Bei manchen Themen hält man sich besser zurück. Bei mir ist das zum Beispiel die Physik, von der ich reichlich wenig Ahnung habe, erst recht von der Astrophysik.
Wobei ich mir durchaus ein gewisses Vulgärwissen angeeignet habe, nämlich durch das Anschauen des Disney-Filmes Das Schwarze Loch, wo, wenn ich mich recht erinnere, zwei Raumschiffe miteinander ringen, welches von beiden als erstes in das Loch reinfallen wird, woraus ich gelernt habe, dass der Aufenthalt in der Nähe eines schwarzen Loches von Übel ist, weil die Gravitationskraft unweigerlich dazu führt, dass das schwarze Loch mich verschlingt.
Daraus folgt, dass ich mich bei seriösen Fachgesprächen über schwarze Löcher besser zurückhalte - ein falsches Wort von mir, und der Diskurs würde mich ob meiner fehlenden Expertise mit Haut und Haar verschlingen, ich würde in ein bodenloses schwarzes Loch stürzen und könnte mich allenfalls noch durch geistesgegenwärtiges Ziehen des Badewannenstöpsels retten.
Andererseits gibt es Gespräche über schwarze Löcher, wo ich mich einfach nicht zurückhalten kann, dann nämlich, wenn ich den Eindruck habe, die Diskutierenden haben noch weniger Ahnung von schwarzen Löchern als ich. So ein Fall trat gestern in der Kassenschlange eines Supermarktes ein. Die Kassenschlange war endlos lang und alternativlos, es gab kein Entkommen - von daher einem schwarzen Loch nicht unähnlich -, und zwang mich zum Belauschen eines Gespräches hinter meinem Rücken.
Zwei Männer erörterten, während sie sich wartend auf ihre Einkaufswagen stützten, den Fall Griechenland und befanden, dieses Land sei ein schwarzes Loch, welches unersättlich jenes "sinnlose" Geld verschlucke, das von Deutschland hineingeworfen werde, um das Loch schlussendlich zu stopfen. Wie, Griechenland ein schwarzes Loch? Ich würde keinesfalls bestreiten, dass Griechenland sich in gefährlicher Nähe zu einem schwarzen Loch befindet, aber Griechenland selbst zu einem schwarzen Loch zu konstruieren, erschien mir gewagt und, an den astrophysikalischen Gesetzen der herrschenden Finanzkapitalthermik gemessen, völlig daneben.
Also drehte ich mich um und mischte mich ein. Griechenland, sagte ich, sei kein schwarzes Loch, sondern im Begriff, in ein schwarzes Loch gestoßen zu werden, und über kurz oder lang werde Deutschland mit seinem sinnlosen Geld im nämlichen dunklen Schlund verschwinden. Wieso Deutschland, fragte basserstaunt der eine Mann, warf sich in Siegerpose und fuhr fort: "Wenn wir(!) Deutschen wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt wären, wäre Griechenland schon lange im schwarzen Loch verschwunden!"
Deutsche Siegerrhetorik hat etwas Entwaffnendes, besonders wenn sie von Deutschen vorgetragen wird, die - erkennbar an ihrer Kleidung und dem Inhalt ihres Einkaufswagens - wirtschaftlich alles andere als gut aufgestellt sind. Aber gut. Der andere Mann befand, an meiner Theorie mit dem schwarzen Loch sei was dran, weshalb "die Deutschen" am besten "die Griechen" ins schwarze Loch stoßen sollten, "weil, dann wär' endlich Ruhe und Europa käme wieder voran".
Gottlob kam die Kassenschlange allmählich voran. Während ich schob, drehte ich mich erneut um und fragte den europabegeisterten Mann, was ihn so sicher mache, dass die Deutschen nicht alsbald den Griechen ins schwarze Loch folgen würden? Er lachte selbstbewusst und frohlockte: "Wer um alles in der Welt sollte Deutschland in das schwarze Loch stoßen wollen?". Ich klaubte meine Produkte auf das Laufband, holte tief Luft und erwiderte: "Na, Deutschland selber!", was mit zwei empört offenstehenden Mündern beantwortet wurde und mir die Gelegenheit gab nachzulegen: "Wär' ja nicht das erste Mal." Alsdann nahm die Kassen-checkout-Logistik ihren Lauf und das spontane Politgeplänkel ein Ende.
Fast hätte ich den Schnack in der Kassenschlange wieder vergessen. Doch fiel er mir heute früh wieder ein, als ich auf einen aufschlussreichen
Artikel stieß mit der Überschrift:
Warum einige Länder schneller in das schwarze Finanzloch fallen als andere.
Hey guten Morgen, schwarzes Loch!, dachte ich, und fing an zu lesen.
Dass wir in einer "Black Hole-Economy" leben, in der kontinuierlich Produktivkapital weggesaugt wird von spekulativen Finanzkapitalstrukturen, ist nichts Neues. Denn wir bewegen uns in einer ständigen Abwärtsspirale nach unten, solange wir nonstop unterwegs sind mit Konjunkturpaketen, Bailouts und der Monetisierung von Schuldverschreibungen, ohne irgendeine Chance, dass diese Kapitalströme genug Fließgeschwindigkeit erreichen, um jemals in der wirklichen Ökonomie anzukommen.
Ich konnte, selbst mit rudimentärem astrophysikalischem Knowhow, gut folgen und las weiter:
Indem wir rasant in das schwarze Loch des Ponzikapitalismus hinuntergleiten, enthüllt sich ein kritisches zeitliches Paradox: Je näher sich jemand am Ereignishorizont eines schwarzen Loches befindet, desto stärker greift die Schwerkraft an und desto mehr langsamer scheint die Zeit zu verlaufen.
Zugegeben, an der Stelle musste ich
nachschlagen, sonst wäre ich von der Terminologie überfordert gewesen; Disney-Filme sind einfach nur begrenzt horizonterweiternd, erst recht, was den
Ereignishorizont betrifft. Hilft aber weiter, das Nachschlagen, ich schwör's.
Der Artikel führt weiter aus, dass aufgrund des genannten Paradoxes derjenige (A), der in unmittelbarer Nähe zum schwarzen Loch steht, nicht unbedingt früher hineinfällt als derjenige in weiterer Entfernung (B); es aber fatal wäre für A, sich darum in trügerischer Sicherheit zu wiegen und in aller Gemütsruhe den B's beim Abstürzen zuzuschauen.
Man ahnt schon, wie der Artikel weitergeht. A repräsentiert die größten Volkswirtschaften dieser Welt mit den mächtigsten Finanzkapitalmärkten, während B jene Länder vertritt, die - nolens volens - mit dem globalen Finanzsystem verwoben sind. B steht also für Länder wie (ehemals) Island, Tunesien, Ägypten, Syrien bis hin zu Irland, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Während A einen langsamen, nicht völlig unkomfortabel erscheinenden Tod stirbt, sehen die Bevölkerungen der B-Länder dem tödlichen Höllenschlund eher heute als morgen ins Auge.
...die Uhren in Nordafrika, im Mittleren Osten, in Südasien und der europäischen Peripherie ticken wesentlich schneller, und jeden zweiten Tag in der Woche scheint in diesen Regionen eine neue Finanz- oder sozialpolitische "Krise" aufzubrechen. ...
Der Leidensdruck, den Tunesier, Ägypter, Libyer oder Griechen im Laufe eines Tages erleben, lässt sich vergleichen mit dem Leidensdruck, den Amerikaner, Kanadier, Briten oder Deutsche im Laufe eines Jahres oder noch länger erleben. Wir leiden alle aus denselben Gründen, denn wir sind alle ein Teil desselben Wirtschaftssystems und werden alle von dem schwarzen Schuldenloch verschlungen, aber das zeitliche Schisma erschwert es, dieses geteilte Schicksal zu erkennen. ...
Wir sollten uns daran erinnern, dass ein verlangsamter zeitlicher Rahmen keineswegs bedeutet, dass eine Wirtschaft sich erholt, - ja, noch nicht einmal, dass ihr Status quo erhalten bleibt.
Ich dachte an die Deutschen in der Kassenschlange; an ihre voyeuristische Lust beim Absturz Griechenlands ins schwarze Loch; an die trügerische Sicherheit, in der so viele Deutsche sich so gern wiegen; an das große schwarze Loch, das geduldig warten wird, bis die langsamer tickenden Uhren der A-Länder anfangen werden zu rasen.
Ich las zu Ende:
Unser zeitlicher Referenzrahmen mag sich mehr in die Länge ziehen, aber auch wir werden von dem schwarzen Finanzloch der globalen Welt verschlungen und verdaut werden. Tatsächlich stehen wir seinem Ereignishorizont am nächsten, und es wird die Zeit kommen, wo wir es uns nicht mehr leisten können, uns in relativer Sicherheit zu wiegen, sondern wo wir auf die andere Seite hinüberwechseln müssen. Wenn dies geschieht, werden unsere relativ langsam tickenden Uhren sich mit den Uhren von all den anderen synchronisieren und sehr schnell die zuvor verlorene Zeit aufholen. Unsere Zeitrechnung mag sich verzögern, jedoch wird dies - letztendlich - überhaupt keinen Unterschied machen.
Wir standen alle in derselben Kassenschlange und stehen alle am selben Abgrund, lediglich durch ein paar Zeitvorteile voneinander getrennt. Ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen, selbst bei beschränktem physikalischen Wissen. Nur gibt es handfeste Interessen, die uns weismachen wollen, dass das schwarze Loch der Abgrund der anderen ist, nicht unserer. Wieso gerade die deutsche Politik diesen Trugschluss ihren Bürgern so nachhaltig einhämmert? Vielleicht war mir ja beim Vorankommen in der Kassenschlange die richtige Antwort herausgerutscht.