Mittwoch, 22. August 2012

Die Kunst, eine Artischocke zu entblättern


... besteht darin, das Gemüse lange genug weichzukochen, sonst bleibt das Fruchtfleisch zäh und faserig; aber auch nicht zu lange, sonst wird es breiig und schleimig. Die perfekt gekochte Artischocke ist von seidig-cremiger Konsistenz, schmeckt schön zart und zergeht dem Feinschmecker auf der Zunge.

Den richtigen Zeitpunkt des optimalen Genusses - also die perfekte Garzeit - bemisst der Kenner daran, dass die Artischocke als Ganzes (noch) gut zusammenhält - also nicht zerfällt -, aber die äußeren grünen Blätter sich leicht und ohne Widerstand vom Strunk lösen lassen. Der Schlaraffe steckt dann jedes dieser Blätter in den Mund, schabt den leicht süß schmeckenden, delikaten - also den fleischigen - Teil mit den Zähnen aus dem Blatt und schmeißt den Rest der hartfaserigen, ungenießbaren Schale weg.

Je näher der Genießer dem Kern der Artischocke kommt, desto zarter und wohlschmeckender werden die Blätter; bei der perfekt weichgekochten Artischocke sind die inneren Blättchen zart genug, um im Ganzen verzehrt zu werden.
"Wenn Griechenland den Euro verlässt, könnten wir die nächsten sein. Weil die Eurozone wie eine Artischocke ist. Früher oder später werden die Blätter abgeschnitten."
"Abgeschnitten" ist natürlich nicht ganz korrekt (siehe oben), denn wenn die Blätter sich leicht und widerstandslos vom Strunk lösen lassen, erübrigt sich ein martialisches Abschneiden, weil es ja dann fast wie von selbst geht - alles eine Frage des richtigen Zeitpunktes. Ansonsten scheint die Artischocke eine perfekte Metapher* zu sein, aber natürlich nur, solange sie perfekt weichgekocht ist.

Die wahren Connaisseure und Artischockenblätter-Aussauger (sagen wir mal, Investoren aller Art) wissen selbstverständlich, dass das Beste, das Filetstück - also der Kern - der Artischocke ganz am Schluss kommt, weshalb das genussvolle Leerkauen und Wegschmeißen der ausgelutschten Blätter mit einer lukullischen Vorlust vergleichbar ist; wohlwissend, dass das äußerst schmackhafte Innere, das von Blättern geschützte Artischockenherz, erst dann unversehrt zum Vorschein kommt, wenn alle äußeren Blätter ausgesaugt und weggeschmissen wurden.

Darum lässt der wahre Kenner sich mit dem Entblättern der Artischocke viel Zeit. Zeit, in der ihm das Wasser im Munde zusammenläuft und er sich auf den kulinarischen Höhepunkt freut.

Eat slowly and enjoy.


*nach ihr gegriffen hat der ehemalige italienische Ministerpräsident Giuliano Amato, via Keep Talking Greece)

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