Sonntag, 2. Dezember 2012
Euro-Vision
Nicht jeder, der Visionen hat, muss zum Arzt gehen. Visionen sind was ganz Normales.
Merkel zum Beispiel hat die Vision, nächstes Jahr wiedergewählt zu werden, und keiner schickt sie deswegen zum Arzt, auch nicht, wenn sie - wie gestern - verdreht Visionäres von sich gibt wie "Ich werde weiter das tun, was für Deutschland und Europa am besten ist" und dies als "deutsche Solidarität" bezeichnet, was einerseits von fortgeschrittener Verwirrtheit zeugt, andererseits noch lange kein Grund sein muss, sich in Behandlung zu begeben, solange die sich überlagernden Visionen eine Konsistenz und der galoppierende Wahnsinn Methode aufweisen, was an der fortgesetzt visionären Drohgebärde, Europa auf Biegen und Brechen zusammenhalten - neudeutsch: "integrieren" - zu wollen, unschwer abzulesen ist, wobei das "auf Biegen und Brechen" insofern keinen behandlungsbedürftigen Realitätsverlust darstellt, als das europäische Gebälk sich längst ächzend biegt und, wo noch keine Brüche, so doch tiefe Risse in ihm zutage treten, was jedoch den wahren Eurovisionär nicht erschüttern, geschweige denn in die Hände des nächstbesten niedergelassenen Arztes treiben kann.
Leise rieselt und bröckelt es derweil an der einzigen und wahren Eurovisionsfront, nämlich der des alljährlichen European Song Contest™: Ein Land nach dem anderen bricht von der völkerverbindenden Megaträllerei weg - nach Portugal haben jetzt Griechenland und Zypern ihre Teilnahme für nächstes Jahr abgesagt. Begründung: leere Kassen. Kein Geld, weder für Brot noch für Spiele. Was, wenn das so weitergeht? Wenn Spanien, Italien und Irland sich von der großen eurovisionären Sause verabschieden? Wann wird - der Logik des voranschreitenden europäischen Pleitegeiers folgend - Frankreich aussteigen? Einfacher gefragt: Welches Land wird irgendwann - rein eurovisionstechnisch gesehen - übrig bleiben?
Nicht auszudenken!
Etwa jenes Land, das sich vor 30 Jahren mit schlichter Poesie sowie noch schlichterer, gemäß deutschem Reinheitsgebot völlig groovebefreiter Melodie und Rhythmik in die europäischen Herzen tremolierte? Warum nicht? Warum nicht nochmal? Was spricht gegen ein publikumswirksames, kostengünstiges Remake - etwa so: Deutschland zeigt allen anderen, wie man sparen und gewinnen kann bei weitgehend ausgeschalteter Konkurrenz; man nehme also "Ein bisschen Frieden", frische den betagten Song mit ein bisschen poppiger Freude und Eierkuchen auf (nicht allzu sehr, soll ja erkennbar deutsches Liedgut bleiben), stelle Merkel ans deutschsolidarische Mischpult, lasse großzügig alle nichtdeutschen Europäer zugucken (ohne Stimmrecht, versteht sich) und mitklatschen (auf die '1', auf was sonst) und betone, dass das bisschen Frieden Ihnen präsentiert wurde von der Europäischen Union, die ja nicht umsonst "für über sechs Jahrzehnte, die zur Entwicklung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beitrugen", den diesjährigen Friedensnobelpreis erhalten hat und stolz verkünden darf: Deutschland - 12 Punkte! Und jetzt alle.
Visionen halt. Und kein Arzt weit und breit.
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Echt jetzt? Das darf nicht sein! Kann man die Spar-Loser nicht per Troika-Dekret zum Auftritt zwingen und für sie eine Extra-Schuldensünderbühne einführen? Das wäre doch das passende Signal, um die derzeit herrschende europäische Gemeinschaft zu versinnbildlichen.
AntwortenLöschenOkay, eine Vision, die mir gefallen würde, wäre: eine Gegenveranstaltung im Netz mit allen Ländern und sogar mit richtig guter Musik!
Genialer Einfall! Die Spar-Loser dürfen nicht mitsingen, nein, sie müssen, ob es ihnen passt oder nicht, und weil sie dürfen müssen, dürfen sie fürs Mitsingen auch bluten, äh, zahlen, denn irgendwie muss der teure Glamour der Euro-Visions-Eintracht sich ja verzinsen, schließlich will der Veranstalter ordentlich was verdienen.
LöschenDas mit der Gegenveranstaltung wär' der Hammer: Kaputtgesparte aller Euroländer, vereinigt euch und lasst es richtig krachen, musikalisch und überhaupt!
Kaputtgesparte aller Euroländer, vereinigt euch und lasst es richtig krachen, musikalisch und überhaupt!
LöschenSehr spritzig formuliert :) Es wird uns keine Wahl gelassen, wir müssen selbst Alternativen entwickeln. Ansonsten steht uns eine sehr, sehr düstere Zeit bevor.
Ein musikalisches Beispiel aus besseren Zeiten, wie es funktionieren könnte:
http://www.youtube.com/watch?v=FKuFpw6b5qI
und die Geschichte dazu:
http://www.orchestradipiazzavittorio.it/?page_id=11&lang=en
Der Wahnsinn!
LöschenItalien: 100 Punkte!
Yeah :)!
Zur Besorgnis besteht keinerlei Anlass. Denn immerhin hat Frau Merkel noch eine Vision und beschränkt sich nicht nur aufs unmittelbare Reagieren. Denn keine Entscheidung ist so schlecht wie keine Entscheidung - so lernt man es allenthalben in den Seminaren "Management für Schwererziehbare". Und Manager haben immer recht, das wurde uns in den letzten Jahren eindrucksvoll demonstriert.
AntwortenLöschenUnd was das alljährliche Trauergeträller mit integrierter Busenshow betrifft: Vorerst droht kein Mangel an Teilnehmern, so lange sich dort noch so ur-europäische Länder wie Aserbaidschan und Israel um die Teilnahme reißen...
„Denn immerhin hat Frau Merkel noch eine Vision...“, sag ich doch, sie visioniert das für sie Wesentliche, nämlich 1. die (unter großzügiger Vernachlässigung verarmender europäischer Völker) Rettung des europäischen ‚Projektes‘ sowie 2. die Rettung ihres eigenen Hinterns, wobei sich die Reihenfolge ab ca. Anfang 2013 merkelich umdrehen wird.
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