen präsentiert vom inoffiziellen Ministerium für Propaganda, Angst- und Panikmache.

... an den Finanzmärkten hat man eine neue Gefahr ausgemacht: die Demokratie. "Die Wahlen in Frankreich und Griechenland wie auch die Volksbefragung in Irland", so Elge Bartsch von der US-Investmentbank Morgan Stanley, "lösen Sorgen bei den Investoren, Unternehmen und Konsumenten aus."
Irre, oder? Jetzt werden bereits "die Konsumenten" in Stellung gebracht gegen "die Wähler" und "das befragte Volk". Und ich Schnarchnase dachte die ganze Zeit, das wählende oder befragte Volk bestünde - unter anderem - aus Konsumenten, auch wenn diesen Konsumenten das Geld und damit die Lust am Konsumieren immer mehr abhanden kommt, weshalb die Konsumenten ja so wählen, wie sie wählen, und so antworten, wie sie antworten, wenn sie denn befragt werden. Aber egal. Hauptsache, ordentlich Angst schüren. Wird schon was hängenbleiben in den verbohrten Wählerhirnen, wenn sie statt in die Einkaufsmeile an die Wahlurne schreiten.

Zurück zu den übersensiblen, nervösen Finanzmärkten. Statt ihnen den wohlverdienten langen, ruhigen Fluss ihrer Spekulationsgeschäfte zu gönnen, kommt ihnen dauernd diese lästige Demokratie in die Quere:
Das Volk wird zum Störfaktor

In regelmäßigen Abständen, so verlangen es die demokratischen Spielregeln, können die Krisenopfer in Wahlen über die (von den Finanzmärkten geforderten und von den Politikern verhängten Austeritäts-, vulgo: Verarmungs-)Maßnahmen abstimmen - und sie ablehnen. Diese Möglichkeit schafft Unsicherheit an den Finanzmärkten.
Sage keiner, dagegen sei kein Kraut gewachsen.
Daher hat die Politik in den vergangenen Monaten viel unternommen, um den Wählerwillen zu neutralisieren.
(Wer dafür - aus dem prallen undemokratischen Leben gegriffene - Beispiele sucht, findet sie hier.)
Aktuelles Beispiel Griechenland:
Anfang Mai wählen die Griechen ein neues Parlament. Um das Sparprogramm gegen den Wählerwillen zu immunisieren, mussten die voraussichtlichen Sieger - die Parteien Pasok und Nea Demokratie - sich bereits vorab verpflichten, den Reformkurs fortzusetzen.
Diese prophylaktische Zwangsverpflichtung dürfte die wählenden Krisenopfer einigermaßen beunruhigen, dient aber einem übergeordneten, die Mittel heiligenden Zweck, nämlich der demokratieresistenten Beruhigung der Finanzmärkte:
"Finanzmärkte wollen eine einige und starke Führung", erklärt Großinvestor George Soros.
So sieht's aus. Und damit nach Frankreich, wo der (noch nicht immunisierte) Wählerwillen für massiven Blutandrang in Investorenhirnen sorgt.

Seit am vergangenen Wochenende der Sozialist (deutsch: Sozialdemokrat) Francois Hollande das vorläufige Rennen um die Präsidentschaft gemacht hat, drehen die Finanzmärkte kollektiv am Rad und zeigen sich, gemeinsam mit den Medien, händeringend und höchst - na? - beunruhigt. Die europäischen Märkte rauschten bedrohlich in den Keller. Angst um Frankreich. Angst um den Euro. Angst um die Renditen. Angst vor Demokratie.

So richtig verstehe ich die ganze Aufregung um diesen Hollande allerdings nicht. Mal abgesehen davon, dass er nicht der erste Sozialdemokrat in Führungsposition wäre, der sich, geschmeidig wie ein Hosenverkäufer, dem nervösen Gefühlsleben der Finanzmärkte andient - wo ist das Problem? Sollte Hollande als Präsident, wider Erwarten, nicht in die Spur finden, Pfötchen geben und den Ball rapportieren, ja, mein Gott!, dann macht den Job halt ein anderer. Es wird sich schon einer finden. Technokraten gibt's schließlich überall. Speziell solche, die man ungewählt ins Amt setzen kann, falls der gewählte Volksvertreter nicht in die marktberuhigenden Puschen kommt.

Wäre ja nicht das erste Mal. Hat ja in Europa, seit der Absetzung von Papandreou und Berlusconi, schon bald eine so lange Tradition wie dieses Dorn-im-Auge-Dingens - wie hieß es nochmal? - richtig: Demokratie.

Dienstag, 24. April 2012

Schiff Ahoi



"You know, things are really not that bad in the eurozone,"
wusste Christine Lagarde
(vorne auf der Kommandobrücke)
gestern in Amerika zu berichten.

Zwar gebe es aktuell ein paar ungemütliche Turbulenzen; diese würden jedoch das Raumschiff nicht von seinem gewohnt sicheren, auf Stabilität abzielenden Kurs abbringen. Nach wie vor gelte es, mit ruhiger Hand das Steuer zu führen, stets eingedenk der richtungsweisenden Worte des Steuermannes Jean-Claude Juncker: "When it gets really serious, you have to lie. (Wenn es wirklich ernst wird, musst du lügen.)"

Zwar habe bei den französischen Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen von der rechten Fronte Nationale allen die Show gestohlen mit nationalistischen Anti-EU-Parolen; zwar sei infolgedessen der präsidiale Loser Sarkozy noch weiter als bereits zuvor nach rechts geschwenkt, indem er forderte, "Migrantenströme zu regulieren" und "Grenzen zu verteidigen".

Zwar sei soeben die niederländische Regierung kollabiert infolge der Weigerung des rechtsextremen Anti-Einwanderungs-Politikers Geert Wilders, sich dem Diktat des europäischen Fiskalpaktes zu beugen - ungeachtet des jüngsten heftigen Griechen- und Portugiesen-Bashings ("unfähig zur Haushaltsdisziplin") seitens holländischer Politiker.

Zwar gebe es beträchtliche politische Turbulenzen in den mitteleuropäischen EU-Ländern Österreich, der Slowakei, Kroatien und Tschechien - Turbulenzen, von denen man zwar kaum etwas höre, die aber nichtsdestotrotz am Toben seien, einschließlich sich dort anbahnender Regierungs-Kollapse.

Zwar rumore es zunehmend an der Basis in Ländern wie Griechenland und Italien, wo das Wahlvolk die Schnauze voll habe von ungewählten, von Troikas Gnaden ins Amt gehobenen Regierungen.

Zwar laufe in Spanien momentan so gut wie alles aus dem Ruder.

Zwar könne der Eindruck entstehen, in ganz Europa laufe momentan so gut wie alles aus dem Ruder.

Aber sonst?
Aber sonst ist heute wieder alles klar
auf der Andrea Doria.
Don't panic, hieß es kommentierend seitens des IMF, Turbulenzen erforderten nun mal eine ruhige Hand und einen klaren Kurs, weshalb es dringend geboten sei, unbeirrbare Konstanz und Kontinuität zu demonstrieren, wenn schon alles andere ins Schlingern gerate und demnächst im EU-desintegrierten Chaos versinken werde. Darum werde der IMF sich auch weiterhin nicht aus dem Konzept bringen lassen, vielmehr immer mehr europäische Länder zu immer mehr Austerität, immer mehr Lohnkürzungen, immer mehr Arbeitslosigkeit und immer mehr Verarmung nötigen.

Volle Kraft voraus auf dem Krisentanker Europa.

Sonntag, 22. April 2012

When You Go Away


Levon Helm, Sänger und Schlagzeuger von The Band, starb am 19. April 2012 in New York an Kehlkopfkrebs.

In dem Film The Last Waltz (1978) von Martin Scorsese singt Levon Helm The Night They Drove Old Dixie Down:


Welche Inbrunst. Welche Hingabe.

Im Jahr 2009 erschien Levon Helms zweites und letztes Solo-Album Electric Dirt mit dem Song When I Go Away. Seine Stimme ist gezeichnet von zahlreichen Strahlenbehandlungen, aber es ist seine Stimme wie eh und je, rauh, roh und schroff, manchmal fast gereizt, manchmal bricht sie fast weg:


Was für eine Stimme.

Ich habe von Levon Helms Tod erst heute früh erfahren und hatte zunächst den dummen Gedanken, dass es für einen Nachruf zu spät sei. Danach ging ich arbeiten und trug seine Stimme den ganzen Tag in mir herum. Diese eindringliche Stimme hat mich nicht nur begleitet, sondern in ihrer Intensität beherrscht.

Eben habe ich den Song When I Go Away noch einmal angehört, und dann noch einmal und noch einmal,
Early in the morning
When the church bells toll
The choir's gonna sing
And the hearse will roll
On down the graveyard
Where it's cold and gray
And then the sun's gonna shine
Through the shadows
When I go away.
- und fand es überhaupt nicht mehr dumm, einen verspäteten kleinen Nachruf zu schreiben.

Farewell, Levon.
Let your light shine through the shadows.

Samstag, 21. April 2012

Bücher auf Rädern mit Eselsohren


Buch macht kluch.

Auch solche Menschen, die weder eine Buchhandlung vor der Haustür noch Geld in der Tasche haben.

Zum Beispiel in Argentinien:

"Weapon of Mass Instruction"

Dort kommt ein zweckentfremdeter Panzer vor die Haustür oder einfach auf die Straße und bringt den Leuten etwas zum Lesen. Gratis, selbstverständlich. Der Künstler Raul Lemesoff hat einen ausgedienten Panzer zu einem sinnvollen Einsatzfahrzeug umgebaut, nämlich zu einer ambulanten Bibliothek.


Zum Beispiel in Venezuela und Kolumbien:


Dort ist in ländlichen Gegenden und schwer zugänglichen Andenbergdörfern der Bücher-Esel unterwegs und bringt den Leuten etwas zum Lesen. Gratis, selbstverständlich. Angestoßen wurde die vierbeinige Bildungsoffensive von der kleinen venezolanischen Universidad de Mombay (Blog "Proyecto Bibliomulas").

Bücher-Esel 'Alpha'

In Kolumbien hatte der Lehrer Luis Soriano bereits vor zehn Jahren die Idee, mit einem Bücher-Esel durchs Land zu ziehen (Blog: "El Biblioburro").


Für ein paar Momente aus der Selbstverständlichkeit mitteleuropäischer (Bücher-)Warenwelten herauszutreten und die glückseligen Reaktionen von Kindern und Erwachsenen auf das Geschenk Buch zu erleben, hat etwas Berührendes.

Freitag, 20. April 2012

Souverän



Frau Lagarde ist jene Person, die derzeit mit dem Klingelbeutel unterwegs ist. Nicht im Auftrag des Herrn, vielmehr im Auftrag des IMF.

Der IMF ist jener Verein, der Ländern wie Griechenland oder Irland (vielmehr deren Bürgern) gern drastische Armutsprogramme aufs Auge drückt, selbst aber dringend mehr Geld braucht, weshalb, im Umkehrschluss, besagte Armutsprogramme einem guten Zweck dienen. Aus Sicht des IMF jedenfalls.

Dass der IMF jetzt dringend noch mehr Geld braucht und deshalb betteln gehen muss, leuchtet jedem ein, dem das Treiben des IMF einleuchtet, weil, der IMF braucht nämlich dringend noch mehr Geld, um mit dem Geld, das dringend gebraucht wird, noch mehr Geld zu versenken als bereits versenkt wurde. Das Ganze nennt sich Beggars Banquet oder, etwas geschmeidiger, EU Bailout Funds.

Allerdings scheint die Spendensammelaktion eher schleppend zu verlaufen. Bislang weigern sich die meisten Länder, auch nur einen Pfennig oder ähnliches Kleingeld rauszurücken, weil sie angeblich keines haben, wobei jene Länder, die bereit sind, Kohle an den IMF abzudrücken, eigentlich auch kein Geld haben, jedoch die altbekannte Frage "Woher nehmen, wenn nicht stehlen?" mit der altbekannten Antwort parieren: Na, vom Steuerzahler, woher denn sonst? Blöd ist halt nur, dass der Steuerzahler gleichzeitig auch Wähler ist, was die knausrige Zurückhaltung der spendenunwilligen Länder ein Stückweit erklärt.

Was soll's, dachte sich die nimmermüde Frau Lagarde, irgendwie muss diese dümpelnde Spenden-Acquise doch auf Trab zu bringen sein - schließlich braucht der IMF, sprich: die Banken, dringend Geld, sprich: Rekapitalisierung - und legte bei den Meetings der G-20, des IMF und der Weltbank einen Zahn zu:
"Was die Rekapitalisierung betrifft, könnten der ESM und der ESFS eigentlich überall in der Eurozone hilfreich einspringen - allerdings muss das immer auf dem Umweg über die jeweilige Staatssouveränität geschehen ('it has to be channeled through the sovereigns')."
- wie gesagt, blöd halt, dieser Umweg über die Staatssouveränität, auf jeden Fall lästig und zeitverschwendend. Darum will der IMF nichts anbrennen lassen und sinnt auf zügige Abhilfe:
"Darum setzen wir uns dafür ein, dass dies (die Rekapitalisierung der Banken) ohne den Umweg über die Staatssouveränität erfolgen kann."
- also, der Einfachheit halber den notleidenden Banken die wohltuende Finanzspritze direkt zu injizieren, ohne dieses ganze hemmende nationalstaatlich-bürokratisch-pseudodemokratische Gedöns. Selbstverständlich, ergänzte Frau Lagarde souverän, nicht ohne ein angemessenes übergeordnetes Kontrollinstrument:
"Es (die Rekapitalisierung der Banken) könnte und sollte (stattdessen) begleitet werden durch eine eher global ausgerichtete europäische Supervision."
Ja, warum eigentlich nicht? Könnte doch vieles vereinfachen, oder? Ob es das auch sollte, steht auf einem anderen Blatt, und in einem anderen Blatt lese ich zum gleichen Thema unter der Überschrift
"IMF's Lagarde: Lasst die EU Bailout Funds den Banken zukommen ohne den Boxenstop beim Staat"
den folgenden folgenschweren Satz:
"Eine größere Sorge tut sich auf, falls die Banken beschließen sollten, den Staaten ('sovereigns') kein Geld mehr zur Verfügung zu stellen; dies könnte passieren, wenn die Banken zu dem Schluss kommen, die notwendigen Austerity-Maßnahmen und Haushaltskürzungen drosselten das wirtschaftliche Wachstum, welches für den Kreditsektor der entscheidende Maßstab ist."
- und denke, Moment mal: Die Banken beschließen, den Staaten kein Geld mehr zur Verfügung zu stellen? Hallo? Das hieße doch im Klartext, der Staat hat seine Funktion als Souverän mal eben ganz souverän an die Banken abgetreten? Ja, darf der das denn? Ohne seinen Souverän (Volk und so) vorher zu fragen? Klar darf der das.

Lange nichts mehr gehört von Irland. Was ja immer ein sicheres Anzeichen ist dafür, dass sich irgendwas zusammenbraut. Im Falle Irlands ist das zum einen die gefürchtete, dummerweise in der Verfassung verankerte Volksabstimmung ("Fiscal Compact Referendum") am 31. Mai, wovor es der EU-Kommission und dem IMF gleichermaßen graut, weil sich da eventuell irgendwas zusammenbraut. Immerhin, der Souverän wird befragt; steht ja nun mal so in der Verfassung, dummerweise.

Zum andern hat sich in Irland auf Initiative der Regierung - Volksabstimmung hin, Volksabstimmung her - ein dubioses Gremium zusammengebraut namens "Constitutional Convention" (Versammlung zur Verfassungsänderung), die, wie der Name schon sagt, sich zum Ziel gesetzt hat, "die Verfassung (von 1937) einer Prüfung zu unterziehen und eine reformierte Verfassung zu entwerfen". Es durfte darüber spekuliert werden, wer in wessen Interesse welche Elemente der Verfassung reformieren, vulgo: über die Klinge springen lassen möchte.

Seit gestern nimmt das Vorhaben der irischen Regierung zur geplanten Verfassungsänderung endlich Gestalt an: Dem renitenten Ice Moon Blog ist es nämlich gelungen, sich Einblick in ein bislang geheimes Regierungs-Memo zu verschaffen, aus dem hervorgeht, nach welchem Modus die irische Verfassung zweckmäßigerweise abzuändern sei, sobald das leidige Fiscal Compact Referendum über die Bühne gegangen sein wird.

Im folgenden seien von den Artikeln der neuen irischen Verfassung bzw. den neuen Artikeln der irischen Verfassung die relevantesten zitiert:

Artikel 5
Irland ist ein Territorium des International Monetary Fund (IMF) mit vielen netten Pubs.

Artikel 6
Alle Rechte der Regierung, der Legislative, der Exekutive und der Justiz leiten sich - unter der Herrschaft des IMF - aus der EU ab, deren Recht es ist, das Führungspersonal des Staates zu bestimmen und, in letzter Berufung, über sämtliche Fragen der nationalen Politik zu entscheiden, entsprechend den Erfordernissen der herrschenden Klasse, die sich gegenwärtig aus multinationalen Konzernen konstituiert.

Artikel 10
Alle nationalen Ressourcen, einschließlich der Luft sowie sämtlicher potentieller Energieressourcen, die von dieser Verfassung als innerhalb des Geltungsbereiches von Parlament und Regierung liegend etabliert wurden, sind Eigentum des Höchstbietenden.

Artikel 11
Alle Einkünfte des Staates, egal aus welcher Quelle, fließen ausnahmslos in einen Fonds und werden bereitsgestellt, um Bondholdern in irischen Banken jenen Komfort zu gewährleisten, an den sie sich mittlerweile gewöhnt haben.

Artikel 28
Die Regierung soll für nichts verantwortlich zu machen sein. Die Vorgängerregierung wird für alles verantwortlich zu machen sein.

Artikel 29
Irland versichert seine Ergebenheit zu Unternehmensidealen, zu Kapitalismus, Profit, Kooperation mit den USA, und leugnet jegliche Solidarität mit anderen Nationen, insbesondere mit Griechenland.

Artikel 34
Die Rechtssprechung wird von Gerichten gehandhabt, die rechtskräftig von jenen Richtern etabliert werden, die dazu berufen wurden im Sinne dieser Verfassung, und zwar gehandhabt mit extremer Strenge gegenüber den Armen, den Regimekritikern und den Schwachen, jedoch nicht gegenüber den Reichen und Mächtigen und keinesfalls gegenüber korrupten Politikern oder Bankern, die das Land in den Konkurs getrieben haben respektive Leuten, die letztere geschützt haben.

Artikel 50
Gesetze, die von nationalen Parlament erlassen werden, müssen zuerst mit der Bundesbank abgestimmt werden.
Es heißt, das - streng vertrauliche - Dokument sei unverzüglich an Frau Lagarde weitergereicht worden zur gefälligen Überprüfung (schließlich will die irische Regierung weiterhin mit dem IMF auf gutem Fuß stehen). Lagarde - bekannt dafür, nach Herzenslust und Schulmeistermanier willfährige EU-Länder zu loben und aufsässige Mitgliedstaaten zu tadeln - soll sich hocherfreut gezeigt haben: "Seht ihr", wird sie demnächst den Ländern der EU-Peripherie wohlwollend zurufen, "es geht doch, mit ein bisschen gutem Willen, Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Anpassung. Nehmt euch ein Beispiel!"

Erwartungsgemäß wird das Volk lautstark murren. Egal. Was zählt, sind Regierungen, die in lautstarkem "Tschakka!"-Taumel delirieren. Und sich hinterher nicht mehr auf die Straße trauen.

Mittwoch, 18. April 2012

Kehraus



Im griechischen Attiki (nördlich von Athen) wird das erste Internierungslager für Immigranten ohne Papiere errichtet werden. Die Errichtung von 30 weiteren Lagern für 30.000 Immigranten wurde bereits angekündigt. Zur Finanzierung der Internierungslager wird die EU 250 Millionen Euro beisteuern.

Um die Idee von der flächendeckenden Internierung von Immigranten zu realisieren, arbeitet der (tatsächlich so genannte) "Minister für Bürgerschutz" Michalis Chrysohoidis eng zusammen mit dem (so genannten) Verteidigungsministerium. Das Verteidigungsministerium zeigte sich kooperationsbereit und schickte dem Ministerium für Bürgerschutz eine Liste mit einer Auswahl an leerstehenden Militärlagern, die sich besonders gut eigneten zur Umfunktionierung in Immigranten-Internierungslager.


Der Bürgerschutzminister versäumte nicht, auf den sozial und wirtschaftlich segensreichen, das heißt arbeitsplatzschaffenden Effekt der großflächigen Internierungsmaßnahme hinzuweisen:
Für jedes dieser Internierungslager wird eine neue unabhängige Polizeidienststelle geschaffen werden, deren Personal 150 neue Polizeibeamte umfasst sowie 70 private Sicherheitskräfte pro 250 inhaftierter Immigranten.
Zur sprachlich-stimmigen Einrahmung der geplanten "Säuberungs"kampagne wurde ein sauberer, wahlkampfkompatibler
(6. Mai) Kampagnenslogan gesucht und gefunden: "Aktion Besen".

"Hast du dich je gefragt,
wie Europa aus der Außenperspektive wahrgenommen wird?
Europa sieht aus wie ein dreifach gesicherter Elektrozaun
dekoriert mit Stacheldraht."


Montag, 16. April 2012

Schutzbedürftig


Gelesen und nach Luft geschnappt:
...die Mitarbeiter der Institution machen mit einem Vorstoß deutlich, dass sie am Erfolg der Bewältigung ihrer Kernaufgabe zweifeln: Für Geldwertstabilität zu sorgen. Die Personalvertretung der Notenbank fordert jetzt, die Pensionen der Mitarbeiter müssten gegen die Inflation geschützt werden. Sie verlangt damit eine Versicherung gegen das eigene Versagen.
Muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Dieselben Leute, die immer drastischere Lohn- und Rentenkürzungen in Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien verlangen, wollen vor ihrer eigenen Politik geschützt werden und fordern daher einen Inflationsschutz für ihre eigenen, selbstverständlich ungekürzten und mit Sicherheit nicht zu knapp bemessenen Pensionen.

Ruhig bleiben, tief durchatmen.

Inflationsschutz gibt's natürlich nicht für lau, wer wüsste das besser als die Zielgruppe? Ihr schwant ihr vor,
"...die Risiken über geeignete Finanzinstrumente abzusichern - etwa inflationsindexierte Anleihen." Solche geschützten Anleihen bringen zwar in der Regel etwas weniger Rendite als normale Anleihen...
- es ist schon ein schweres Kreuz, was die Banker mit ihrer Gier auf Renditen zu tragen haben -
Aber selbst diesen Preis wären die EZB-Beschäftigten zu tragen bereit -
- hey, schließlich müssen wir alle den Gürtel ein bisschen enger schnallen, nicht wahr?
- so groß ist die Furcht der Eurohüter vor einem Geldwertverlust des Euro.
Angst essen Bankerseele auf.

Beim Weiterlesen nach Luft gerungen:
Der ganze Streit wäre vermutlich nicht bemerkenswert, wäre die Inflation, vor der sich die Mitarbeiter der EZB so fürchten, nicht genau jene Erscheinung, die zu verhindern oder zumindest gehörig einzudämmen der Sinn der ganzen Einrichtung ist.
Na, na. Inflation verhindern? Nicht doch. Nicht in Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien. Vielmehr schwerpunktmäßig im eigenen Portfolio.

In Frankfurt wird derweil gemunkelt, dass wegen der geplanten Blockade des Bankenviertels im Rahmen der sogenannten "Maifestspiele" vom 16. bis 19. Mai die Mitarbeiter der EZB - zu ihrem eigenen Schutz - für einen (Arbeits)Tag, nämlich den 17. Mai, freigestellt würden (daher der Name Freitag).

Gestern gehört und einen Lachanfall bekommen, gefolgt von akuter Atemnot.

Dürfen sich einen Tag frei nehmen! Zu ihrem eigenen Schutz! Bezahlt, selbstverständlich. Da sage noch einer, die EZB schütze ihre Mitarbeiter nicht angemessen.

Es halten sich (ungeschützte) Gerüchte, dass die Personalvertretung speziell für diesen freien Schutz-Tag - neben der regulären Gehaltsfortzahlung - die Konstruktion einer außerordentlichen Inflationsschutzmaßnahme einfordere. Weil, so heißt es, die EZB-Mitarbeiter an diesem Tag ja nicht zum Dienst antreten dürften, um ihrer "Kernaufgabe" der Inflationsverhinderung gebührend nachzukommen, somit der eintägigen inflationären Gefahr Tür und Tor geöffnet und ein nicht zu verantwortendes Loch ins EZB-Banker-Tagesbudget gerissen würde.

Daraufhin nur noch schutzlos auf dem Boden gerollt.
Atemmaske, bitte.

Samstag, 14. April 2012

Stop the war



OK, stupid middle class,
but first YOU stop
YOUR war on the lower class!

Mittwoch, 11. April 2012

Rübe weg


Es ist noch gar nicht so lange her, da hat der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy im Brustton der staatstragenden Überzeugung verkündet, er werde "voll zu der Krise (in seinem Land) stehen" ("voy a dar la cara", salopper übersetzt: "Ich werde die Rübe hinhalten") und sich niemals vor ihr, der Krise, verstecken ("no me esconderé"). Gut, das war am 10. Januar im Rahmen seiner Regierungserklärung, da sagt man manches, was man nachher nicht mehr sagt oder wofür man jedenfalls nachher die Rübe nicht mehr hinhalten will.

Nach gerade mal drei Monaten ist dem spanischen Politiker der konservativen Partei Partido Popular die Lust gründlich vergangen, seine Rübe hinzuhalten. Nachdem Spanien gestern von den Finanzmärkten Prügel einstecken musste - dies wiederum als Reaktion auf Rajoys Versuch tags zuvor, den bereits böse knurrenden Märkten einen beschwichtigenden Knochen zum Fraß vorzuwerfen: nämlich die Ankündigung, weitere gewaltige Kürzungen in den (bekanntlich die Krise verursacht habenden) Bereichen Gesundheit und Bildung vorzunehmen - verließ Rajoy die gestrige Senatssitzung durch die Hintertür, um sich nicht mit unangenehmen Fragen der Presse herumschlagen zu müssen:


Man muss übrigens kein Wort Spanisch verstehen, um dem präsidialen Abgang folgen zu können, denn der Ministerpräsident macht den Mund kein einziges Mal auf.

Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass - erstens - Schweigen zum richtigen Zeitpunkt mehr sagt als tausend Worte und - zweitens - Rüben kurze Beine haben.

Montag, 9. April 2012

Wahnsinns fetter Hase


Schon wieder Ostern. Oder, na ja, immer noch. Egal, jedenfalls muss ich schon wieder immer noch aufs Osterfest zu sprechen kommen, genauer gesagt auf den Osterhasen, noch genauer gesagt auf diesen feschen Osterhasen:

(zum Vergrößern auf Link klicken)

Ist er nicht wunderbar getroffen in seiner abgefeimten Bösartigkeit, dieser europäische Osterhase namens austere bunny? Vollends weil austere auf Englisch so viel bedeutet wie: karg, streng, sparsam, asketisch, enthaltsam - in Anspielung auf den in Europa grassierenden Austerity-Wahn? Und, erst recht, weil das Wort austere phonetisch fast wie 'Oster-' klingt, halt mit der Betonung auf der zweiten Silbe; etwa so, wie wenn ein Franzose über einen deutschen Ostère-Hasen spricht und allen ein Happy-Austère-Fest wünscht?

Noch dazu hat mich dieser wahnwitzige Austere-Hase auf genau dem richtigen Fuß erwischt, auf dem Hasenfuß nämlich. Weil: Direkt davor war ich über einen Artikel im eu-observer gestolpert; dort war über die aktuellen portugiesischen Zustände zu lesen:
Die EU Kommission ist erfreut über die Sparmaßnahmen der Regierung.
- und direkt darunter stand:
Die EU ist überrascht über Portugals (hohe!) Arbeitslosenquote.
- und ich hatte das Gefühl, jetzt streckt der Wahnsinn sanft seine Krallen aus und lässt mich nimmer los. Spinnen die oder spinne ich?, dachte ich, las weiter:
Die EU Kommission lobte Portugal für seine Sparmaßnahmen und sagte, die Arbeitslosenunterstützung müsse noch mehr gekürzt werden, selbst wenn die Arbeitslosenquoe "überraschenderweise" höher sei als erwartet.
- und wurde des Wahnsinns fette Beute: Die EU Kommission drängt auf noch strengere Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, also eben jener Arbeitslosigkeit, zu der die portugiesische Regierung durch die Politik eben jener EU Kommission gedrängt wird. Dreist, das.

Und im gleichen Atemzug zeigt die EU Kommission sich "überrascht" von den rasant steigenden Arbeitslosenzahlen in Portugal und geniert sich noch nicht mal, das laut auszusprechen. Kackdreist, das.

Am allerkackdreistesten aber kommt die Einlassung eines gewissen Peter Weiss daher, seines Zeichens Funktionär bei der EU Kommission, betraut mit der "Überwachung" des "Reformprozesses" in Lissabon und mit Sicherheit einen stabilen, gutbezahlten Beamtenstatus genießend:
Wir haben die (Arbeitslosen-)Zahlen zur Kenntnis genommen und waren etwas überrascht über den rapiden Anstieg im letzten Quartal. Wir tun uns immer noch etwas schwer, diese Zahlen zu interpretieren - möglicherweise wurde als Faktor nicht angemessen berücksichtigt, dass die Zahlen saisonal bedingt sind.
Wahnsinn, ey. Was nicht passt, wird passend gemacht. Wem die Zahlen nicht passen, der zweifelt sie halt an. Und zeigt sich nicht nur überrascht, sondern ungläubig, dass es der über Portugal verhängte Austerity-Terror gewesen sein soll, der zu einem derart überraschend hohen Anstieg der Arbeitslosenzahlen geführt hat. Und sagt das auch noch einfach so. Und findet gar nichts dabei. Irre.

Wie gesagt. Danach lief mir der irre Austere-Hase über den Weg. Ich guckte ihn irritiert an und musste an den Spruch denken "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts", und der Austere-Hase guckte zurück, lachte irre und sagte: "Mein Name ist Hase, und ich weiß genau, was ich tue."

Wie auch immer, ich wünsche wahnsinnsfröhliche Ostern.

Sonntag, 8. April 2012

Hart aber roh


Die Wettervorhersage für Ostern ist ja nun nicht so berauschend; überall reichhaltige Niederschläge, mancherorts gar als Schnee- und Graupelschauer. Fröstel.


Da bleibt man lieber im Trockenen, verzichtet auf die Freilandsuche von Käfigeiern und guckt zu, wie es andernorts graupelt und schauert. Und stellt fest, dass es manche ganz schön hart trifft.

Und das, obwohl sie sich gar nicht im Freiland, sondern in geschlossenen Räumen aufhalten - trotzdem hat es geregnet wie aus Kübeln:
Im Live-Studio des lokalen Fernsehsenders "Epirus TV" wurde gerade über wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum diskutiert, als sich ein strömender Regen aus Joghurt und Eiern auf den Moderator ergoss.


Österliche Niederschläge aus Eiern und Joghurt! Rohen Eiern, wohlgemerkt, keine hartgekochten Ostereier, eben drum hat's den Moderator ja so hart getroffen.

Womit er sich die - in Griechenland zur Politfolklore gehörende - Sauerei an fliegenden Naturprodukten eingebrockt hat? Ganz einfach: In den vergangenen Tagen war ein Mitglied der Neonazi-Gruppe Golden Dawn als Gesprächspartner ins TV-Studio eingeladen worden, nachdem zuvor 20 bewaffnete Vertreter dieser Gruppe eine Studentenversammlung in der Athener Universität gestürmt hatten. Worauf sich das Fernsehpublikum mit Joghurt und Eiern revanchierte. Da darf man als TV-Moderator halt kein Weichei sein.

Fröhliche Ostern.

Freitag, 6. April 2012

Durchgeknallt



Bisschen Easy Jazz zum Entspannen.

Und dabei Polizisten zugucken beim Entspannen.

Oder beim Anspannen.

Oder, verflixt noch mal, wie heißt das gleich?

Ja richtig: beim Gewehrspannen.

Oder wie?

Nee, eigentlich: beim Abknallen.

Oder halt - kann man so nicht direkt sagen, oder?

Ha! Jetzt hab ich's: beim Durchknallen.

Also: Polizisten beim Durchknallen.

Kann man doch so sagen, oder?

Ich meine, die brauchen ja auch irgendwas zur Unterhaltung.

Eben.

Wollen doch bloß bisschen spielen.

Und Schuss.

Und noch einer.

Bummbummbumm.

Aus purer Freude am Durchknallen.


(Aufgenommen am 29. März 2012
in Barcelona während des Generalstreiks)

Verfluchte Ostereier



Der griechische Journalist und Buchautor Dimitris Kampourakis erzählt eine Ostergeschichte aus seinem Leben.

Es ist die Geschichte eines Jungen, der unter ärmlichen Verhältnissen aufwächst und, als er die sechste Klasse der Hauptschule besucht, auf der Ladefläche eines Lastwagens nach Parnitha in Athen gefahren wird, um dort das Kasino Mont Parnes - "ein Ort, zu dem nur die sehr Reichen fahren" - zu besuchen.

Griechenland, Ostern und der Fluch der Ostereier

In jeder Karwoche brachte mein Vater ein Schokoladen-Ei nach Hause, eingewickelt in rotes Glanzpapier. Meine Mutter plazierte es an einer gut sichtbaren Stelle in ihrem altmodischen Büffet, und mein Bruder und ich saßen stundenlang darunter und schauten es an. Es war ein mittelgroßes Osterei, in den Schaufenstern der Konditoreien sahen wir immer viel größere Eier. Für zwei im Wachstum befindliche Jungen wie uns wäre es drei Bissen gewesen, jedoch konnte unser Vater mit seinen ärmlichen Mitteln nur dieses kaufen, also war dies unser Schatz.

Bis zum Ostersonntag blieb es im Büffet, weil wir während der Karwoche fasteten. Dann zerbrachen wir es, teilten es gerecht in Hälften und aßen es auf eine solche Weise, dass es tagelang anhielt. Wir kauten es nicht gierig, wie es uns unser Trieb drängte, sondern sorgten dafür, jedes Mal nur kleine Stücke der bitteren Schokolade in den Mund zu nehmen und den Genuss zu verlängern, indem wir sie genussreich am Gaumen schmelzen ließen. Das war unser Osterglück.

...

Ich hatte von dem Mont Parnes nie gehört, fragte mich jedoch, wie wohl ein Ort ist, an dem nur die ganz Reichen verkehren...

Und plötzlich, in der Mitte eines luxuriösesten grenzenlosen Raums, erschienen vor meinen verblüfften Augen zwei riesige Ostereier aus Schokolade. Sie waren höher als ich, und um ihren dicken Umfang umspannen zu können, hätten mein Bruder und ich uns sicherlich an den Händen fassen müssen.

Sie standen da, aufrecht und stolz, umrahmt von einem auf vier goldene Pfähle gestützten grauen Seil, als ob es sich um ein Denkmal für Kriegsgefallene handeln würde. Ihr Schokoladengeruch stieg mir in die Nase. Ich betrachtete sie sprachlos. Es war die Verkörperung des Überflusses, die Definition des grenzenlosen Genusses, der absolute Umsturz jeder Bedeutung der Einschränkung und Selbstbeherrschung. Es war der Reichtum höchstpersönlich.

Ich trat mit glotzenden Augen zwei Schritte auf sie zu, jedoch pflanzte sich in diesem Moment ein langer Herr in einer litzenbesetzten Uniform vor mir auf. Er blickte kühl auf die Schar der Hungerleider, die es gewagt hatte, in das Sanktuarium einzudringen, und forderte sie gebieterisch auf, umgehend zu verschwinden, da der Zugang "nur Mitgliedern" gestattet sei.

Während der Rückfahrt malte ich mir ein Bild von den Plätzen aus, an denen die Superreichen verkehren. Sie haben kristallene Drehtüren, welche dich von allein in Gärten mit gigantischen Ostereiern bringen. Du willst krankhaft diese dunklen Berge des Genusses umarmen, in ihnen schmelzen, eins mit ihnen werden. Und beginnen, sie - sozusagen - gierig zu verschlingen, nicht nur mit Deinem kleinen Mund, der nicht ausreicht, sondern mit allen nach der dunklen Befriedigung hungernden Poren Deines Körpers. Dies willst Du mit der ganzen Kraft Deiner Seele, wenn Du Dich dort wiederfindest, wohin nur die ganz Reichen gehen.

Sie lassen Dich jedoch nicht einmal näher treten. Weil in diesem Leben alle, die auf der Ladefläche eines Lastwagens ankommen und wegfahren, nicht berechtigt sind, sich an Schokolade satt zu essen.
Ostereiersuche, Austerity-style:
"Looking for the omelette"
(zum Vergrößern auf Link klicken)

Donnerstag, 5. April 2012

Politiker-Schockstarre


"(Das Ereignis) ist dermaßen schockierend, dass es jeden politischen Kommentar als unpassend und wertlos erscheinen lässt."
Evangelos Venizelos, PASOK Partei, Ex-Finanzminister Griechenlands
"Wir müssen in solchen Fällen sehr vorsichtig sein, wenn wir irgend etwas kommentieren. Wir können keinen Zusammenhang konstruieren zwischen diesem Suizid und der aktuellen finanziellen Notlage des Landes."
Panos Beglitis, PASOK Partei

Andere sind ebenfalls schockiert, nehmen jedoch gerade ihren Schock zum Anlass,
1. passend zu kommentieren,
2. politisch zu kommentieren,
3. weniger vorsichtig zu kommentieren und
4. einen direkten Zusammenhang herzustellen zwischen dem gestrigen Suizid in Syntagma Square und der aktuellen finanziellen Notlage nicht nur des Landes, sondern seiner Bürger und im Besonderen des 77-jährigen Rentners, der es vorzog, Hand an sich zu legen anstatt für den Rest seines Lebens nach Lebensmittelresten in Mülltonnen zu suchen:

Austerity Suicide in Greece:


"Es ist abscheulich. Idiotische, ökonomisch inkontinente Politiker sind gleichermaßen inkontinenten und desorganisierten Bankern hörig, die zu viel Geld verliehen und das ganze Land an den Bettelstab gebracht haben; diese Politiker sind außerstande zuzugeben, wie ihre eigenen Leute sich gezwungen sehen, sich selbst umzubringen, um der Armut zu entgehen.

Absolut abscheulich. Buchstäblich jeder in der griechischen Politik und eine riesige Anzahl von Politikern in der EU stehen unter Anklage, ihre Bürger zu Tode hungern zu lassen.

Es ist so absolut abscheulich und grauenhaft für jeden Bürger, der sich damit konfrontiert sieht. Um Klartext zu reden: Wir haben alle in unseren westlichen Geschichtsbüchern gelesen, wie abscheulich es war, dass Stalin seine Landsleute in der Sowjetunion verhungern ließ. Wie abscheulich ist es, dass heute Menschen in der EU gezwungen werden sich umzubringen, um den Belastungen zu entkommen, die ihnen auferlegt werden durch verheerende Fehlentscheidungen von Regierungen durchweg in der gesamten EU? Durch Austerität und immer noch mehr Austerität?"
Und für alle, die schon immer nach einer ultimativ passenden Definition von Austerität gesucht haben:
"Die Fuck-you-Finanzpolitik der EU."
Und für alle, die jetzt nach dem ultimativ unpassenden Kommentar eines Politikers suchen:
"Auch der (nichtgewählte) technokratische Premierminister Lucas Papademos schaltete sich in die Tragödie ein, indem er an die Griechen appellierte, ihren Mitbürgern in der Not beizustehen."
Während der spontanen Solidaritätskundgebung griechischer Bürger am gestrigen Abend kam es zum Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken.

Kein Überleben


Troika Boot
(zum Vergrößern auf Bild klicken)

Unter diesem Baum in Syntagma Square, Athen, nahm sich heute früh Dimitris Christoulas das Leben. Der 77-jährige Apotheker im Ruhestand tötete sich mit einem Schuss in den Kopf.

In seiner Tasche wurde eine handgeschriebene Abschiedsbotschaft gefunden:
Die Besatzungsregierung von Tsolakoglou* hat mein Überleben zerstört. Es basierte auf einer auskömmlichen Rente, für die ich 35 Jahre lang einbezahlt habe, allein, ohne Unterstützung des Staates. Und weil mein fortgeschrittenes Alter mir keinen Weg des dynamischeren Reagierens lässt (obwohl, sollte ein griechischer Mitbürger nach einer Kalashnikov greifen, würde ich voll hinter ihm stehen), sehe ich keine andere Lösung als dieses würdevolle Beenden meines Lebens; denn ich möchte es nicht weiterführen, indem ich Müllcontainer nach Essbarem durchwühle, um zu überleben.

Eines Tages, glaube ich, werden junge Menschen ohne jede Zukunft zu den Waffen greifen und die Verräter dieses Landes in Syntagma Square hängen, genau wie es die Italiener 1945 mit Mussolini taten.

(*Georgios Tsolakoglou war Premieminister während der deutschen Besatzung in Griechenland im Zweiten Weltkrieg. Die Anspielung auf Tsolakoglou wird in der breiten Bevölkerung verstanden als Vergleich zwischen der Kollaborateurs-Regierung während des Krieges und der gegenwärtigen Regierung von Lucas Papademos.)
Heute abend fand in Syntagma Square eine spontane Demonstration zu Ehren und Gedenken an Dimitri Christoulas statt, die per Livestream übertragen wurde. Von einem Sprecher war zu erfahren, dass Christoulas in Syntagma Square ein wohlbekanntes Gesicht gewesen ist: Er war bei allen Versammlungen der letzten Zeit unter den Demonstranten gewesen, um gegen die drastischen Maßnahmen zur Verarmung der griechischen Bevölkerung zu protestieren.

Dagegen war von einem Ministerprasidenten der griechischen PASOK Partei, Panos Beglitis, in einer TV-Stellungnahme zu der öffentlichen Selbsttötung Christoulas zu erfahren:
"Wir müssen in solchen Fällen sehr vorsichtig sein, wenn wir irgend etwas kommentieren. Wir können keinen Zusammenhang konstruieren zwischen diesem Suizid und der aktuellen finanziellen Notlage des Landes."
Es heißt, der Vertreter der Regierungspartei sei in der Zwischenzeit "unter schweren Beschuss" gekommen wegen seiner Äußerungen.

Unter den Aufrufen zu der heutigen Spontanversammlung zum Gedenken an Dimitri Christoulas kursierte auch dieses Flugblatt:

"Ihr Dreckskerle,
ein Suizid pro Tag wegen euch,
aber es wird der Tag kommen,
wo die Verzweifelten beschließen werden,
das Gesetz in ihre eigenen Hände zu nehmen:
Ihr werdet bezahlen."

Dienstag, 3. April 2012

Sensibilitäten


Irgendwie ist es in letzter Zeit verdächtig still geworden rund um Griechenland, medial gesehen. Das Letzte, was mir noch in den Ohren nachklingt, ist Mario Montis (italienischer Ministerpräsident, nichtgewählter Nachfolger Berlusconis und, wie es immer so schön heißt, "parteilos" - ein Prädikat, was bei einem international tätigen Berater von Goldman Sachs durchaus kabarettreif wirkt) vollmundiger Juchzer, "die Krise ist beinahe vorbei".

(Ich korrigiere: beinahe kabarettreif.)

Beinahe, wohlgemerkt, und wie jeder weiß, meint "beinahe vorbei" etwas durchaus anderes als "vorbei", nämlich - bei Lichte und unter Hinzunahme von etwas Hirnschmalz besehen - das glatte Gegenteil. Also Klartext: Die Krise ist keineswegs vorbei. Auch dann nicht, wenn Monti anlässlich eines Japanbesuches seinen Juchzer fein auszudifferenzieren wusste: "The financial aspects of the crisis are solved." Wiederum bedienen wir uns noch vorhandener Spuren unseres Hirnschmalzes und schlussfolgern scharfsinnig: Operation gelungen, Patient tot, die verbliebene Krisen-Arschkarte bekommt die notleidende griechische Bevölkerung.

Ferner gab es da neulich noch die verkniffene Antwort Horst Reichenbachs (deutscher EU-Beamter, Leiter der "Task Force Griechenland" - deutsch: "Eingreiftruppe", als Wort mindestens so vertrauensbildend wie "parteilos" - der Europäischen Kommission):
Frage: Was halten Sie von Junckers Vorschlag, einen eigenen EU-Aufbaukommissar für Griechenland zu bennen?
Reichenbach: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Ich glaube, dass die Griechen sehr empfindlich auf alle Vorschläge reagieren, in denen ihre Souveränität in Frage gestellt wird.
Mein letzter Rest an Hirnschmalz sagte mir: Wenn einer sich auf eine Frage nicht äußern will, dann hat die Frage wohl ins Schwarze getroffen, ob nun beinahe oder komplett, sei erst mal dahingestellt. So wie es mir beinahe rührend erschien, wenn einer von der Europäischen Eingreiftruppe eine derartige Diskretion, sprich: Sensibilität an den Tag legt, um nur ja den "empfindlichen Griechen" nicht auf die Souveränitätsfüße zu treten. Machen der EU ja schon genug Ärger, dort unten auf Athens Straßen.

Ansonsten, wie gesagt, Funkstille. Man hört und sieht nichts.

Falsch: beinahe nichts.

Weil, eben lese ich die Überschrift eines aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzten Artikels:
Reichenbach im Premierministeramt in Griechenland
Die Regierung in Griechenland hat dem Volk geflissentlich verschwiegen, dass mit dem zweiten Memorandum auch die Bestellung eines Oberaufsehers vorgesehen wurde.
und denke, wow!, wenn dieser Vorgang nicht sensibel ist, dann doch zumindest diskret. Wobei "Aufbaukommissar" noch entschieden sensibler geklungen hatte als "Oberaufseher", aber irgendwann muss ja auch mal Schluss sein mit der staatstragenden Diskretion. "Oberaufseher" klingt irgendwie unangenehm deutsch und soll es wohl auch:
Auf europäischem Niveau hat der deutsche Finanzminister Schäuble trotz seiner erheblichen gesundheitlichen Probleme damit begonnen, mit der Position des vorsitzenden der Eurogroup zu liebäugeln, die Ende Juli mit dem Ausscheiden von Jean-Claude Juncker frei werden wird ... Auf der anderen Seite schickt Schäuble sich jedoch an, unter dem Vorwand der im Juni 2012 erwarteten erneuten volkswirtschaftlichen Entgleisung Horst Reichenbach als neuen Oberaufseher einzusetzen. Selbst für den Fall, dass Reichenbach ablehnen sollte, ließ Schäuble mitteilen, dass die Position in deutsche Hände gehen wird.
Merke: Je diskreter einer vor den Pressemikrofonen herumschwafelt, desto unsensibler geht es hinter den Kulissen zur Sache.
Mit der Möglichkeit, fortan die Agenda der Eurogroup zu bestimmen, wird Deutschland auch formal eine hegemonische Position in den Aktivitäten der Eurozone innehaben und jedem griechischen Politiker - oder Technokraten - das Leben schwer machen, der nach den Wahlen den "elektrischen Stuhl" des Finanzministeriums einnehmen wird.
- dies schon mal den "empfindlichen" Griechen ins Stammbuch geschrieben, damit die wissen, wo der deutsche Hammer hängt, wenn sie demnächst an die Wahlurne gehen.

Zerohedge hat sich gestern des Vorgangs (siehe auch Spiegel International, englischsprachig) beherzt angenommen, titelt so indiskret wie respektlos "Meet the Über-Kommissar: Germany Expands European Domination Plan" und schließt in gewohnt unsensibler Manier mit den Worten:
As many have expected, Germany is well on its way to controlling Europe once again. But this time it will be benevolent. Because this time it's different.

(Wie von vielen erwartet, arbeitet Deutschland gründlich daran, Europa ein weiteres Mal zu kontrollieren. Aber dieses Mal in wohltätiger Absicht. Weil es dieses Mal anders ist.)
Wie, anders? Na ja, alternativlos halt. Da darf kein Raum für falsche Sensibilitäten sein.


Sonntag, 1. April 2012

Bürger ohne Bürgersteig


1. April 2012. Gerade ein bisschen im Internet rumgelesen. Festgestellt, dass es heutzutage immer schwieriger wird zu unterscheiden, ob man einem Aprilscherz aufsitzt oder einfach nur eine der normal gewordenen Absurditäten vorgesetzt bekommt.

Natürlich dachte ich sofort an einen schlechten Aprilscherz, als ich las, die britische Regierung habe - als Teil ihrer jüngsten Reformbemühungen - angekündigt, alle Bürgersteige des Landes zu entfernen.
Auf seiner wöchentlichen Pressekonferenz sagte David Cameron zu Journalisten,

"Ich kann zwar die sentimentale Bindung verstehen, die viele Leute zu Bürgersteigen haben, aber wir müssen uns nun mal den Tatsachen stellen. Die Welt hat sich verändert, wir leben in einer Zeit, wo wir mehr denn je von unseren Autos abhängen; daher kann sich das Land nicht länger leisten, den Zugang zu öffentlichen Straßen zu beschränken."
Verständlich. All diese verkehrsbehindernden Bürgersteige machen den Autofahrern das Leben immer schwerer. Deshalb will der britische Premier sämtliche städtischen Trottoirs aufbuddeln und mit schön glattem Asphalt ersetzen, damit dem Autoverkehr endlich die volle Breite der Straße zugute kommt.

Es sei höchste Zeit, so ein Sprecher des britischen Pendlerverbandes, das Straßensystem fit zu machen fürs 21. Jahrhundert. Die Bürgersteig-Abrissarbeiten seien ohnehin längst überfällig, denn:
"Ich meine, wer geht denn überhaupt noch zu Fuß heutzutage? Okay, mal abgesehen von ein paar armen Leuten."
An der Stelle zog ich zum ersten Mal die mutmaßliche aprilscherzige Komponente in Zweifel und dachte: Könnte ja was dran sein, oder? Zumal beim Weiterlesen deutlich wurde, dass der - nur schwachen Widerstand leistenden (es ist überall dasselbe) - Oppositionspartei Labor vorgeworfen wurde, sie lasse sich von der organisierten Fußgängerlobby massiv unter Druck setzen. Erpressung durch Lobbyisten? Damit macht man keine Scherze!

Ein paar ewiggestrige Bedenkenträger hatten sich betroffen geäußert, durch den flächendeckenden Trottoir-Abriss könnte möglicherweise den wenigen verbliebenen Fußgängern eine gewisse Lebensgefahr drohen; dramatisierende Schwarzmalereien, die vom Verkehrsministerium prompt als gegenstandslos vom Tisch gefegt wurden:
"Es gibt überhaupt keinen Grund zu befürchten, dass zwei Tonnen schwere Metallbrocken mit 30 kmh Fahrgeschwindigkeit - ohne Barriere zwischen ihnen und diesen matschig-zerbrechlichen Fußgängern - irgendeine Gefahr darstellen könnten. Gegenteiliges zu behaupten ist nichts als absurde Panikmache."
Das ist wunderschön Orwell-mäßig - nachgerade realistisch - ausgedrückt und kann sich schon deshalb um keinen Aprilscherz handeln.

Außerdem, dachte ich, sind Fußgänger ja hartgesottene, weil leidgeprüfte, und darum wehrhafte Bürger und werden sich schon irgendwie zu helfen wissen, wenn ihnen ihr Recht auf einen Bürgersteig streitig gemacht wird. Wenn also der Bürgersteig zur Straße gemacht wird, müssen die Bürger halt in Gottes Namen die Straße zum Bürgersteig machen:


Mit 'Druck der Straße' hat dies übrigens absolut nichts zu tun.
Kein Aprilscherz.