Samstag, 30. Juli 2011

Go home



"General Suleiman"

Ein wundervoll leichtfüßiger, grooviger Dub-Reggae-Song des libanesischen Sängers Zeid Hamdan aus dem Jahr 2008, als in Beirut bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Zeid Hamdan, zunächst ahnungslos, hielt sich zu der Zeit gerade im afrikanischen Guinea auf, wo ihn ein Bekannter aufklärte: "Mann, in deinem Land gibt's Krieg!", worauf der Sänger im Schnellverfahren den Song General Suleiman (damals der Chef der libanesischen Armee, heutiger Präsident des Landes) schrieb.
General Suleiman
You're a miracle man
For peace in our nation
All the milicia man GO HOME
Corrupted politicians GO HOME
To weapon dealer say GO HOME
To trouble maker say GO HOME
Foreign intelligence GO HOME
Neighbour influence GO HOME
all the milicia men GO HOME

Gene Gene General
General Suleiman
Salam Salam Salam Aleik
General Suleiman
You're a miracle man
Gene gene general GO HOME!
Am Mittwoch vergangener Woche wurde Zeid Hamdan verhaftet, weil er sich, wie es von offizieller Seite hieß, der Beleidigung des Präsidenten schuldig gemacht habe, worauf im Libanon bis zu zwei Jahren Gefängnis stehen. Als beleidigend empfand Präsident Suleiman den Schlussrefrain des Liedes "General go home!"

Davor war es zu mehreren Verhören gekommen, in deren Verlauf der Musiker der Präsidentenbeleidigung beschuldigt wurde, was Hamdan mehrfach bestritt mit den Worten: "Aber das war doch keine Beleidigung - das war ein gutgemeinter Ratschlag!" Ein großartiger Konter, der dem schlagfertigen Angeklagten allerdings nichts nützte, weil er die Ankläger nicht überzeugte. Zeid Hamdan wurde eingesperrt. Am Mittwoch.

Am selben Mittwoch wurde Zeid Hamdan wieder aus der Haft entlassen, nachdem sich an eben jenem Mittwoch via Facebook eine über 2.500 starke Protestgruppe gebildet und seine sofortige Freilassung gefordert hatte.

"Beim Verhör", erzählte der Sänger nach seiner Freilasung, "haben die mir erklärt, es sei das Allerschlimmste überhaupt, zum Präsidenten 'Go home!' zu sagen, denn es sei eine Aufforderung, seine Macht abzugeben, und das sei sogar noch viel schlimmer als eine Beleidigung."

Das Ende vom Lied: Am Mittwochabend wurde Zeid Hamdan aus seiner Zelle geholt und zu einem Richter bestellt, der ihm zähneknirschend befahl: "Go home!"

Freitag, 29. Juli 2011

Meine betrunkene Küche


Das mit den Brombeeren will einfach nicht aufhören, dieses Jahr. Die schwarzen Dinger wachsen nach wie Unkraut und schmecken, je später die Ernte, umso köstlicher. Nur sollte man sich halt bereits vor, spätestens während der Ernte darüber im Klaren sein, wie die Brombeeren weiter verarbeitet werden sollen, sonst steht man hernach in der Küche und guckt dumm. So wie ich heute.

Es waren bestimmt vier Kilo. Beim Nachhausefahren dachte ich noch: Brombeermarmelade, was sonst, kannst du nie genug haben, hast du noch Gelierzucker zuhause?, klar, neulich auf Vorrat gekauft, kann also nix schiefgehen. Wie immer, wenn man sich seiner Sache sicher ist, geht etwas schief. Was nützen vier Kilo Brombeeren und zwei Kilo Gelierzucker, wenn keine Gläser zum Abfüllen vorhanden sind, weil alle vorhandenen Gläser bereits mit Brombeermarmelade abgefüllt sind? Gar nichts nützt einem das. Was macht man dann? Man guckt dumm.

Wie immer, wenn etwas schiefgeht, sieht man sich zur Kreativität gezwungen. Nach verzweifelter, aber erfolgloser Suche nach leeren Gläsern im Keller stieß ich dort auf ein großes altes Goldfischglas - leer, wohlgemerkt - und wusste augenblicklich, was zu tun war: Brombeerbowle, ha!


Ein unvergleichlich labendes Gesöff bei der Sommerhitze und obendrein noch schön fürs Auge (das Grüne sind keine Goldfische, sondern Limetten). Sehr hoher Fruchtgehalt - schließlich hatte ich mehr als genug Früchte.

Es blieben aber immer noch drei von vier Kilo Früchten, die der Weiterverarbeitung harrten. Brombeerkuchen, na logo!, war mein erster Gedanke, müsste für zwei schöne Bleche reichen, dachte ich; genehmigte mir vor lauter Kuchenvorfreude noch ein Gläschen, um dann ernüchtert festzustellen, dass keine Eier im Haus waren. Tja. Wie immer, wenn etwas schief geht, geht etwas zweites auch schief. Ohne Eier kein Kuchen. Nun hätte ich zwar schnell losfahren und ein paar Eier kaufen können, hatte dazu aber keinerlei Lust. Vielmehr, ich war einfach zu faul. Na ja, oder zu betrunken. Ist ja auch egal. Jedenfalls waren keine Eier im Haus.

Im treudoofen Glauben, das Internet biete für jedes Problem eine Lösung an, durchpflügte ich mindestens 97 Koch- und Backblogs auf der verzweifelten, aber erfolglosen Suche nach einem eierlosen Kuchenteig. Fazit: ohne Eier kein Kuchen. Hatte ich ja bereits vorher gewusst, insofern nicht wirklich niederschmetternd, halt nur ernüchternd, wogegen ich gottseidank ein labendes Mittel zur Hand hatte.

Was mir aber wirklich den Rest gab, war die Entdeckung, dass heutzutage fast jedes zweite englischsprachige Kuchenrezept überschrieben ist mit, na? - erraten: "Let them eat cake!" Oh Mann. Extrem originell, und so neckisch marie-antoinette-isch, und es gäbe ja gar nichts zu meckern, wenn wenigstens die finalen Backprodukte von apart-frugaler Guillotinegestalt wären, aber nein, überall liegt der gleiche Fladen auf dem Blech herum und findet sich einzigartig witzig, nur weil oben drüber steht: "Let them eat cake!". Uröd und nur zu ertragen mit einem durchgeistigten Getränk.

Nun hat mich zwar die Internetrecherche meinem Drei-Kilo-Brombeeren-Problem keinen Schritt näher gebracht, dafür aber mit einer grandiosen Bloggerin bekannt gemacht, die ich fürderhin nicht mehr missen möchte. Sie kocht und backt und bloggt und experimentiert und improvisiert und isst und trinkt genauso gern wie ich, wobei mir scheint, sie trinkt beim Kuchenbacken ein bisschen mehr als ich, wenn man mal von Tagen wie heute absieht.


Außerdem hat sie, im Unterschied zu mir, zum Kuchenbacken Eier im Haus. Dieses Defizit ficht mich jedoch nicht länger an, denn nach längerem Aufenthalt in My Drunk Kitchen sowie in my own drunk kitchen kam mir die kulinarische Erleuchtung: It's the crumble, stupid!

Was ein Crumble ist, weiß jeder, zumindest jeder, der weder Geld noch Lust zum Eierkaufen, aber Lust auf Kuchen hat: ein Arme-Leute-Kuchenersatz, in der Not erfunden während des zweiten Weltkrieges in England, als die Rohstoffe für Kuchenteig knapp, teuer und für viele Menschen unerschwinglich wurden. Von wegen, let them eat cake. Mhm, gerade kommt mein Krümelmonster aus dem Backofen, zwei gnadenlos wohlduftende Bleche mit oben knusper und unten blutrot-brombeersüß, let me eat crumble und alles wird gut. Cheers.


Donnerstag, 28. Juli 2011

Der Norweger und die Frauen


Ein Manifest heißt deshalb so, weil sich in ihm etwas manifestiert. Zum Beispiel - im derzeit am heftigsten diskutierten aller Manifeste - eine Menge gequirlter, aber partiell durchaus mehrheitsfähiger paranoider Käse.

Interessant wird es, wenn sich inmitten des gequirlten Käses plötzlich der eigene Name manifestiert. Oder, nicht minder interessant, der Name der eigenen Mutter. So erging es nämlich der amerikanischen Journalistin Nona Willis Aronowitz, Mitherausgeberin des Onlinemagazins Good Culture (Anders Breivik Railed Against My Mom: When Anti-Women Rhethorics Hit Home). Bei ihrer Analyse des 1.500 Seiten starken Schinkens - pardon: Käses - sprang ihr auf Seite Soundsoviel der Name ihrer Mutter, Ellen Willis, entgegen, vom Autor in einem Atemzug genannt mit Simone de Beauvoir und Virginia Woolf. Müßig zu erwähnen, dass die drei Frauen ganz oben auf der Hassliste des Verfassers stehen.
After looking at both (Manifest und Video), I've learned that Breivik was a 32-year-old Norwegian Christian fundamentalist who hated Muslims, Marxists, global capitalists, and my mom.
Ellen Willis war Musikkritikerin, Feministin und Gründerin der Gruppe Redstockings im Jahr 1969. Die Tochter fasst die Haltung ihrer Mutter so zusammen:
Sie sah im Engagement für ein freud- und lustvolles Leben ein viel mächtigeres Instrument, um gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, als in der scheinheiligen Politik von Konservativen (und ebenfalls einiger Linken). Sie hat den Begriff "pro-sex feminism" erfunden und verteidigte das Recht von Frauen auf ein glückliches und erfülltes Leben, selbst wenn dies mit Kinderlosigkeit verbunden war.
Womit bereits auf den Punkt gebracht wird, warum Frauen wie Ellen Willis für Männer wie Anders Breivik ein rotes Tuch und damit zur Hassfigur wurden: Schiebt letzterer ihnen doch die Schuld zu an "explodierenden Scheidungsraten" und "abgestürzten Geburtenraten", beides aus seiner Sicht verantwortlich für das "kulturelle und demographische Vakuum" im Westen, das auf direktem Wege zu jener feindlichen islamischen Übernahme geführt habe, welches wiederum ihn, Breivik, auf direktem Wege zu seinem Gebombe und Gemetzel veranlasst habe.

Paranoider Käse, wie gesagt, aber durchaus anschlussfähig, wie gesagt, denn mit der Hypothese 'Die Frauen sind an allem schuld' kommt der vielgelesene Manifestator bestimmt bei vielen Leuten gut an, und man möchte lieber nicht wissen, was das genau für Leute sind, bei denen er mit seinem Eve complex (zur Erinnerung: das ist die alte Kiste mit der Schlange und dem Apfel) mehr als nur einen Punkt machen kann.

Zwar ließe sich nun naiv fragen, wieso der selbsternannte Kreuzritter - unterwegs im Auftrag der weißen Rasse gegen die islamische Vereinnahmung - nicht einfach selbst einen Stall voll reinrassig arischer Kinder in die Welt gesetzt hat, anstatt einen Haufen Kinder abzuschlachten?Wäre aber wirklich naiv, denn der arme Teufel hat sich ja öffentlich zu seinem libidinös unterversorgten Status bekannt, woran - wir ahnen es - diese entmaskulinierenden Frauen schuld sind, die offenbar das ganze Cro-magnon-hafte Gebaren des Protagonisten als eher unattraktiv empfanden.

Apropos, der Typ beklagt ja auch wortreich die sogenannte Entmaskulinisierung der Gesellschaft, die den traditionellen Vorbildern heldenhafter Männlichkeit keinen Spielraum mehr lässt. Eines muss man ihm lassen - da hat er einen wahrhaft heroischen Kontrapunkt gesetzt: Unbewaffnete, wehrlose Menschen abzuknallen - wenn das kein Musterbeispiel für männliches Heldentum ist, dann weiß ich auch nicht. Vermutlich hätte er dazu ohne die regelmäßige Einnahme von Steroiden gar nicht die Nerven gehabt und es bei kranken Phantasien belassen, die sich dann zwar möglicherweise in einem Manifest, jedoch nicht in einem Massaker manifestiert hätten.

Ach ja, die Frauen. Ist es nicht wunderbar, dass man ihnen einfach alles Schlechte in die Schuhe schieben kann? Selbst das, was gar nicht schlecht ist?



Mittwoch, 27. Juli 2011

Musik




In Zeiten des Trauerns gibt es wohl kaum etwas Angemesseneres, mehr Kraft Spendendes als Musik. Für mich persönlich führt aus dem Zustand des Trauerns nur der Weg über die Musik heraus, aus einem einfachen Grund: weil die Musik mich überhaupt erst in die Trauer hineinführt. Weil Musik es mir möglich macht, das namenlose Entsetzen in der Trauer zu ertragen. Weil ich nur mit Hilfe von Musik diesen Gefühlszustand überhaupt zulassen kann, dieses: nicht wissen wohin mit sich und mit dem verstörten Ringen um Fassung. Musik erlaubt mir, die Fassung zu verlieren und sie wieder zu finden.

In der norwegischen Stadt Molde findet alljährlich ein Jazzfestival statt, Molde Jazz; dieses Jahr vom 18. bis 23. Juli, in der Zeit also, in der knapp hundert (die Zahl der Toten steht noch nicht fest) Menschen durch zwei Terrorangriffe massakriert wurden. Elf junge Menschen aus Molde, die an dem Zeltlager auf der Insel Utoya teilgenommen hatten, werden noch vermisst.

Traditionell wird Molde Jazz jedes Jahr mit einer Jazz Parade durch die Stadt beendet; mit einem fröhlichen, bunten, ausgelassenen Musikumzug. Dieses Jahr haben die Festivalleitung und teilnehmende Musiker aus der Abschlussparade einen funeral march gemacht, einen Trauerumzug: "Molde Jazz to make minor" - schwer zu übersetzen, etwa: Molde Jazz spielt in Moll. 70 junge Musiker spielten West Lawn Dinge, einen traditionellen funeral march aus New Orleans:
"The plaintive f-minor theme, followed by some slightly lighter stroke before the mourning mood again takes over, filling the main street ... Cruising route is changed. Today it goes to Molde Cathedral which has opened its doors to all who need help to cope with grief, uncertainty and despair. 11 young people from Molde in Utoya, and their fate is still unclear."

Ein langjähriger Jazzfan aus Molde bezog Position zu den Attentaten in Oslo und Utoya:
"A terrorist attack also against everything the festival wants to stand for: a multicultural community where people from different cultures, religions and races come together in music and creates large, positive experiences for all of us."
Der Bassist Dave Holland, Mitwirkender bei Molde Jazz, fand Worte für die integrierende Kraft von Musik:
"There is really only one thing artists should do, and it is to respond with strong positive energy as possible. It serves not any good if we get dragged down with crimes, then eventually all gone down. Music is one of the ways we can express some of our best human qualities, and precisely why I think it is so important that we come together in situations like this. Music brings people together and is a way to share something positive. When we, as musicians create something together on stage, we show what goals we can reach in the community, goals we would not be able to reach alone."
Mir selber fehlen in diesem Moment die Worte; ich hole sie mir woanders her:
"Music is powerful; music can really drive home the reality of a situation."
Lester Nelson


(Die ersten drei Zitate stammen aus der norwegischen Zeitung Dagbladet, via Google Translate; das letzte Zitat ist von einem BoingBoing-Kommentator entliehen.)

Dienstag, 26. Juli 2011

How to respond to terrorism


"How to respond to terrorism"

200.000 Menschen versammelten sich gestern vor dem zerbombten Gebäude der Stadtverwaltung in Oslo. Was ursprünglich als Trauermarsch geplant, aber wegen der vielen Teilnehmer nicht durchzuführen war, wurde zu einer riesigen schweigsamen Trauerfeier,
...it became a silent and stationary memorial, especially moving when everyone held their flowers high and spontaneously and very mutedly sang Mordahl Grieg's "Til ungdommen".
There were speeches by many...but I actually thought the Mayor of Oslo, Fabian Stang, expressed it most cogently:
"Together, we will punish the murderer. The punishment will be more openness, more tolerance, and more democracy."

Montag, 25. Juli 2011

Unser aller System



Wenn politische Inszenierung sich selbst zur Seifenoper karikiert, hilft nur eines: die Karikatur.

Aus der beliebten Rubrik "Wir schüren Panik":

"Wenn wir die (amerikanische) Verschuldungsgrenze nicht anheben, könnte das gesamte System zum Kollabieren kommen."
Bitte wahlweise einsetzen:
"Wenn wir Griechenland nicht retten..."
"Wenn wir die Banken nicht weiterhin bailouten..."
"Wenn wir nicht zu drastischen Sparmaßnahmen greifen..."
"Wenn wir nicht alle zu Opfern bereit sind..."

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Gemeint ist sowieso jedes Mal dasselbe:
Wenn wir nicht so weitermachen wie bisher, wird das System einbrechen.
Oder noch einfacher:
Wenn wir aufhören das System zu unterstützen, wird das System zusammenbrechen.

Haben wir das jetzt alle verstanden?
Ja, wir haben es verstanden.
Nur, wir verstehen nicht alle dasselbe darunter.

Links im Bild die fleischgewordene Panik:
"Wenn wir nicht so weitermachen wie bisher, könnte unser kompletter Lebensstil an die Wand fahren!"

Rechts im Bild die stoische Gelassenheit eines Menschen, dessen System bereits kollabiert ist, der sich mit einem an die Wand gefahrenen Lebensstil eingerichtet hat.
Keinerlei Anzeichen von Panik.
Er sagt nichts, scheint aber zu denken: Okay, deinem Lebensstil verdanke ich meinen Lebensstil.
Täusche ich mich oder zieht über sein Gesicht ein diabolisches Grinsen?

Vor zwei Tagen hat der politische Karikaturist Ted Rall ein Video ins Netz gestellt:
"Tahrir Square comes to Washington - why I will be there!"
Sehenswert.


Samstag, 23. Juli 2011

Gerettet


Nunsense in Brüssel


"Wir haben Griechenland gerettet."


Common sense in Athen


"Wir danken euch."

Freitag, 22. Juli 2011

Keine Angst


Los, Griechenland, steig' endlich aus. Fang' bei Null an oder meinetwegen bei unter Null, aber steig' zum Teufel aus und lass' sie den Teufel an die Wand malen. Alles wird schrecklich werden, das Chaos wird ausbrechen, die Welt wird untergehen, und was am schrecklichsten ist: Die Banken werden untergehen, das Geldsystem wird untergehen - so what, kennt jemand noch Menschen, die Geld haben? Ich nicht. Steig' aus, und ich wette eins zu hundert, dass am Morgen danach die Sonne scheint und der Himmel immer noch blau sein wird. Obwohl sie uns einreden wollen, dass wir alle fürchterlich leiden werden, am Ende gar verhungern, aber tun wir das nicht jetzt schon?

War leider nur ein Traum. Geplatzt.

Aufgewacht, Radio gehört, "wir haben Griechenland gerettet", dünnhäutige Sprechbläschen, zum Platzen dünn, aber gerettet wird, dass es kracht, wie?, mit Krediten natürlich, womit sonst, wir retten den Junkie mit noch mehr Stoff, um ihm das Leiden an den Entzugserscheinungen zu ersparen. Was wäre passiert, wenn der Junkie auf kalten Entzug gesetzt worden wäre? Nicht auszumalen, Schreckliches, ganz Schreckliches, das Chaos, der Weltuntergang, siehe oben.

Kaffee getrunken, geplatzten Träumen hinterhergeträumt, wie war das nochmal gestern mit den Eimern, die sich bis ans Ende der Straße kicken lassen? Gibt es Schlimmeres als Eimer, die bis ans Ende der Straße gekickt werden? Zwar hätte ich es mir nicht träumen lassen, aber das gibt es tatsächlich:
"The euro deal is an insult to both cans and people who kick things."

(Der Euro-Deal ist eine Beleidigung, sowohl für Eimer als auch für Leute, die etwas lostreten wollen.)
Ist aber alles halb so schlimm, denn der Euro-Deal hat uns alle vor viel, viel Schlimmerem bewahrt, und deshalb müssen wir jetzt keine Angst mehr haben vor all dem Schlimmen, Schrecklichen, was hätte passieren können wenn.

Wieder ganz ruhig geworden. Tief und angstfrei durchgeatmet. Hier und da herumgelesen. Um es plötzlich erneut mit der Angst zu tun bekommen:
Der Faschismus hat als Waffe die Angst

Wir befürchten sehr, dass die modernen Deutschen den anderen auf arrogante und manchmal auf totalitäre Weise begegnen. Genau wie die Nazis, die zu dem einzigen weltweiten Wert ihre eigene ethnische Kultur, ihre eigene Weise des Denkens und Lebens erhoben, den Weisen der anderen Völker und ihrer im Lauf der Geschichte eroberten Würde den Respekt verweigernd.

Deswegen sind Nazismus und Faschismus präsent und haben als Waffe die Angst. Das heutige Gipfeltreffen in Brüssel wird als Untergang der Welt präsentiert. Angst überall und um alles. Angst um die Banken, Angst um die Arbeit, Angst um das Überleben, Angst um die Zukunft der Kinder, den Klimawandel, um alles.

Dient die Krise der Etablierung eines modernen Totalitarismus?

Diese Ängste tragen zur Gestaltung der Psyche der Menschen bei, stellen jedoch keine Stütze dar, welche die Existenz ausrichtet oder uns zur Erkenntnis führt, wohin es mit der Welt geht. Dagegen stören sie den rechten Gebrauch des Verstandes und führen in den modernen Totalitarismus deutschen Typs, wo ein Volk, im Vorliegenden die Deutschen, annimmt, bei den geopolitischen Optionen, der Besitz der Reichtum produzierenden Quellen, der Eroberung von Territorien und, vor allem, der Unterwerfung der Menschen unter seine Zwecke den Vorrang zu haben. Das ist der sogenannte soziologische Nazismus.
Nochmal tief durchatmen. Weiterlesen.
Folglich ist die heutige Krise nicht nur wirtschaftlich, sie ist politisch, sie ist kulturell, sie ist soziologisch und anthropologisch. Und vor allem ist sie international. Deswegen müssen Reaktion und Widerstand nicht nur lokal, sondern international sein. Damit sie jedoch effektiv sind, muss der Gang hinter den Spiegel erfolgen, der Übergang weg von dem Narzissmus und der wilden Lust auf Macht der "Führer".

Historisches Subjekt der heutigen Erhebung ist die Gesellschaft der Bürger. Deswegen muss die Hauptrolle die Gesellschaft inne haben, die heute abwesend ist. Deswegen müssen die Anführer und die parlamentarischen Vertreter die Führung ausüben, indem sie gehorchen. Der Ungehorsam des Anführers bedeutet seine umgehende Absetzung durch die Vertretenen. So wird die Souveränität des Volkes umstrukturiert und wandelt sich zu einem regulierenden Organ des öffentlichen Lebens.

(Anlässlich des Gipfeltreffens in Brüssel publizierte Jorgos Papasotiriou, Direktor der Zeitung Vradyni, am 21. Juli 2011 in der Kolumne "Zeichen der Zeit" unter dem Titel "Der Faschismus hat als Waffe die Angst" diesen Beitrag, der vom Griechenlandblog in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird.)
War noch was? Ach ja, Europa.
Das gemeinsame europäische Haus ist ein Mythos.
Jorgos Papasotiriou

Carlos Santana und Wayne Shorter live in Montreux 1988:

Europa


Donnerstag, 21. Juli 2011

The Euro Crisis Song


Crisis?
What crisis?

"So far there is no word about
how this rescue plan will affect the society and
whether there will be additional austerity measures.


The Euro Crisis Song

Gefällt mir gut.
Schöner Drive.
Coole Orgel.
Bisschen Siebziger.
Jazzy, funky, easygoing.
Tanzbar.

Geht sofort ins Ohr.

Get ready to the floor.

Dance me to the end of crisis.

The Can? We Can Kick It!


Heute ist wieder mal ein großer Tag. Einer dieser großen Tage, an denen die europäische Führungsspitze sich in Brüssel trifft, nämlich zu einem Gipfel, und wer bei 'Gipfel' an 'Berg' denkt, liegt insofern richtig, als am Ende des Tages der kreißende Berg wieder mal ein kleines Mäuschen gebären wird.

So richtig durchblicken tut bei dem ganzen EU-Finanz-Gewurschtel schon lange keiner mehr, obwohl immer noch einige so tun als ob, dies aber nicht wirklich glaubwürdig rüberbringen können, weshalb man als Normalbürger sich sein eigenes Bild macht,


- wie ja überhaupt kreative Visualisierungen dem gemeinen Normalo erst halbwegs ein Verständnis dessen ermöglichen, was da eigentlich abgeht.

Zum Beispiel die bildkräftige volkstümliche Redensart von "Kick the can!", was nicht etwa zu verstehen ist als Aufforderung von Frischobst- und Gemüsefans, die olle Konservendose aus der gesunden Ernährung zu verbannen, sondern an ein Kinderspiel erinnnern soll. Ein Kinderspiel, was Kindern großen Spass macht, jedoch ziemlich albern wirkt, wenn es von Erwachsenen gespielt wird, und noch alberner, wenn Politiker sich ihm mit wachsender Begeisterung hingeben.

"Kick the can down the road!" heißt das Spiel in der erwachsenen, also finanzkapitalistischen Version, bei dem allmählich das Ende der Straße (frei übersetzt: Ende der Fahnenstange) in Sichtweite gerät.

Wir nähern uns dem Endspiel dieses Abschnitts der europäischen Staatenkrise: Die Anzahl an Eimern, welche jetzt die Straße runtergekickt werden müssen, wäre selbst für den linken Fuß eines Lionel Messi eine echte Herausforderung. (Lionel Messi ist der amtierende Weltfußballer des Jahres.)
Heute also wieder mal großer EU-Kick-the-Can-Tag. Den wollen wir uns mit einem angemessenen Groove wenigstens halbwegs erträglich gestalten.

Can you kick it? Yes you can. On the wild side.


Mittwoch, 20. Juli 2011

Vital verhungern



Endlich geht es in Griechenland voran. Die strengen Sparmaßnahmen fangen an zu greifen. Na ja, was heißt streng - 'streng' ist irgendwie kein schönes Wort, da denkt jeder an strenge Winter, strenge Lehrer, strenge Gerüche und bekommt strenge Laune. "Vitale Sparmaßnahmen" (Copyright: US-Außenministerin Clinton auf Staatsbesuch in Griechenland), das klingt doch gleich viel weniger negativ und hat den Effekt, dass es jeden einzelnen Griechen noch mehr motiviert zum noch vitaleren Sparen.


Nun zu den sichtbaren Erfolgen des vitalen Sparens.

Wie zu lesen ist, wird den griechischen Polizeibehörden womöglich demnächst sowohl der Strom als auch das Telefon abgedreht.
"Aufgrund der Kürzungen der einschlägigen Mittel, aber auch wegen aufgelaufener Schulden der Vorjahre an die öffentlichen Unternehmen und Organismen, zeichnet sich die unmittelbare Gefahr ab, dass der griechischen Polizei in den kommenden Monaten Strom und Telefon abgeschaltet werden."
Das ist doch endlich mal eine gute Nachricht, die uns auf optimierte Reaktions- und Handlungsbereitschaft der griechischen Polizei schließen lässt, zum Beispiel bei künftigen Einsätzen gegen Bürgerversammlungen in Athens Syntagma Square.

Hoffnung auf bessere Zeiten macht auch die folgende Andeutung:
"Weiter ist damit zu rechnen, dass in Ermangelung von Geldern für die Wartung der Fahrzeuge ab dem Herbst wieder massenweise Streifenfahrzeuge und Motorräder der DIAS-Einheit stillgelegt werden müssen."
Was nichts anderes bedeuten kann, als dass in Zukunft die griechische Polizei zu Fuß - und darum besonders effizient - unterwegs sein wird zu den Brennpunkten des öffentlichen Protestes. Mehr Bewegung hat noch keinem geschadet. Profitieren wird außerdem von dieser vitalen Sparmaßnahme die von chronischem Verkehrsinfarkt gefährdete Innenstadt Athens. Im übrigen kostet nicht nur die Wartung von Polizeiautos Geld, was nicht da ist, sondern auch die "Treibstoffversorgung" von Einsatzfahrzeugen; zu teuer, wird gestrichen. Fazit: Die Luftverschmutzung wird geringer und vieles gesünder werden. Vitaler eben.

Aber das ist noch nicht alles - die guten Nachrichten reißen nicht ab:
"Parallel wird erwartet, dass die Polizeibeamten ab Herbst 2011 keine Nachtzulagen mehr erhalten werden, weil es auch für sie kein Geld gibt."
Künftig wird also die griechische Polizei nach Einbruch der Dunkelheit - die Nächte werden ja neuerdings wieder länger - dem Parlamentsgebäude mitsamt seinen parlamentarischen Insassen ehrenamtlich Schutz gewähren; ein vitaler Schritt zu mehr bürgerschaftlichem Engagement, zu mehr Zivilgesellschaft. Dabei dürfte parallel zu erwarten sein, dass bei solchen ehrenamtlichen Polizeieinsätzen verstärkt im Dunkeln gemunkelt werden wird, denn der Treibstoff für Flutlicht - vulgo: Strom - kostet ja auch bloß Geld, was keiner hat. Es bleibt vital spannend.

Apropos Treibstoff. Vielleicht wird ja der Stoff zum Vertreiben von gegen Sparmaßnahmen protestierenden Bürgern - vulgo: Tränengas - demnächst auch zu teuer. Wo es ja bereits an Geld für den Treibstoff der dafür notwendigen Einsatzfahrzeuge fehlt. Übersetzt in den neumodischen vitalen Sparsprech könnte das auf folgendes Szenario hinauslaufen:

Die Polizisten kommen künftig zu Fuß auf Syntagma Square gejoggt. An jedem - engergeschnallten! - Polizistengürtel - hängen ausschließlich Großgebinde von Handschellen. Die werden jedem Protestierer kurzerhand angelegt und dann heißt es nur noch: abführen! Ruckzuck wird der Syntagma Square sich leeren und die Knäste sich füllen. Ordnung wird einkehren, Ruhe sich über den Platz legen, durchs ganze Land wird ein vitales Aufatmen gehen.

Das Dumme daran ist lediglich, dass auch Häftlinge, leider Gottes, ein Kostenproblem darstellen. Weil, die müssen ja durchgefüttert werden. Doch wie jedes Kostenproblem lässt sich auch dieses vital lösen:
"Ebenfalls wird befürchtet, dass ab dem nächsten Monat bei den Polizeibehörden befindliche Inhaftierte zu hungern beginnen werden, da die Mittel für ihre Verpflegung fehlen."
Dass wir da nicht früher drauf gekommen sind - wir sparen, hm, sperren die griechische Bevölkerung einfach ein und lassen sie im Knast verhungern. Genial vital!

Andererseits - man spart ja, wo man kann - wäre der Spareffekt vielleicht am allergrößten, wenn man gar nichts unternimmt und die Leute einfach auf der Straße sitzen lässt.


Dienstag, 19. Juli 2011

Gut gehetzt ist halb gewonnen



"Nur zu Bildungszwecken:

Urban Priol und Georg Schramm zur Anti-Griechen-Kampagne von deutschen Medien und Politik, die Banken und Versicherungen genug Zeit verschafft, um griechische Staatsanleihen zulasten der Steuerzahler abzustoßen."
Was wir schon immer über die Propagandafigur des arbeitsscheuen Griechen wissen wollten, uns nie zu fragen trauten, aber dennoch ahnten und darum hinter vorgehaltener Hand uns gegenseitig zuflüsterten: Wem nützt eigentlich die groß angelegte, konsequent über lange Zeiträume durchgezogene Hetzkampagne?
"Alternativlos war offensichtlich auch die Hetzkampagne (u.a. Angela Merkel, siehe Video) gegen Griechenland, die wohl dazu diente, Banken und Versicherungen genug Zeit zu verschaffen, um Griechenland-Anleihen in Höhe von fast 20 Milliarden Euro an die EZB und damit an den Steuerzahler weiterzugeben."
Wird man ja wohl mal sagen dürfen. Man traut sich ja sonst nichts.

(Video via simablog)

Montag, 18. Juli 2011

Wenn Mumien den Mund aufmachen


In Ägypten, dem Land der Mumien und Pyramiden, gibt es einen Minister, der für Altertumsfragen - "antiquities" - zuständig ist. Also einen Minister für Archäologisches, im Volksmund "Mumien-Mubarak" genannt - "The Mubarak of antiquities".

Vielmehr, es gab ihn. Gestern wurde Zahi Hawass gefeuert (via boingboing), zusammen mit einem Dutzend weiterer Minister; im Rahmen einer Kabinettsumbildung wurde dem Druck von Tahrir-Protestierenden nachgegeben, die darauf bestanden hatten, dass ministerielle Leftovers des Mubarak-Regimes aus dem Kabinett zu entfernen seien.

Nora Shalaby, Aktivistin und Archäologin: "Er war der Mubarak der archäologischen Schätze Ägyptens: Er tat so, als ob sie ihm alleine gehörten und nicht dem ägyptischen Volk" und hielt sich offenbar, laut Selbstauskunft, für den echten Indiana Jones; so echt, dass er sich seine eigene TV Reality Show schuf unter dem Titel "Immer den Mumien hinterher" ("Chasing the Mummies").

Wie es aussieht, hat die jüngere ägyptische Protestgeschichte den Spieß umgedreht: Plötzlich waren hinter dem Mumien-Mubarak die zum Leben erwachten 'Mumien' des Tahrir Square her.

Ägyptische Straßenkünstler geben dem umkämpften Recht auf Meinungsfreiheit gegen totalitär verordnetes Schweigen gern das Gesicht einer Mumie, die durch ihren Verband hindurch zu sprechen beginnt:

Graffiti eines unbekannten ägyptischen Künstlers

Anstelle von Mumien-Mubarak trat gestern als neuer Archäologieminister Abdel-Fattah el-Banna ins Amt, ein außerordentlicher Professor für archäologische Restaurationen. El-Banna hatte sich in jüngster Zeit einen Namen gemacht durch seine regelmäßige Teilnahme an Massenprotesten in Tahrir Square.

Hoch den Hintern


Die auf dem Bullen tanzt
"Die Antiglobalisierungsbewegung war der erste Schritt auf unserem Weg. Um das System anzugreifen, orientierten wir uns damals an dem Vorbild eines Wolfrudels: Es gab einen Alphawolf, einen Anführerwolf, und all die anderen, die ihm nachfolgten. Wir haben unsere Taktik weiterentwickelt: Heute sind wir ein einziger riesiger Schwarm von Menschen."
Raimundo Viejo, Pompeu Fabra Universidad
Barcelona
"Das Schöne und Aufregende an dieser neuen taktischen Formel liegt in ihrer pragmatischen Schlichtheit: Wir sprechen uns einfach ab, physisch und virtuell ... wir konzentrieren uns auf eine Forderung - eine Forderung, die es vermag, die Vorstellungskraft zum Leben zu erwecken und die uns weiter antreiben wird in Richtung radikale Demokratie ... und dann gehen wir auf die Straße, nehmen uns einen öffentlichen Platz mit symbolischer Bedeutung und setzen unseren Hintern aufs Spiel, damit das alles wahr wird.

Die Zeit ist reif, unsere Forderung hat einen Namen, nämlich der Name dessen, der unsere Demokratie am meisten korrumpiert:
Wall Street, the financial Gomorrah of America."

Den Hintern hochbringen,
nach draußen schaffen,
aufs Spiel setzen.
Darum geht's.


Heute reichen fünf Worte, und jeder versteht:

Wallstreet besetzen.
Zelte mitbringen.
Basta.

Sonntag, 17. Juli 2011

High Noon im Taubendreck


Was passiert, wenn ein Land zu Tode gespart wird?

Dies:
Griechenland droht die Massenarmut

Mittags um 12 Uhr kommen bis zu 2000 Menschen, am frühen Nachmittag dann 1200 und am Abend noch einmal rund 1000. Es wird darauf geachtet, dass nicht immer die Gleichen in der Schlange stehen. Denn "die Zahl der Bedürftigen nimmt rasant zu", sagt eine der Helferinnen. "Bei den Griechen in den letzten Monaten um 30 Prozent, und wir wissen nicht, ob es dabei bleibt." Die meisten verzehren ihre Ration gleich auf dem Platz, so groß ist der Hunger. Sie hocken auf Bänken und Mauern im Taubendreck, trinken Wasser aus dem Schlauch für die Rasensprengung.
(via einspruch)
Sicherlich finden sich wieder genügend Bewohner des "reichen" Deutschlands, die es, schulterzuckend, nur als "gerecht" bezeichnen, wenn die jahrzehntelang dem Müßiggang frönenden Griechen endlich die Rechnung für ihren Schlendrian präsentiert bekommen. Denn wer - wie heißt es immer? - "über seine Verhältnisse lebt", muss halt irgendwann dafür büßen, und sei es im Taubendreck.

Kommentar von einspruch:
Das ist Europa in der Wirtschaftskrise? Nein, es ist erst der Anfang. Es wird noch schlimmer werden, noch mehr Länder werden in den Abgrund fallen. Und es ist unsere Zukunft, die Zukunft Deutschlands - schließlich haben auch wir über unsere Verhältnisse gelebt.
- keine Ahnung, wen er mit "wir" meint, mich bestimmt nicht, aber egal, sein Schlussgedanke ist jedenfalls nachdenkenswert:
Der Finanzmarkt wird Europa nicht mehr finanzieren. Er könnte es, schließlich wurde er mit Rettungsgeldern voll gepumpt, er möchte es aber nicht. Denn er ist mächtig genug für den Klassenkampf.
In einem aktuellen Videointerview gibt der griechische Finanzblogger Demetri Kofinas von Covering Delta einen klaren Überblick über das, was in Griechenland passiert und passieren wird, wenn es weiterhin zu Tode gespart wird. Demokratie? War mal. Die Zukunft liegt im Polizeistaat.


Wer lieber Propagandaopfer und damit Mittäter bleiben möchte, sollte sich das Interview besser ersparen. Wer sich für den Druck der Straße interessiert und für weiterführende Gedanken zur Vernetzung von Bürgern auf öffentlichen Plätzen, sollte das Interview unbedingt anschauen.

Ach, und übrigens, wer meint herummaulen zu müssen, dass die Bürgerbewegung in Athens Syntagma Square wohl eingeschlafen sein müsse, da man gar nichts mehr von ihr hört, sollte ebenfalls dieses Interview anschauen. Und zusätzlich einen Blick auf die europäische Wetterkarte werfen; seit Tagen brütet eine Hitzewelle in Griechenland, gestern waren es in Athen 41 Grad Celsius im Schatten.

Und damit zurück an die schweißperlenfreien Keyboards in wohltemperierten deutschen Schreibstuben.


Update:
Wer meint, Deutschland sei ja nicht Griechenland, sollte seinen Kopf in den Sand stecken. Wer seinen Kopf bereits im Sand stecken hat, dem sei der Open Letter to My Fellow Americans samt Bilderstrecke empfohlen. Wer meint, Deutschland sei ja nicht Amerika, dem ist nicht mehr zu helfen.

Samstag, 16. Juli 2011

Unterwegs im Unterholz


Es brombeert. Und zwar gewaltig. Schwarz-üppig-glänzend strotzt es im dornreichen Gebüsch, und ich bin seit Tagen auf der Jagd. Selbstverständlich in Kampfkleidung, sonst kommt man ja lebendig nicht mehr aus der grünschwarzen Folterhölle raus. Dann gehe ich nach Hause, verbringe den Rest des Tages mit Marmeladekochen, Kuchenbacken und (ganz wichtig!) Kuchenessen und steige am nächsten Morgen wieder in die Armeehose, um erneut zuzuschlagen.


Das einzige Problem beim Brombeerenpflücken besteht darin, dass die schwärzesten, üppigsten Zweige immer entweder sehr hoch oder aber in der dornenverbarrikadierten Tiefe des Gebüsches hängen, wo kein normalwüchsiger Mensch dran kommt und erst recht kein kurzwüchsiger wie ich. Man kann sich also meine Empörung vorstellen, als ich heute früh eines meiner Lieblings-, weil ertragreichsten Gebüsche aufsuchte und ein baumlanger Lulatsch damit beschäftigt war, sich - von ganz oben - handvollweise Beeren abwechselnd in den Mund und in den mitgebrachten Spankorb zu stopfen. Ich wurde grün vor Eifersucht.

Noch nicht einmal beschimpfen konnte ich den Kerl, denn er verstand kein Wort Deutsch, und ich verstehe kein Wort Osteuropäisch. Mir blieb also nichts weiter übrig als die Fäuste in die Körpermitte zu stemmen und böse zu gucken. Irgendwie hat der Lange das Körpersprachliche sofort verstanden, denn er breitete beschwichtigend seine rotgefärbten Hände (an unverschämt langen Armen) aus, trat aus dem Gebüsch, zwinkerte listig, öffnete seinen Rucksack und holte etwas heraus, was andernorts, glaube ich, eine Machete genannt wird.

Diese schwang er mit geübten Griffen ins Nachbargebüsch so lange hinein, bis der Weg frei wurde zu den in der Tiefe befindlichen schwarzglänzenden, üppig behangenen Zweigen. Ich stand mit offenem Mund und war mehr als beeindruckt und dann nur noch begeistert. Während der Lange seine Ernte in lichter Höhe fortsetzte, stieg die Kurze in die dunkle Tiefe, und beide waren wir bester Dinge, füllten im Nu unsere Körbe, und jedes Mal, wenn es in der Tiefe nichts mehr zu ernten gab, schlug der Lange erneut mit dem Buschmesser zu. Das Ganze auf beglückend entspannte, da nonverbale Weise.

Irgendwie gelang uns die gebärdensprachliche Verständigung, uns morgen wieder am Tatort zu treffen. Weil, solange ich mir keine eigenes Buschmesser leisten kann, bin ich auf fremde Hilfe angewiesen, was soll ich machen. Und weil die Begegnung mit dem Langen für mich etwas sehr Einmaliges hatte, habe ich beschlossen, ihm als Gegengabe etwas sehr Einmaliges mitzubringen:


Brombeermarmelade.
Freischwebend im Glas,
der süßen Schwerkraft trotzend.
Muss mir erst mal einer nachmachen.

Freitag, 15. Juli 2011

Kulturrevolution



Die Revolution findet auf dem Wasser statt. Sofern sie nicht - dem Regenwetter geschuldet - ins Wasser fällt. Letzteres wollen wir den Bregenzer Festspielen ("Revolution am See und ein Toter in der Badewanne") nicht wünschen, denn sonst würde Jean Paul Marat im Bodensee baden gehen.


Und das wäre schade. Es findet nämlich am 20. Juli, also in wenigen Tagen, auf der größten Seebühne der Welt die Premiere der Oper André Chénier von Umberto Giordano statt - Musiktheater mit einem spannungsgeladenen Plot rund um die Französische Revolution. Und der Kopf des gemeuchelten Marat wird als gigantisches Bühnenbild auf dem Bodensee schwimmen.
"Der Corpus des Marat ist in der Revolutions-Oper 24 Meter hoch, der 16 Meter breite Kopf hat ein Gewicht von 60 Tonnen. Im österreichischen Fussach wurde er in einer Werft als Stahlgerippe konstruiert. Zwei Schiffe brachten die zwei Kopfhälften in den frühen Morgenstunden zu den Bregenzer Festspielen. Mit einem Kran wurden sie auf der Seebühne zusammengesetzt. Im Spiel wird der Kopf nach hinten geklappt
(als künstlerische Reminiszenz an das Ölgemälde Der Tod des Marat von Jacques-Louis David)
und sein Gehirn freigegeben, symbolisch ist es für den Dichter ein Bücherstapel von sieben Meter Höhe. Im Spiel werden sich die Augen und der Mund bewegen. Aus seinem Kopf werden eine Dornenkrone sowie ein Bart wachsen. Links von dem Corpus des Marat ist ein barocker Spiegel in Größe von 19 Metern. In ihm soll sich das Leben spiegeln."
Der Bart und die Dornenkrone müssen noch wachsen, aber sonst läuft alles nach Plan und die Revolution kann steigen, wenn auch vorerst nur zu Wasser. Zu Lande verkündet derweil der Intendant David Pountney, die Oper habe einen "sehr starken Drive" und passe mit ihrer Geschichte rund um die Französische Revolution auf den "epischen Raum" der Seebühne.

Seine Worte klingen in mir nach. Epische Räume, denke ich mir, müsste es doch auch jenseits von Seebühnen zuhauf geben, zum Beispiel allerorten auf dem Festland; und revolutionstaugliche Sozialdramen mit sehr starkem Drive muss sich auch keiner ausdenken - die schreibt das Leben frei Haus und schneller als jeder Librettist.

Weiter führt der Intendant aus: "In modernes Musiktheater zu gehen, soll für unsere Gäste genauso normal sein, wie in einen modernen Film zu gehen oder ein modernes Buch zu lesen." Ja Mensch - oder genauso normal, wie zu einer modernen Revolution zu gehen.
Wär' doch mal was.

Mittwoch, 13. Juli 2011

Phrasendreschbankrotterklärung


Es geht Schlag auf Schlag, und jeder Schlag ist ein Schlag aus der Phrasendreschmaschine, auf dass die Phrase bei jedem Schlag noch platter und bei jeder Wiederholung noch lächerlicher wird.

Angefangen hat die ganze Drescherei mit "Irland ist nicht Griechenland", zumindest nach der Zeitrechnung dieses Blogs. Seinerzeit wurde von der irischen Regierung die T-Shirt-Phrasendreschdruckmaschine angeworfen, und seither wird gedroschen, was das Stroh hält. Nun darf seit spätestens heute das irische Phrasen-T-Shirt als ziemlich ausgeleiert gelten, denn Irland wurde in denselben Mülleiner ("junk rating") geworfen wie Griechenland und Portugal, weshalb das irische Phrasen-T-Shirt nur noch für einen müden Lacher gut ist.

Heute schreit es von überall "Griechenland ist nicht Irland", während es die letzten Tage verdächtig oft hieß "Griechenland ist nicht Argentinien", was - in penetranter Wiederholung - uns lehrt, dass Griechenland schlimmer ist als Argentinien, jedenfalls schlimmer als Argentinien mal war, aber durchaus Argentinien sein könnte, in naher oder ferner Zukunft. Denn im Zeitalter des finanzkapitalistischen Spins ist man ja inzwischen gut konditioniert, bei jedem öffentlich gekrähten "X ist nicht Y" die Sprechblasenaussage unverzüglich ins Gegenteil zu verkehren, und schon weiß man, dass man so ungefähr richtig liegt.

Vor wenigen Tagen erst haben sie Italien in die Tonne getreten, heute heißt es "Italien ist nicht Griechenland", weil es seit heute in Finanzkreisen auf einmal schick ist, Italien zu loben über den grünen Klee, zumindest über Griechenland, weshalb es jedermann einzuleuchten hat, dass "Italien nicht Griechenland ist", ganz einfach deshalb, weil Italien nicht Griechenland sein kann und deshalb auch nicht sein darf.

"Spanien ist nicht Italien", eh klar, spielt ja besser Fußball, aber erst umgekehrt wird ein Schuh draus, "Italien ist nicht Spanien", versteht sich, schließlich hat der spanische Finanzminister heute für 2012 noch tiefere Ausgabenschnitte verkündet als die ohnehin schon in Kraft getretenen. Darum darf Italien keinesfalls mit Spanien aufs Verlierertreppchen gestellt werden, nur, bitte! - "Frankreich ist nicht Italien", obwohl es ihm schuldentechnisch dicht auf den Fersen folgt oder ihm sogar um mehrere Nasenlängen voraus ist, so genau weiß das keiner, weil, so genau erzählt es einem keiner.

Natürlich, "Deutschland ist nicht Frankreich", schon deshalb nicht, weil Deutschland über alles geht, und erst recht gilt: "Deutschland ist nicht Griechenland" - wäre ja noch schöner, die Deutschen wollen zwar billig Urlaub in Griechenland machen, aber unter keinen Umständen ist Deutschland Griechenland, höchstens dann, wenn Griechenland beschließt, Argentinien zu werden, was aber rein spekulativ und darum verboten ist, denn "Spekulieren ist zum jetzigen Zeitpunkt unerwünscht", habe ich aus irgendeinem EU-Kommissionärsmund vernommen, also lassen wir das, obwohl...egal. Spekulieren dürfen nur Spekulanten, denn nur die verstehen etwas von dem Geschäft, klar?

"Portugal ist nicht Spanien", erwähnte ich das schon? Es kann einem ganz schwindelig werden. Kein Land ist wie das andere, kein Land will wie das andere sein, denn wäre das eine Land so bankrott wie das andere Land, müssten die EU-ler ja zugeben, dass ihr System auf Grundeis geht und der ganze europäische Saustall am Ende ist. Wie, einen Fehler zugeben? Nie und nimmer! Lieber weiter bailouten wie bescheuert. Weil, einen Fehler zuzugeben hieße ja im Endeffekt, weniger Kasse zu machen. Geht gar nicht.

"USA ist nicht Griechenland", habe ich in letzter Zeit auffallend oft gehört. Sehr populär in Expertenkreisen ist auch das zündende "USA ist nicht Europa", was aber auch kein Wunder ist, weil, wer will schon Europa sein, wo keiner mehr weiß, was man sich unter Europa eigentlich vorzustellen hat. Gibt es Europa überhaupt noch? Ich meine, zwar treten EU-Bürokraten, EU-Kommissionen, EZB-Repräsentanten und EU-Notmeeting-Teilnehmer pausenlos den europäischen Ländern - vor allem aber sich selbst - auf den Füßen herum, aber Europa? Was war das nochmal? Ich sehe es weit und breit nicht.

Insofern, wenn Frau Merkel jetzt auf ihrem aktuellen Beutezug, ähm, ihrer Afrikatournee, sagen würde: "Afrika ist nicht Europa", dann würde ich als Afrikanerin einen Lachanfall kriegen und sie fragen: Welches Europa? Wo ist Europa? Was ist Europa? Ist Europa überhaupt? Wie kann Afrika etwas nicht sein, was gar nicht ist? Aber gut, Mop ist nicht Merkel und schon gar keine Afrikanerin.

"Griechenland ist nicht Island", las ich vorher und dachte, hey, es könnte aber wie Island sein, es müsste nur wollen, oder vielmehr, "es" müsste einfach mal seine Bürger befragen, aber genau das will "es" ja nicht, auf gar keinen Fall, denn was schert "es", was seine Bürger wollen? Vielleicht wären wir alle furchtbar gern Island, trauen uns das aber nicht laut zu sagen, weil, man darf weder den Euro noch den europäischen Gedanken schlechtreden. Das kann Frau Merkel gar nicht ab, da wird sie immer schrecklich böse.

Überhaupt, jedes Mal, wenn wieder ein neues Fass "X ist nicht Y" aufgemacht wird, frage ich mich instinktiv, wer gerade wem das Wasser hinterher trägt, damit er genau jene Behauptung in die Welt posaunt. Man muss sich sowieso den internationalen Finanzkapitalmarkt vorstellen wie eine global gut vernetzte Armee, in der es wie in jeder guten Armee Tausende von ergebenen, loyalen Soldaten (= Banker, Berater, Politiker) gibt, die mit modernsten Panzern (= Phrasendreschmaschinen) die Völker anfeuern zur freudigen Unterstützung (= Kriegspropaganda) des Kampfes für eine bessere Welt (= Geld und Macht in den Händen der Finanzdiktatur).

Bankrotte Länder Europas, vereinigt euch.

Portugal strikes back


Revolução do Portugal, schön böse und sehr lustig:


You really get us angry
when you say
that we are lazy,
that we party,
we are wasted,
we don't care because we are crazy,
that we don't work hard enough,
we don't want to go to school,
we just want our sunny weather
and sun glasses to be cool.

Well,
some of that is true,
but most of that is wrong,
you cannot point your finger
just because we don't belong
to your mafia group of friends
that seek profit so bad -
give us another rating
and we shove it up your ass!

Remember the old days
of the Europe family?
Every country was the same,
it was a democracy.
We had a social way of living,
the best of the free world,
but someway
in the past
we just lost the control.
Now we let private agencies
destroy the Europe dreams,
they just looking for their profits,
it's exactly what it seems.

How much longer will it take
until we all make a stand?
Reunit,
regain control,
and get rid of their demands!

We are coming baby!

Dienstag, 12. Juli 2011

Die Revolution ist eine Reise



Frühstücksfernsehen vom Feinsten.

Das beste, informativste, stimmungsvollste Video
über die Geschichte von 15-M,
was ich bisher gesehen habe.
Es dokumentiert das Erfolgsrezept,
nach dem die spanische Revolution funktioniert hat
und weiter funktionieren wird:
ein Mix aus improvisiert und organisiert,
aus spontan und von langer Hand geplant,
aus klein anfangen und groß rauskommen,
aus alt und jung,
aus Empörung und Begeisterung,
aus zuhören und sprechen,
aus Tränen der Rührung und Tränen der Wut,
aus Freude an der Freiheit und an harter Arbeit,
aus Lust am Experiment und Unlust an der Ideologie,
aus nosótros y nosótras,
aus Utopie und Pragmatismus,
aus Konsens und Konflikt,
aus lernen und verstehen:
15-M ist eine Lokomotive
und die Revolution eine Reise.

Montag, 11. Juli 2011

Wir singen weiter


"Syrian Revolutionary Dabke":


Dabke ist der Name eines orientalischen Volkstanzes in Ländern des östlichen Mittelmeeres. Er wird in Syrien, Jordanien, Libanon, Palästina, Israel, der Türkei und dem Irak gern auf Festen und Hochzeiten getanzt. Die Tradition der Dabke geht zurück auf die Zeit, wo Hausdächer noch aus Lehm statt aus Ziegeln gebaut wurden. Um den Lehm winterfest zu machen, riefen Hausbesitzer Nachbarn und Freunde zu Hilfe: Die Männer hielten sich an den Händen oder umfassten gegenseitig ihre Schultern, stampften den Lehm fest, und um eine optimale Lehmfestigkeit zu erzielen, stampften sie in einem gemeinsamen Schritt und nach einem bestimmten, stets wiederkehrenden Rhythmus, so dass eine Art Reihentanz daraus wurde.

Dabke-Tanzen drückt Verbundenheit und Solidarität aus: gebündelte Menschenkraft zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Noch druckvoller wird der Tanz, wenn zu ihm gesungen wird; meist als rhythmischer Sprechgesang, wo ein Sänger die Strophe vorgibt und die Menge in den Refrain einstimmt. Kein Wunder, dass Dabke-Tanzen und -Chanten sich bei den syrischen Revolutionären großer Popularität erfreut.

Im ersten Video (mit englischen Untertiteln, "added by the Creative Syrian Revolution") ist die Stimme des syrischen Sängers Ibrahim Qashoush zu hören, der zu traditionellen Folkloreliedern neue, zeitgenössische Texte geschrieben hat:
Your legitimacy here has ended
Bashar you are a liar
To hell with you and your speech
Freedom is at the door
time to leave, Bashar
Get out Bashar!
Begeistert wiederholt die Menschenmenge den Refrain Get out Bashar! Es wird getrommelt und geklatscht, die Stimmung auf dem Platz ist überbordend. Qashouhs Song Yalla Erhal Ya Bashar ("Es ist Zeit zu gehen, Bashar!") war in den letzten Wochen auf Syriens Straßen und Plätzen immer beliebter geworden.

Der Film wurde am 27. Juni 2011 in Hama, Syrien gedreht. Am 3. Juli 2011 wurde Ibrahim Qashoush von regierungstreuen Truppen ermordet. Die Mörder schlitzten ihm den Hals auf und rissen seinen Kehlkopf heraus, um die weitere Verbreitung seines Gesanges zu verhindern.

Es ist ihnen nicht gelungen:


Die Menschen in Syrien (hier in Hama) singen Qashoushs Lied inbrünstiger denn je. Im Internet finden sich in den letzten Tagen massenhaft Videos aus allen Teilen Syriens, wo zu Ehren Qashoushs auf öffentlichen Plätzen gesungen wird.

Seit zwei Tagen gibt es auch einen Remix von Ibrahim Qashoushs Song - uptempo, ungeduldig, unnachgiebig:


Nicht erst, aber spätestens seit dem 3. Juli 2011 ist Ibrahim Qashoush zur Stimme der syrischen Revolution geworden. Ein starker Wille, gepaart mit einer starken Stimme, mag lebensgefährlich sein in Syrien und anderswo. Zum Schweigen gebracht werden kann beides nicht.

Niemals.

Sonntag, 10. Juli 2011

Rumhängen, abhängen, aufhängen


Was schert mich mein Geschreib von gestern?
...zu hoffen bleibt, dass auch die griechischen Hersteller von Stricken und Seilen künftig schwarze Zahlen schreiben können, um die fiskalische Selbstmordgefahr endgültig zu bannen.
Was bringt uns der heutige Tag?

Wieder mal ein Bild, das mehr sagt als tausend Worte:


Wobei man schon gern wissen möchte, welche bedauernswerte Kreatur da abhängt? Oder sich aufgehängt hat? Oder aufgehängt wurde?
Oder wie? Oder was?

Der Straßenkünstler Eyesaw gibt Auskunft:
"The last capitalist we hang shall be the one who sold us the rope."
Darf der das einfach so sagen?
Natürlich nicht.
Warum sagt er es trotzdem?
Weil es vor ihm schon ein anderer gesagt hat.

Wer sich jetzt quengelnd daran aufhängt, dass "erst dann, wenn der letzte Strickhersteller aufgehängt ist, ihr begreifen werdet, dass ihr nichts mehr zum euch-dran-aufhängen habt" (oder so ähnlich), der kann sich immer noch daran aufhängen.

Samstag, 9. Juli 2011

Selbstmord in Raten


Es ist noch keine zwei Wochen her, da machte ein unfrohes Wort fröhlich die Runde, wenn es um Griechenland ging. Niemand genierte sich, es auszusprechen, weil es so schön griffig-apokalyptisch zum Ausdruck brachte, dass die über Griechenland verhängten Sparmaßnahmen angeblich alternativlos seien. Das Unwort hieß fiscal suicide*, also: finanzpolitischer Selbstmord, der dem verschuldeten Land drohe, sofern das griechische Parlament nicht mehrheitlich sein Votum für jene von der Troika IMF, EZB und EU geforderten Sparmaßnahmen abgebe.

Inzwischen ist bekanntlich der griechische Haushalt aus der suizidalen Zone gerettet, das Sparpaket beschlossen, die Tränengasindustrie in den schwarzen Zahlen und es geht aufwärts. Merklich aufgehellt hat sich auch die Stimmung auf Seiten der Banker, denn Banker sind schlau und wissen, dass es sich bei dem Parlamentsvotum um ein Bailout für Banken gehandelt hat; alternativlose "Sparmaßnahmen" - das hat sich herumgesprochen - ist nur ein gefälligeres Wort für alternativloses Banken-aus-der-Klemme-hauen. Alternativlos war das Raushauen schon allein deshalb, weil aus dem Fenster springende Banker nun mal keine attraktive Schlagzeile abgeben.

Alles in bester Ordnung also, der IMF schiebt die Kohle rüber, die Banker haben gute Laune, der Haushalt läuft wie geschmiert und überhaupt, alles könnte ein so harmonisches Bild vermitteln, wenn da nicht so ein paar griechische Spassverderber unter den Sparpaket-Empfängern wären, die den Abstimmungsgewinnern, sprich Krisenprofiteuren in die Suppe spucken.

Es ist nämlich so, dass die kriseninduzierte Selbstmordrate in der griechischen Bevölkerung sprunghaft angestiegen ist. Nein, keine Sorge, nicht die armen griechischen Banker haben sich heimlich aus den Fenstern gestürzt - wozu sie ja (bislang) gar keinen Grund hätten - vielmehr beenden immer mehr verarmte griechische Bürger aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit eigenhändig ihr Leben, wie eine soeben veröffentlichte Studie der britischen Cambridge University berichtet.

Bedauernd wird von David Stuckler, dem Studienverantwortlichen, vermerkt:
"Obwohl wir erste Anzeichen einer fiskalischen Erholung aus der Krise erkennen, müssen wir leider eine menschliche Krise zur Kenntnis nehmen."
Ja, das ist in höchstem Maße bedauerlich, wo doch in letzter Minute der fiskalische Selbstmord abgewendet wurde - was müssen die fiskalisch betroffenen Leute sich ausgerechnet jetzt umbringen? Mit einfühlsamen Worten kommt Stuckler zu der Erkenntnis, dass der (vergangenen, verstanden?) Krise nun ein "Rattenschwanz" an menschlichem Leid folgen werde:
"There is likely to be a long tail of human suffering following the downturn."
- eine Formulierung (Hervorhebung von mir), die uns um die Erkenntnis reicher macht, dass es sich bei den Hand an sich legenden griechischen Bürgern eher um ein Ladenhüter-ähnliches Langzeit-Folgeproblem mit Nischencharakter handelt.

Also alles halb so wild, irgendwie. Noch hat keine Studie aufgeschlüsselt, was die bevorzugten Wege ins freigewählte Jenseits sind - Hochhausfenster? Brücken? Hungertod? - aber zu hoffen bleibt, dass auch die griechischen Hersteller von Stricken und Seilen künftig schwarze Zahlen schreiben können, um die fiskalische Selbstmordgefahr endgültig zu bannen.

Tröstlich ist einstweilen, dass der Suizidsoziologe Stuckler den Blick aufs große Ganze nicht verloren hat: Während die Selbstmordrate unter Griechen (übrigens auch unter Iren) im Zuge der Krise markant gestiegen sei, sei die Zahl der (Verkehrs)Unfalltoten im Zuge der Krise relativ und absolut erfreulich gesunken, was ja, wenn ich Stucklers Ausdrucksweise richtig deute, darauf hinweist, dass alles im Lot ist, irgendwie:
"...the higher death rates from suicides appear to be balanced out by the lower fatalities on the roads, which fell substantially."
In anderen Worten (Hervorhebung von mir): Das eine wiegt das andere auf. Der Begriff 'ausbalanciert' wird gemeinhin angewendet auf Konten, Budgets und Bilanzen, und zwar immer dann, wenn jene einen beruhigend ausgeglichenen Eindruck machen. Was will man mehr?

Abschließend ließe sich noch herumsoziologisieren, ob vielleicht die weniger Unfalltoten einerseits die mehr Freitoten andererseits im Verhältnis 1:1 abbilden? Denn mit Sicherheit verdankt sich die stark gesunkene Unfalltotenrate den krisenbedingt gestiegenen Benzinpreisen sowie den krisenbedingt gesunkenen Einkommen der griechischen Bevölkerung, der die Lust am Autofahren gründlich vergangen ist.

Bezüglich der oben erwähnten Selbstmordarten darf also von der erfreulichen Hypothese ausgegangen werden, dass die Zahl der Suizidgeneigten, die mit ihrem Auto mutwillig gegen den nächsten Baum fahren, künftig deutlich sinken wird. Und das ist doch auch schon mal was.


*Der inflationäre Gebrauch des Begriffes fiscal suicide geht zurück auf eine Äußerung des Direktors der Bank of Greece, George Provopoulos gegenüber der Financial Times: "Es wäre ein Verbrechen, wenn das Parlament gegen das Sparpaket stimmen würde - das Land würde für seinen eigenen Selbstmord abstimmen."

Freitag, 8. Juli 2011

Griechische Froschperspektive



Eulen nach Athen? War gestern. Heute kommen aus Griechenland Frösche. Seit heute gibt es nämlich das Tagebuch eines Frosches, geschrieben von einer deutschen, in Athen lebenden Froschfrau. Es ist das zauberhafteste, witzigste, frechste, revolutionärste Buch der Saison.

Im revolutionär-zoologischen Kosmos der deutsch-griechischen Froschfrau gibt es genau drei Tiergattungen: Wölfe, Bären und Frösche. Now, who is who? Dankenswerterweise hat die Froschfrau im Anhang ihres Buches ein Froschglossar veröffentlicht, das es in sich hat und keine Fragen offen lässt:

Wölfe:
Euro
Das ist die Drachme der EU-Länder. Aber nicht von allen. Um zum Rudel der Euro-Wölfe zu gehören, muss man ganz genau machen, was die EU einem vorschreibt. Welchen Vorteil das hat, dass man das EU-Geld hat anstelle von seinem eigenen, haben wir Frösche nie begriffen. Aber die Wölfe lügen sich gegenseitig die Taschen voll, damit sie ihn bekommen können. Unlängst hat die deutsche Wolfsvorsitzende gesagt, dass wir Frösche das mit dem Euro auch gar nicht verstehen bräuchten, weil es uns eigentlich gar nichts anginge. Ansonsten handelt es sich bei dem Euro um eine reine Glaubensfrage.
Klar, wer die Wölfe sind? Noch nicht? Okay:
Eurogruppe
Die Eurogruppe...ist so eine Art Alpha-Wolf-Gruppe, die sich regelmäßig trifft, um zu besprechen, was man aus den Fröschen der Eurozone noch so alles rausquetschen kann. Wirtschaftlich gesehen. ... Gewöhnlich erzählen sie keinem Frosch, welche sicheren Dinge sie gerade besprochen haben. Sie schicken aber immer hinterher ihren Chef-Wolf, der derzeit der Jean-Claude Juncker ist, vor die Kameras. Der sagt dann entweder etwas, was keiner versteht oder was keiner glaubt.
Jetzt klar? Gut.

Bären:
Bailout
Das ist ein englisches Modewort und bedeutet eigentlich "aus der Klemme helfen". Da heute offensichtlich die halbe Welt in der Klemme sitzt - und zwar in der der Bären - versuchen jetzt die Wolfsclans, die Welt da wieder rauszuholen. Wobei noch nicht so ganz klar ist, wer denn die aus der Klemme zu holende Welt eigentlich so genau ist. Bis heute ist eigentlich nur klar, dass die Bären das Geld haben, die Wölfe gerne noch mehr hätten, irgendwo was klemmt, das mit Milliarden umgeklemmt wird - und es bei den Fröschen im Portemonnaie ziemlich klamm wird.
Noch Fragen zu den Bären? Nein? Gut.

Nun zu den Fröschen:
BIP
Es ist eine Abkürzung für BruttoInlandsProdukt. ... Gemeint ist damit alle Arbeit und Leistung, die wir Frösche so innerhalb eines Jahres machen und die Bären in Geld umrechnen - wobei wir Frösche mit Geld eigentlich gar nicht zu bezahlen sind, weil es ohne uns gar kein BIP gäbe. Anhand dieses BIPs denken die Bären und Wölfe, sie würden wissen, ob es dem Land, deren Fröschen das BIP gehört, gutgeht.
Irgendwelche Unklarheiten? Werden hiermit restlos beseitigt:
Den pliróno
Ist griechisch für "Ich bezahle nicht". Literaturnobelpreisträger Dario Fo hat 1974 eine Komödie unter dem Titel "Non si paga!" - "Bezahlt wird nicht!" - aufgeführt. Der Inhalt ist so einfach wie aktuell: Es herrschen soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und steigende Preise. Also unternehmen die Froschweibchen eine spontane Aktion und kaufen im nahegelegenen Supermarkt ein, ohne zu bezahlen. ...
"...und wenn du eines Tages sterben mußt, stirbt nicht ein alter, ausgepumpter Maulesel, nein, ein Mensch stirbt, ein Mensch, der frei und zufrieden gelebt hat, mit anderen freien Menschen."
Zumindestens Dario Fo scheint einen Ausweg für uns Frösche gefunden zu haben. Ob sich die griechische Bewegung diese Groteske als Vorbild genommen hat oder nicht - ich weiß es nicht. Aber es könnte sein ... Wenn sich die Wölfe Berater aus Italien für die Wirtschaft holen, können wir Frösche das auch für die Revolution. Mal gucken, worin die Italiener besser sind.
Wie gesagt: zauberhaft, witzig, frech und unwiderstehlich revolutionär.

Mit solidarischen Grüßen an die griechische Froschfront!

Kudos!


(Vorabdruck von Titelbild und Text mit freundlicher Genehmigung des Verlages.)

Kanarischer Revolutionswecker


Positiv sollst du deinen Tag beginnen.


Dactah Chando.
Der Doktor aus Tenerifa.
Spanischer Rap.
Kanarischer Reggae.
Supertyp. Zum Kennenlernen.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Wer hat Angst vorm schwarzen Loch?


Bei manchen Themen hält man sich besser zurück. Bei mir ist das zum Beispiel die Physik, von der ich reichlich wenig Ahnung habe, erst recht von der Astrophysik.

Wobei ich mir durchaus ein gewisses Vulgärwissen angeeignet habe, nämlich durch das Anschauen des Disney-Filmes Das Schwarze Loch, wo, wenn ich mich recht erinnere, zwei Raumschiffe miteinander ringen, welches von beiden als erstes in das Loch reinfallen wird, woraus ich gelernt habe, dass der Aufenthalt in der Nähe eines schwarzen Loches von Übel ist, weil die Gravitationskraft unweigerlich dazu führt, dass das schwarze Loch mich verschlingt.

Daraus folgt, dass ich mich bei seriösen Fachgesprächen über schwarze Löcher besser zurückhalte - ein falsches Wort von mir, und der Diskurs würde mich ob meiner fehlenden Expertise mit Haut und Haar verschlingen, ich würde in ein bodenloses schwarzes Loch stürzen und könnte mich allenfalls noch durch geistesgegenwärtiges Ziehen des Badewannenstöpsels retten.

Andererseits gibt es Gespräche über schwarze Löcher, wo ich mich einfach nicht zurückhalten kann, dann nämlich, wenn ich den Eindruck habe, die Diskutierenden haben noch weniger Ahnung von schwarzen Löchern als ich. So ein Fall trat gestern in der Kassenschlange eines Supermarktes ein. Die Kassenschlange war endlos lang und alternativlos, es gab kein Entkommen - von daher einem schwarzen Loch nicht unähnlich -, und zwang mich zum Belauschen eines Gespräches hinter meinem Rücken.

Zwei Männer erörterten, während sie sich wartend auf ihre Einkaufswagen stützten, den Fall Griechenland und befanden, dieses Land sei ein schwarzes Loch, welches unersättlich jenes "sinnlose" Geld verschlucke, das von Deutschland hineingeworfen werde, um das Loch schlussendlich zu stopfen. Wie, Griechenland ein schwarzes Loch? Ich würde keinesfalls bestreiten, dass Griechenland sich in gefährlicher Nähe zu einem schwarzen Loch befindet, aber Griechenland selbst zu einem schwarzen Loch zu konstruieren, erschien mir gewagt und, an den astrophysikalischen Gesetzen der herrschenden Finanzkapitalthermik gemessen, völlig daneben.

Also drehte ich mich um und mischte mich ein. Griechenland, sagte ich, sei kein schwarzes Loch, sondern im Begriff, in ein schwarzes Loch gestoßen zu werden, und über kurz oder lang werde Deutschland mit seinem sinnlosen Geld im nämlichen dunklen Schlund verschwinden. Wieso Deutschland, fragte basserstaunt der eine Mann, warf sich in Siegerpose und fuhr fort: "Wenn wir(!) Deutschen wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt wären, wäre Griechenland schon lange im schwarzen Loch verschwunden!"

Deutsche Siegerrhetorik hat etwas Entwaffnendes, besonders wenn sie von Deutschen vorgetragen wird, die - erkennbar an ihrer Kleidung und dem Inhalt ihres Einkaufswagens - wirtschaftlich alles andere als gut aufgestellt sind. Aber gut. Der andere Mann befand, an meiner Theorie mit dem schwarzen Loch sei was dran, weshalb "die Deutschen" am besten "die Griechen" ins schwarze Loch stoßen sollten, "weil, dann wär' endlich Ruhe und Europa käme wieder voran".

Gottlob kam die Kassenschlange allmählich voran. Während ich schob, drehte ich mich erneut um und fragte den europabegeisterten Mann, was ihn so sicher mache, dass die Deutschen nicht alsbald den Griechen ins schwarze Loch folgen würden? Er lachte selbstbewusst und frohlockte: "Wer um alles in der Welt sollte Deutschland in das schwarze Loch stoßen wollen?". Ich klaubte meine Produkte auf das Laufband, holte tief Luft und erwiderte: "Na, Deutschland selber!", was mit zwei empört offenstehenden Mündern beantwortet wurde und mir die Gelegenheit gab nachzulegen: "Wär' ja nicht das erste Mal." Alsdann nahm die Kassen-checkout-Logistik ihren Lauf und das spontane Politgeplänkel ein Ende.

Fast hätte ich den Schnack in der Kassenschlange wieder vergessen. Doch fiel er mir heute früh wieder ein, als ich auf einen aufschlussreichen Artikel stieß mit der Überschrift:
Warum einige Länder schneller in das schwarze Finanzloch fallen als andere.
Hey guten Morgen, schwarzes Loch!, dachte ich, und fing an zu lesen.
Dass wir in einer "Black Hole-Economy" leben, in der kontinuierlich Produktivkapital weggesaugt wird von spekulativen Finanzkapitalstrukturen, ist nichts Neues. Denn wir bewegen uns in einer ständigen Abwärtsspirale nach unten, solange wir nonstop unterwegs sind mit Konjunkturpaketen, Bailouts und der Monetisierung von Schuldverschreibungen, ohne irgendeine Chance, dass diese Kapitalströme genug Fließgeschwindigkeit erreichen, um jemals in der wirklichen Ökonomie anzukommen.
Ich konnte, selbst mit rudimentärem astrophysikalischem Knowhow, gut folgen und las weiter:
Indem wir rasant in das schwarze Loch des Ponzikapitalismus hinuntergleiten, enthüllt sich ein kritisches zeitliches Paradox: Je näher sich jemand am Ereignishorizont eines schwarzen Loches befindet, desto stärker greift die Schwerkraft an und desto mehr langsamer scheint die Zeit zu verlaufen.
Zugegeben, an der Stelle musste ich nachschlagen, sonst wäre ich von der Terminologie überfordert gewesen; Disney-Filme sind einfach nur begrenzt horizonterweiternd, erst recht, was den Ereignishorizont betrifft. Hilft aber weiter, das Nachschlagen, ich schwör's.

Der Artikel führt weiter aus, dass aufgrund des genannten Paradoxes derjenige (A), der in unmittelbarer Nähe zum schwarzen Loch steht, nicht unbedingt früher hineinfällt als derjenige in weiterer Entfernung (B); es aber fatal wäre für A, sich darum in trügerischer Sicherheit zu wiegen und in aller Gemütsruhe den B's beim Abstürzen zuzuschauen.

Man ahnt schon, wie der Artikel weitergeht. A repräsentiert die größten Volkswirtschaften dieser Welt mit den mächtigsten Finanzkapitalmärkten, während B jene Länder vertritt, die - nolens volens - mit dem globalen Finanzsystem verwoben sind. B steht also für Länder wie (ehemals) Island, Tunesien, Ägypten, Syrien bis hin zu Irland, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Während A einen langsamen, nicht völlig unkomfortabel erscheinenden Tod stirbt, sehen die Bevölkerungen der B-Länder dem tödlichen Höllenschlund eher heute als morgen ins Auge.
...die Uhren in Nordafrika, im Mittleren Osten, in Südasien und der europäischen Peripherie ticken wesentlich schneller, und jeden zweiten Tag in der Woche scheint in diesen Regionen eine neue Finanz- oder sozialpolitische "Krise" aufzubrechen. ...

Der Leidensdruck, den Tunesier, Ägypter, Libyer oder Griechen im Laufe eines Tages erleben, lässt sich vergleichen mit dem Leidensdruck, den Amerikaner, Kanadier, Briten oder Deutsche im Laufe eines Jahres oder noch länger erleben. Wir leiden alle aus denselben Gründen, denn wir sind alle ein Teil desselben Wirtschaftssystems und werden alle von dem schwarzen Schuldenloch verschlungen, aber das zeitliche Schisma erschwert es, dieses geteilte Schicksal zu erkennen. ...

Wir sollten uns daran erinnern, dass ein verlangsamter zeitlicher Rahmen keineswegs bedeutet, dass eine Wirtschaft sich erholt, - ja, noch nicht einmal, dass ihr Status quo erhalten bleibt.
Ich dachte an die Deutschen in der Kassenschlange; an ihre voyeuristische Lust beim Absturz Griechenlands ins schwarze Loch; an die trügerische Sicherheit, in der so viele Deutsche sich so gern wiegen; an das große schwarze Loch, das geduldig warten wird, bis die langsamer tickenden Uhren der A-Länder anfangen werden zu rasen.

Ich las zu Ende:
Unser zeitlicher Referenzrahmen mag sich mehr in die Länge ziehen, aber auch wir werden von dem schwarzen Finanzloch der globalen Welt verschlungen und verdaut werden. Tatsächlich stehen wir seinem Ereignishorizont am nächsten, und es wird die Zeit kommen, wo wir es uns nicht mehr leisten können, uns in relativer Sicherheit zu wiegen, sondern wo wir auf die andere Seite hinüberwechseln müssen. Wenn dies geschieht, werden unsere relativ langsam tickenden Uhren sich mit den Uhren von all den anderen synchronisieren und sehr schnell die zuvor verlorene Zeit aufholen. Unsere Zeitrechnung mag sich verzögern, jedoch wird dies - letztendlich - überhaupt keinen Unterschied machen.
Wir standen alle in derselben Kassenschlange und stehen alle am selben Abgrund, lediglich durch ein paar Zeitvorteile voneinander getrennt. Ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen, selbst bei beschränktem physikalischen Wissen. Nur gibt es handfeste Interessen, die uns weismachen wollen, dass das schwarze Loch der Abgrund der anderen ist, nicht unserer. Wieso gerade die deutsche Politik diesen Trugschluss ihren Bürgern so nachhaltig einhämmert? Vielleicht war mir ja beim Vorankommen in der Kassenschlange die richtige Antwort herausgerutscht.