Freitag, 17. August 2012

Geschichten aus Schichten


Neue Studie? Find' ich gut.

Neue Studie zur Befindlichkeit der Unterschicht? Find' ich besser.

Neue Studie, wieso es der Unterschicht besser geht als gemeinhin vermutet? Find' ich am besten.

Gemeinhin wird ja vermutet, der Unterschicht gehe es schlecht, der Mittelschicht gehe es besser, und der Oberschicht gehe es am besten. Alles Mythos. Alles falsch.

Lassen wir mal das Wohlbefinden der Oberschicht für einen Moment (später dazu mehr) außer Acht, dann lehrt uns die neue Studie, dass es nicht etwa der Unterschicht, sondern der Mittelschicht am schlechtesten geht. Jetzt weniger materiell als vielmehr seelisch gesehen.

Seelisch gesehen geht es der Mittelschicht sogar richtig dreckig. Das kommt daher, dass die Mittelschicht einen beinharten Abwehrkampf zu führen hat gegen drei sie existentiell bedrohende Gefahren: Erstens will sie nicht so sein wie die Unterschicht, zweitens will sie nicht so werden wie die Unterschicht, drittens - die härteste aller Abwehrfronten - tut sie alles, um nicht selbst Unterschicht zu werden. All diese Abwehrmaßnahmen kosten die Mittelschicht nicht nur viel Zeit und Geld, sondern verzehren - was dem Wohlbefinden am abträglichsten ist - Unmengen seelischer Energie.

Das Interessante, wenn auch wenig Überraschende an der neuen Studie ist, dass dieser desolate Seelenzustand nicht etwa der Selbstauskunft der Mittelschicht zu entnehmen ist, sondern den Aussagen der Unterschicht über die Mittelschicht. Wenig überraschend insofern, als diese Zuschreibungen aus jenen Teilen der Unterschicht stammen, die sich früher einmal selbst der Mittelschicht zugehörig fühlten und von diesem heimeligen Zugehörigkeitsgefühl ein für allemal verabschiedet haben.

Trotz der vielen Herausforderungen, mit denen sich Niedrigverdiener konfrontiert sehen - so das zentrale Ergebnis der Studie -, äußern letztere ein Gefühl der Erleichterung, ja
... Dankbarkeit darüber, dass es ihnen erspart bliebe, die Härten und das Elend der überduldsamen Mittelschicht ertragen zu müssen.
Das Kernergebnis der Studie wird zum einen untermauert mit der Feststellung:
Dem Bericht zufolge sind die 46 Millionen unterhalb der Armutsgrenze lebenden Amerikaner - obwohl sie schwer zu kämpfen haben - letztlich gottfroh darüber, dass sie nicht mehr den Erwartungen eines sich rapide in Luft auflösenden 'american dream' entsprechen müssen; also aufgehört haben zu träumen von Karriereaufstiegen, von immer mehr Geldverdienen, von einer Verbesserung ihres Lebensstiles, so wie es ihre Mittelschichts-Gegenspieler nach wie vor tun.
- zum andern (da es sich um eine Studie mit qualitativer Forschungsmethodik handelt) mit zahlreichen O-Tönen aus der desillusionierten Unterschicht, die belegen, dass ein Leben, das um eine typische Mittelschichtsillusion ärmer geworden ist, durchaus seine bereichernden Aspekte haben kann.
"Die realitätsfremden Erwartungen und falschen Hoffnungen, die sie mit sich herumschleppen, müssen unerträglich sein," sagt eine Hotelbedienstete den Forschern und merkt an, zwar reiche ihr Gehalt kaum, um die monatlichen Kosten für Miete und Lebensmittel zu decken, aber wenigstens arbeite sie nicht unter der fehlerhaften Prämisse, ihre Situation würde sich jemals verbessern. "Sein Leben lang sich unaufhörlich zu stressen mit einem Sackgassen-Job, oder sich krummzulegen wegen einer 30-Jahre-Hypothek für ein Reihenhaus mit drei Schlafzimmern, das kontinuierlich an Wert verliert? Ist ja der Horror. Können Sie sich vorstellen, so leben zu müssen? Diese Leute tun mir leid."
Ein Aushilfslehrer, der mit seiner Frau und einem zweijährigen Sohn auf der Basis von Lebensmittelmarken überlebt, wird deutlicher:
"Für mich schwer zu verstehen, wie jemand sich halbtot arbeitet für eine Beförderung unter der Illusion, es jemals nach oben zu schaffen. Die Leute verschwenden damit die besten Jahre ihres Lebens, eine gottverdammte Tragödie."
Am drastischsten drückt es eine 31-jährige Kellnerin und alleinerziehende Mutter von drei Kindern aus:
"Was für eine traumatische Erfahrung, erwachsen zu werden und sich wie ein Versager zu fühlen, nur weil sie sich einbilden, sie hätten Kontrolle über das, was sie im Leben erreichen können. Ich kann nur hoffen und beten, dass meine Familie sich niemals in diesem Teufelskreis aus Enttäuschungen verheddert, der unserer Mittelschicht derart zu schaffen macht."

Das stärkste Gefühl von Erleichtertsein, so die Forscher bei der Präsentation ihrer Studie, komme aus jenen Reihen der Unterschicht, die über eine nachhaltige Mittelschichtserfahrung verfügten, den sozioökonomischen Abstieg vollzogen hätten und sich nunmehr am unteren Ende der Einkommensskala befänden. Ein 42-jähriger ehemaliger IT-Techniker, der letzten April seinen Job und infolgedessen sein Haus verloren hat, bringt es auf den Punkt:
"Ehrlich, Sie glauben gar nicht, um wieviel besser ich mich heutzutage fühle: einfach zu wissen, dass ich mich nicht länger abstrampele für etwas, was komplett und absolut außer Reichweite ist, ist für mich eine unglaubliche Entlastung. Ich bin arm und werde arm bleiben, das hat etwas Befreiendes."
Alles in allem eine Studie mit gewissem Zündstoff, so viel steht fest.

Zur vorsorglichen Entschärfung und um die lebenserfahrene, wenn auch etwas vorlaute Unterschicht ein wenig aus der Schusslinie zu nehmen, holten sich die Forscher zusätzliches wissenschaftliches Back up bei einer Kontrollgruppe: Eine Parallelbefragung bei Angehörigen der Oberschicht scheint die seitens der Unterschicht geäußerten Befunde bezüglich der Mittelschicht zu bestätigen. Die befragte Kontrollgruppe legte noch eine Schicht oder vielmehr Schippe drauf, indem sie sich nicht scheute, quasi als Resonanzraum der Unterschicht aufzutreten:
Einige Angehörige der Oberschicht gaben kund, sie "empfänden gleichermaßen Dankbarkeit, dass ihnen die Härten der Mittelschicht erspart geblieben seien."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen