Freitag, 30. September 2011

#OccupyWallStreetJournal


"Occupy what?", lautete, in aller Unschuld, gestern meine Frage. Heute mache ich einfach da weiter, wo ich gestern aufgehört hatte:
"Vielleicht kommt ja demnächst etwas Handfestes im Wall Street Journal."
- und, Yes men!, seit heute steht fest: Mit Sicherheit kommt demnächst etwas im Wall Street Journal, und die Frage Occupy what? -


- hat spätestens seit heute ihre Unschuld verloren.

Seit heute nämlich gibt es eine grandiose Spendensammelaktion:
"Occupy Wall Street ist der Anfang einer ganz neuen Art von Demokratie: eine von-unten-nach-oben Demokratie, angeführt von den 99 Prozent - eine kühne Phantasie für die Zukunft, die beginnt die Nation zu inspirieren. Um das durchzuziehen, brauchen wir ein bodenständiges Medium (people's media), das an keinerlei Geld aus der Wirtschaft gebunden ist. Wenn wir eine Demokratie für alle wollen, müssen wir Medien für alle aufbauen - beides ist nicht voneinander zu trennen."
Und jetzt kommt's:
"Unser erstes Projekt ist 'The Occupy Wall Street Journal', eine vierseitige, großformatige Zeitung mit einer Auflage von 50.000 für das breite Publikum. Die Idee dahinter ist, sowohl zu erklären, was es mit dem Protest auf sich hat, als auch Menschen zu porträtieren, die mitmachen und aus welchen Gründen sie mitmachen. Wir werden erklären, wie der 'general assembly'-Prozess auf Liberty Plaza funktioniert ... Unser Schwerpunkt wird auf Qualitätsinhalt liegen, auf Fotografie und Illustration, alles mit messerscharfem Humor gewürzt, damit das Lesen Spass macht."
Sobald sie 12.000 Dollar Spendengelder zusammen haben, wollen sie loslegen mit der Produktion des The Occupy Wall Street Journal. Heute ist der erste Tag der Aktion, die bis zum 9. Oktober laufen wird.
"Bitte spendet weiter! Wir haben keine Milliarden wie FOX News (rechtsgerichteter amerikanischer Nachrichtensender) und werden auch nicht von den Koch Brothers (u.a. Sponsoren der Tea Party Bewegung) finanziert. Wir haben nur EUCH! Je mehr Geld wir bekommen, desto mehr Zeitungen, Poster, Sticker und Flyer können wir drucken, um den 99 Prozent der Amerikaner eine Stimme zu geben. Bitte spendet weiter und sagt es euren Freunden, Familien und Kollegen weiter!"
Seit einer Stunde checke ich die Seite - das Geld tropft im Sekundentakt ins Sammelsparschwein; vor einer Stunde waren es 356 Spender, inzwischen sind es über 430; die Spendensumme beläuft sich aktuell auf 16.928 Dollar. Zielvorgabe bereits am ersten Tag klar erreicht - es kann losgehen.

Wer sind 'sie'? Sie, das sind The Yes Men: Eine Gruppe politischer, mit viel bösem Humor gesegneter Aktivisten, die sich mit der professionellen Verarschung von politischen und wirtschaftlichen Führungsfiguren einen Namen gemacht haben, und zwar speziell solchen Führungsfiguren, die sich mit ihrer Profitgier einen Namen gemacht haben*:
"Wir imitieren berühmt-berüchtigte Kriminelle mit dem Ziel, sie öffentlich zu beschämen. Unsere Zielscheiben sind Führungsfiguren und Großkonzerne, denen Profite wichtiger als alles andere ist."
The Yes Men betonen, dass es sich bei The Occupy Wall Street Journal um ein seriöses, funktionales Zeitungsprojekt handeln wird. Ich fange in den nächsten Tagen schon mal an, meine Moneten zusammenzukratzen: Ab 40 Dollar Spendenbeitrag gibt's nämlich ein Abo.


*(prominentes Beispiel: Nachrichtenagentur AP fällt auf Yes Men's Verhohnepiepelung von General Electrics herein)

Donnerstag, 29. September 2011

Occupy what?


Es ist immer wieder interessant zu verfolgen, nach welchem Schema die Medien auf Protestbewegungen reagieren. Am aktuellen Beispiel #occupywallstreet lässt sich das gut aufzeigen:

In den ersten Tagen wurde der Protest einfach totgeschwiegen. Er existierte nicht - selbst in 'lokalen' Tageszeitungen wie der New York Times, vor deren Haustür praktisch der Protest stattfand.

Als sich nach ein paar Tagen herausstellte, dass die Wallstreet-Besetzer von zähem Naturell sind und keinerlei Anzeichen der Protestermüdung zeigten (heute sind sie bereits seit zwölf Tagen dabei), kam allmählich, wenn auch schwerfällig, die Berichterstattung der großen Medien-Tanker ins Rollen; wobei 'Berichterstattung' ein großes Wort ist für das, was berichtet wurde: Beißender Hohn und Spott ergoss sich über die paar Hundert, überwiegend junger Indignados in Downtown Manhattan.

Speziell Medien mit linksliberalem Aushängeschild und 'aufklärerischem' Anspruch übertrumpften sich gegenseitig in abfällig naserümpfenden Reportagen über das, was sich auf Wall Street abspielte: eine Freakshow durchgeknallter, unreifer Hippies - mehr nicht. Keinesfalls ernstzunehmen. Während die konservativen und eher rechtsgerichteten Medien - erwartbar - in hassgetränkter Ungeziefer-Rhetorik schwelgten, machte die andere Seite sich einen Sport daraus, die Protestbewegung auf zynische Karikaturen (in Text und Bild) zu verstümmeln und sich kollektiv darüber lustig zu machen.

Seit ein paar Tagen hat sich das Blatt der Berichterstattung erneut gewendet. Nachdem es zu schweren Übergriffen der New Yorker Polizei gegenüber den Demonstranten gekommen war, wird jetzt berichtet, was das Zeug hält. Worüber? Über die Übergriffe der Polizei. Because violence sells - Gewalt verkauft sich gut.


Was der linksliberale Fernsehsender MSBNC hier zeigt, ist eine ausgezeichnete Zusammenfassung der jüngsten, auf Video dokumentierten Ausschreitungen der Polizei. Einerseits.

Andererseits fällt in den knapp zehn Minuten Sendezeit kein einziges Wort über das, worum es bei #occupywallstreet tatsächlich geht:
kein Wort über den hohen Grad an Selbstorganisation;
kein Wort über die aus der Not (Verbot von Megaphonen und Mikrofonen) geborenen Kommunikationstechniken (Chanting);
kein Wort über die täglich stattfindenden General Assemblies, wo politische Forderungen und Strategien diskutiert werden;
kein Wort über die zähe Ausdauer der Protestierenden, die unter widrigen Umständen (Verbot von Zelten, Schlafsäcken, Regenplanen und -schirmen) ihre Kritik artikulieren an dem, was "eigentlich" alle kritisieren, aber eben nicht artikulieren: die Kritik und der Überdruss an einem korrupten System.

Gestern nun ist die New York Times in eine neue Phase der Protest-Berichterstattung getreten: Da sich ja nicht länger leugnen lässt, dass rund um den Globus Bewegungen entstehen, die für mehr Demokratie, mehr Transparenz und gegen Korruption kämpfen, widmet sich die Zeitung ausführlich den Protesten in Griechenland, Spanien, Ägypten, Indien, Israel und anderen Ländern. Offenbar sind der NYT die Berichte, die über die Auslandsredaktionen hereinkommen, relevanter als das, was im eigenen Hinterhof passiert: kein Wort über #occupywallstreet.

Vielleicht kommt ja demnächst etwas Handfestes im Wall Street Journal.


Mittwoch, 28. September 2011

Tintenklemme


Alle reden von peak oil, nur die Griechen nicht. Wovon reden die Griechen? Von Tinte. Vielmehr von deren akuter Verknappung. Weshalb in Griechenland ein neues Schlagwort die Runde macht:
peak ink, auf deutsch: Den Griechen geht die Tinte aus. Nicht allen Griechen, sondern nur den Finanzbeamten unter ihnen, was jedoch fast alle Griechen betrifft, denn:
"...eine Verknappung an Tinte hat die Steuerbehörde im Finanzministerium daran gehindert, während der letzten zehn Tage den steuerpflichtigen Bürgern eine Aufforderung zur Abgabe ihrer Steuererklärungen zu schicken."
Unerwähnt blieb, ob die EZB oder der IMF demnächst eine Extra-Kredittranche für Tinte springen lassen wird. Gerüchten zufolge wird jedoch im griechischen Parlament bereits eine neue Sparmaßnahme diskutiert, nämlich die Erhebung einer neuen - ich glaube, es ist mittlerweile die siebenhundertdreiundneunzigste - Steuer: die Tintensteuer. Damit endlich wieder Tinte fließt und mit der Tinte die Steuereinnahmen des griechischen Staates. Nur, wie soll die Tintensteuer bezahlt werden, wenn keine Tinte zur Tintensteuerzahlungsaufforderung da ist?

Vom Finanzministerium, heißt es in der Meldung, sei bislang noch keine öffentliche Stellungnahme erfolgt. Was ja irgendwie kein Wunder ist, wenn denen die Tinte ausgegangen ist. Fast fragt man sich, wieso Griechenland in der Tinte sitzt, wo es doch gar keine hat.

Jedenfalls wird, bis auf weiteres, wer keine Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung erhält, natürlich auch keine Steuererklärung abgeben. Täte ich auch nicht. Wär' ich ja blöd. Leider Gottes ist den deutschen Steuerbehörden die Tinte noch nicht ausgegangen, denn vor mir liegt eine tintengedruckte Aufforderung zur Abgabe meiner Steuererklärung, die auf dem besten Weg ist, mir die Abendlaune zu versauen. Jetzt könnte ich mir natürlich lauter raffinierte Ausreden einfallen lassen, zum Beispiel: Hören Sie, mein Hund hat meine Steuererklärung gefressen! Was aber unklug wäre, denn dann würde auf dem Fuße die Aufforderung zur Bezahlung einer Hundesteuer erfolgen.

Ich hab's. Ich werde morgen bei denen anrufen und sagen, dass mir die Tinte ausgegangen ist. Sparmaßnahme, Sie verstehen?

Und damit zurück zur schlechten Laune.

Dienstag, 27. September 2011

Wenn Polizisten protestieren


Syntagma Square, Athen, 27. September
(aufgenommen vor ein paar Minuten)

Der Platz füllt sich von Stunde zu Stunde. Keep Talking Greece bloggt live (auf Englisch).
"Bürger aller Alters- und sozialen Gruppen haben sich vor dem griechischen Parlament versammelt."
Darunter viele Polizisten. Was an sich noch keine besonders erregende Nachricht ist - jedoch, es gab auf der einen Seite protestierende griechische Polizisten, und auf der anderen Seite Polizisten im Dienst:
"Protesting police officers are surrounded by ... working riot policemen!"
was man ja nicht alle Tage erleben darf. Die protestierenden Polizisten trugen Transparente mit der Aufschrift: "Wir sind illegale Immigranten in unserem eigenen Land", und die arbeitenden Polizisten, was taten die? Ich traue meinen Augen nicht:
"Riot police tried to protest the protesting policemen..."
schreibt KTG, ein Sachverhalt, den ich mir nur so erklären kann, dass die diensthabenden Polizisten sauer auf die protestierenden Polizisten sind, eben weil die sich eine Protest-Auszeit nehmen, während die anderen Dienst schieben müssen. Müssen? Hätten sie halt auch protestiert!

Protestierende Polizisten
und gegen protestierende Polizisten
protestierende Polizisten

(Kann aber auch sein, dass KTG sich vertippt und statt "protest" gemeint hat: "protect".)

Um was ging es auf Syntagma Square?

Im Parlament tagten Ministerpräsident Papandreou und Angela Merkel. Auf der abschließenden Pressekonferenz ließ Merkel verlauten, sie wünsche ein starkes Griechenland innerhalb der Eurozone, was von KTG so wiedergegeben wird:
"Merkel said, she wants a strong Greece within the eurozone
(preferably without...Greeks!)"
Schöner kann man es nicht sagen.

Zugedröhnt am frühen Morgen


Vor einer knappen halben Stunde wurde ich auf beunruhigende Weise damit konfrontiert, dass ich zu einer Risikogruppe gehöre: Internetsüchtige!, lautete die frühmorgendliche Dröhnung aus dem Radio. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung zeigte sich schrill "alarmiert", möchte darum "die Internetsucht zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen" und stieß handfeste Drohungen aus: "Diese Art der Abhängigkeit braucht viel öffentliche Aufmerksamkeit."

Rette sich, wer kann. Wenn etwas meine "physische und seelische Gesundheit", mag sie noch so suchtgefährdet sein, ruiniert, dann ist sind es übergroße Dosen öffentlicher Aufmerksamkeit. Man darf sich in den nächsten Tagen auf viel Geschrei und Gekeife gefasst machen; ich habe mir vorsorglich schon mal eine Woche lang strengste Rundfunk-Abstinenz verordnet.

Warum lassen die mir nicht einfach meine Ruhe? Eben drum:
"Diese Art der Abhängigkeit braucht viel öffentliche Aufmerksamkeit, sonst droht sie eine stille Sucht zu werden."
Meine Ruh' ist hin. Die Dramatisierung nimmt ihren Lauf und wird verlässlich in öffentliche Hysterie münden. An den Pranger gehört sie, die Sucht, nicht ins verschwiegene Kämmerlein, denn dort "fallen sie erst einmal nicht auf", die Internetsüchtigen. Und damit die Online-Junkies auch gleich wissen, in welch gefährlicher Nachbarschaft ihr Risikoverhalten anzusiedeln ist, deliriert die Drogenexpertin mit ganz großer Keule:
"Während Koma-Säufer in der Notaufnahme und in den Schlagzeilen landen, können krankhafte Online-Nutzer lange unentdeckt bleiben."
Oh Schreck. Vorbei die Zeit, wo ich mich - sozial unauffällig - dem surfenden Koma-Saufen hingeben konnte. Die fürsorgliche Drogenbeauftragte will, dass ich in der Notaufnahme der öffentlichen Schlagzeilen lande. Harter alarmistischer Entzug droht.

Da hilft nur eins: mit heraufgesetzter Dosis gegensteuern. Radio aus. Computer an. Doppelte Dröhnung setzen. Komatös in den Tag starten. Heimlich. Unentdeckt. Solange es noch geht.

Montag, 26. September 2011

Solidaritätszwickmühle


Mit der Solidarität ist das so eine Sache. Manchmal weiß man nicht, wohin damit. Solidarität mit Niedriglöhnern? Ja, selbstverständlich. Gemeinsam kämpfen gegen Löhne, die allenfalls eine Existenz unterhalb der Armutsgrenze erlauben? Natürlich, was denn sonst! Nieder mit der Ausbeutung durch Staat und Privatwirtschaft? Sag' ich doch. Keine Kürzung von Gehältern, von denen jetzt schon keiner leben kann? Mit meiner Solidarität ist zu rechnen.

Nur, wie gesagt, manchmal wird's schwierig mit der Solidarität. Schwierig wird's immer dann, wenn es ambivalent wird. Wie zum Beispiel heute früh um 5:30 Uhr in Athen. Da kletterte eine Gruppe von 50 Protestierern auf den Lycabettus Hill mitten in der Stadt, um dort gut sichtbar und öffentlichkeitswirksam ein riesiges Transparent anzubringen:


Ich finde, das sieht kolossal gut aus. Auf dem Transparent, 25 Meter lang und fünf Meter breit - haut optisch richtig rein! - steht: "Zahltag ist Trauertag". Wieso Trauertag? Weil es im Rahmen von drastischen Sparmaßnahmen drastische Gehaltskürzungen zu betrauern gilt. Viele der Protestierenden hatten letzten Monat gerade mal 500 Euro Gehalt in der Tasche. Ja, da ballt sich doch bereits die Faust der Solidarität in meiner Tasche!

Nur, jetzt weiß die Faust nicht so recht, ob sie rauskommen oder doch lieber in der Tasche steckenbleiben und sich wieder entballen sollte. Weil es sich nämlich bei den protestierenden Niedriglöhnern um die griechische Polizei handelt. Das sind die, die bei den protestierenden Niedriglöhnern, arbeits- und perspektivlosen Massen der griechischen Indignados in Syntagma Square unlängst so richtig hart draufgehauen haben (in diesem Blog wurde ausführlich berichtet). Denen es jetzt stinkt, dass sie für diesen Job und andere undankbaren, nicht minder staatserhaltenden Aufgaben künftig noch weniger Geld bekommen sollen:
"Unsere Löhne stehen in keinem Verhältnis zu unseren Arbeitsbedingungen",
ließ der Polizeipräsident Basil Doumas (Professional Guardians of Attica) wissen. Und da abzusehen ist, dass die Arbeitsbedingungen der Polizei in Syntagma Square künftig wohl kaum leichter, sondern eher schwieriger werden dürften (schließlich sind die Indignados von den Sparmaßnahmen genauso betroffen und schon wieder am Protestieren und die Polizei schon wieder am Prügeln), ist es durchaus nachvollziehbar, dass die malochenden Ordnungshüter mehr Geld haben wollen. Übrigens will zu diesem Zweck die griechische Polizei am morgigen Dienstag um 18 Uhr in Syntagma Square protestieren.

Finde ich auch kolossal gut. Weil, in der Zeit, in der die Polizei gegen schlechte Bezahlung demonstriert, kann sie schon mal keine protestierenden Indignados verprügeln. Interessant ist auch die Analogie in den Protestslogans:
"Je massiver die Sparmaßnahmen, desto massiver wird unser Protest sein",
tat der Polizeipräsident kund und befindet sich damit exakt auf Augenhöhe mit den Slogans der, äh, Gegenseite, also der Indignados, wobei ich jetzt ganz durcheinander komme mit meiner Faust und meinem Solidarisierungsbedürfnis und überhaupt. Jedenfalls - sollten die unzufriedenen Polizisten jetzt auf die Idee kommen, sich mit den unzufriedenen Indignados zu solidarisieren, wäre ich auf der Stelle und uneingeschränkt bereit, mich mit den Polizisten zu solidarisieren.

Was allerdings voraussetzen würde, dass die Polizisten weiterhin schlecht bezahlt werden. Weil, andernfalls würden sie sich ja nicht mit den Indignados solidarisieren, sondern diese für gutes Geld...klar, was ich meine?

Ach, wenn das Leben nur nicht so ambivalent wäre.

Trotzdem muss ich sagen, das Ganze sieht einfach kolossal gut aus:



Sonntag, 25. September 2011

September Early Morning Groove


Mista President,
are you listening,
Mista President?
Open your ears
ears...ears...ears...


by missdeinas Matina Sou Pw,
Athen, Griechenland

Kurz war die Nacht.
Kraftvoll in den frühen Morgen.
Stay strong, people of Greece!

Samstag, 24. September 2011

Kollapsnik


Wie schräg muss jemand sein, der sich seit sieben Jahren mit dem gesellschaftlichen Zusammenbruch beschäftigt, unermüdlich darüber schreibt und obendrein noch unter dem Nickname "Kollapsnik" firmiert? Man ist versucht, sich einen alarmistischen Schreihals vorzustellen, einen, der missionarisch unterwegs ist mit dem aufgepumpten Ego eines Propheten der Apokalypse und der damit gehörig auf die Nerven gehen kann.

Im wirklichen Leben ist Kollapsnik ein ruhiger, besonnener Mann mit bescheidenem Auftreten. Er heißt Dmitri Orlov, ist Russe, hat den Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion erlebt und erlebt jetzt den sich anbahnenden Zusammenbruch Amerikas. Nicht den kommenden, sondern den im Hier und Heute bereits stattfindenden Zusammenbruch Amerikas. Darüber schreibt er, darüber spricht er:



Dmitris Blog - Club Orlov - hat mich über die Jahre in dem Maß bereichert, als mein Leben (im materiellen Sinne) verarmte. Zwar gehöre ich zu den Menschen, denen Clubs, Clans und Cliquen samt dem dazugehörigen Verhalten zuwider ist - aber im Club Orlov fühle ich mich wohl wie der Fisch im Wasser. Wobei die von Dmitri vertretene Strategie Simplify your life noch das Wenigste ist, was ich von ihm gelernt habe; denn das eigene Leben zu vereinfachen, die Standards herunterzuschrauben und mit weniger besser klarzukommen als früher mit mehr - ich denke, das lernt jeder von ganz allein, wenn ihm schlicht die Mittel zu einem aufwendigeren Leben fehlen.

Was ich Dmitri 'Kollapsnik' Orlov vielmehr verdanke, ist, dass er mir mental auf die Sprünge geholfen hat: über den Tellerrand der persönlichen Armut hinauszuschauen auf die Verarmung der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Eine Verarmung, die in Zeiten eines wirtschaftlichen, ökonomischen, kommerziellen, sozialen und kulturellen Kollapses bittere Früchte trägt, von denen kein Mensch satt wird.

Um sein eigenes Leben zu vereinfachen, hat Dmitri quasi die Brücken zum kollabierenden 'zivilisatorischen' Festland abgebrochen, sich ein altes Segelboot gekauft, es eigenhändig ausgebaut (er ist Ingenieur), sich darin häuslich niedergelassen und sich so von vielem unabhängig gemacht, was das sogenannte zivilisatorische Leben beschwerlich und kostspielig macht. Im Video erzählt er von sich, seinem Boot, seinem Leben, seinem Blog, seinen Mitmenschen und seiner Sicht auf den fortschreitenden Kollaps.

Er tut das ganz unaufgeregt und vermeidet alles sensationell Klingende. Vielleicht höre ich ihm deshalb so gern zu: Es gibt so wenige Menschen, die Wichtiges zu sagen haben, ohne sich dabei zu produzieren und zu inszenieren. Dmitris Gedanken nisten sich in mir ein und pflanzen sich fort - weil er sie einfach mitteilt und teilt, ohne eine Bugwelle der Eigenprofilierung vor sich herzuschieben.
Ich mag das.

Ein paar seiner Gedanken:
Der einzige Unterschied zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Kollaps ist, dass der sowjetische zuerst stattgefunden hat.

Die Idee, Erfolg bestünde darin, immer mehr zu arbeiten, um immer weniger dafür zu bekommen, gehört auf den Kopf gestellt. Die Leute sollten weniger arbeiten. Das erste, was du tun musst, um weniger zu arbeiten, ist weniger zu brauchen.

Werde faul. Werde ein Müßiggänger. Aus dem Müßiggang heraus wird dir klar werden, wie wenig du brauchst und wie wenig du arbeiten musst, um das zu bekommen, was du brauchst.

Schau dir an, was die Leute tun, die am Rande der Armut leben, dann wird dir klar werden, was jeder wird tun müssen, wenn jeder am Rande der Armut leben wird: Was tun Immigranten ohne Papiere? Sie schicken das Geld nach Hause zu ihren Familien. Das ist das Beste, was du tun kannst: Investiere in zwischenmenschliche Beziehungen, denn damit hast du etwas, worauf du dich verlassen kannst.

Wenn du Leute ohne Arbeit behandelst wie zweitklassige Individuen, dann wirst du selbst, wenn du keinen Job mehr hast, von ihnen als zweitklassig behandelt werden.

Bezahle kein Geld für Dinge, die andere Menschen für dich tun können als Gegenleistung für das, was du für sie tun kannst.

Das einzige, wofür du Geld brauchst, ist um Steuern zu bezahlen.

Sei kreativ. Denk dir alle möglichen symmetrischen Arrangements aus, in denen Dinge funktionieren, ohne dass du Geld in die Hand nehmen musst.

Du kannst nicht mit Wal-Mart konkurrieren, indem du ein eigenes Geschäft aufmachst. Aber du kannst mit Wal-Mart konkurrieren, indem du kein eigenes Geschäft aufmachst.

Oft höre ich die Leute fragen: Was sollen wir tun, um anderer Menschen Meinung zu ändern? Mein Rat: nichts! Ich bin zwar in der glücklichen Lage, Bücher und ein Blog zu publizieren - damit habe ich quasi ein Megaphon in der Hand, um andere Menschen anzusprechen. Aber ich sehe mich nicht als 'Einzelhändler', dessen Geschäft darin besteht, anderer Menschen Meinung zu ändern. Ich würde sagen: Versuche es erst gar nicht, anderer Menschen Meinung zu ändern. Wichtiger ist: Sei erreichbar für andere, sei sachkundig und sei bereit, Fragen zu beantworten, wenn dir Fragen gestellt werden. Tu für dich selbst das, was du für richtig hältst, in der Zeit, die dir zur Verfügung steht. Vielleicht folgen auf kleine Veränderungen große Veränderungen. Die Leute glauben nämlich jenen Leuten nicht, die nur reden.
Ich mag das alles sehr.

Freitag, 23. September 2011

Indignierte Ente



Santiago, Chile, Sommer 2011.

Lasst sie doch Verluste essen


Ach, das liebe Geld: Wo du nicht bist, Herr Jesus Christ. Das nur als Referenz an Gregor Gysi, der inmitten der gestrigen staatstragenden Aufwartung für den Papst mit sanfter Stimme anmahnte, der Katholikenführer hätte ruhig etwas zur wachsenden Armut sagen können, und mit noch sanfterer Stimme herumnölte: auch etwas zum wachsenden Reichtum hienieden auf Gottes Erden. Den einen gibt er, den anderen nimmt er - der Papst nimmt's hin. Hauptsache, von den Grünen gab's stehende Ovationen.

Also, das mit dem Geld. Und dem Reichtum. Es stehen ja immer noch jene sagenhaften 2,3 Milliarden Dollar im Raum, die neulich von einem Top-Mitarbeiter der Schweizer Investmentbank UBS ins Nirgendwo versenkt wurden - vielleicht war es auch die Bank (UBS, inoffiziell für: United BullShitters) selbst, wer weiß das schon so genau. Jedenfalls, die Kohle ist futsch. Überall haben sie danach gesucht - unterm Bett, im Schrank, in der Zuckerdose, in ihren Hosentaschen -, aber es nirgends gefunden. Seitdem ist das bankinterne Betriebsklima etwas verspannt, weil die angestellten Top-Herrschaften um ihre jährlichen Bonuszahlungen bangen müssen.

Wir bangen mit ihnen. Wissen wir doch seit spätestens 2008/2009, dass der internationale Finanzpfusch mit großzügigen Boni honoriert werden muss, weil sonst der Rest der Welt nicht mehr ruhig und fest schlafen kann. Haben wir gelernt: Wenn die ihre millionenschweren Weihnachtsgelder nicht kriegen, verliert die Bevölkerung das Vertrauen in die Stabilität der Finanzmärkte und alles bricht auseinander. Also wurde ihnen der Rachen gestopft - weil nun mal völlig undenkbar, nachgerade tabu ist, dass die wenigen Reichen die vielen Armen unterstützen; viel mehr Sinn macht es doch, aus jedem Armen jährlich ein paar Piepen mehr auszuquetschen, um damit ein Wohlfahrtsprogramm für die Reichen zu finanzieren, falls deren Portfolio mal wieder am Absacken ist.

Bereits neulich wurde die Bevölkerung prophylaktisch-sanft hirnmassiert, als es geheißen hatte: "Die Bonuszahlungen bei der UBS sind möglicherweise in Gefahr (at risk), nachdem das Unternehmen einen Verlust von 2,3 Milliarden Dollar hinnehmen musste." Klang schon wieder übel angstmachend nach Weltuntergang, aber gemach: Es hatte ja nur geheißen "möglicherweise in Gefahr", und wo Gefahr lauert, da gibt es Rettung ("where there's a risk there's always a way").

Und damit in die Vollen:
"Was die UBS Banker jetzt brauchen, ist ein Plan, der sicherstellt, dass der Verlust von anderen Leuten getragen wird als von ihnen selbst."
Wir sahen es kommen. Und ahnen, was auf uns zukommen wird:
"Zum Glück habe ich so einen Plan vorbereitet. Um den UBS Bonuspool zu retten, muss die Führungsspitze der UBS die Schweizer Bevölkerung davon überzeugen, dass sie, die Bevölkerung, für diese Unternehmensverluste gradezustehen (to eat the losses) hat, und dass sie, die Bevölkerung, dies mit großer Herzensfreude tun möge."
Ah, genial! Let them eat losses! Gut, ganz neu ist der Plan nicht; er hat, wie gesagt, schon 2008/2009 funktioniert - aber das ist ja das Geniale, deshalb wird er 2011 erst recht funktionieren! Sogar noch besser, denn es bedarf nur des Aufwärmens der ollen Kamellen - vulgo: Argumente -, und schon wird die Schweizer Bevölkerung Gewehr bei Fuß stehen. Oder sagen wir: das Schweizer Klappmesser stecken lassen. Denn sonst wäre ihr ja bereits vor drei Jahren das Messer in der Hose aufgegangen, bei folgendem Sachverhalt:
"Um die UBS über Wasser zu halten, hatte die Schweizer Regierung 6 Milliarden Franken Bailout-Stutz (Stutz: Schweizer Slang für Knete) locker gemacht und für fast 40 Milliarden Franken faule Vermögenswerte aus den Bankbilanzen gezogen."
Learning für 2011:
"Eine Rückerstattung der 2,3 Milliarden an die UBS wäre eine Investition in die Zukunft des Landes."
Loggisch, oddr? Weiter:
"Falls die Banker ihre Bonuszahlungen nicht kassieren dürfen, würden die besten und brilliantesten UBS-Leute zur Konkurrenz abwandern."
Geht gar nicht. Schweizer, ihr müsst euch entscheiden: Wollt ihr wirklich, dass die größten UBS-Talente abwandern zur National Bank of Greece? Oder noch schlimmer, zur Deutschen Bank? Was unausweichlich zu noch viel größeren Verlusten führen würde? Wollt ihr nicht! Als besonnene Schweizer seht ihr ein: Je besser dran eure Besserverdienenden sind, desto vertrauenswürdiger wird die UBS vor der ganzen Welt dastehen. Weil:
"Also, wenn die Schweizer Bevölkerung die UBS Bonuszahlungen rettet, wird sie damit effektiv das Verlustpolster der Verlustverursacher wiederherstellen, und zwar in seinem rechtmäßig aufgeblähtem Umfang. Und indem die Schweizer Bevölkerung dies tut, rettet sie sich selbst."
Derart schlüssig argumentiert müssten - so der schlaue Plan - die Schweizer eigentlich rumzukriegen sein für die dringend anstehende nächste Banken-Bailout-Runde. Falls das nicht reicht - stur sind sie ja, die Schweizer - könnte noch ein wenig auf der moralisch-sentimentalen Schiene nachgeholfen werden:
"Es geht hier um Fairness! Wenn arme Leute ihr Geld verlieren, ist das eine Tragödie, denn es gibt so viele arme Leute, dass die Regierung nicht viel dagegen tun kann. Anders bei den Reichen! Richtig gestellt muss die Frage also lauten: Ist es wirklich fair, Hunderte von schwervermögenden UBS-Profis für die Sünden eines einzigen 31-jährigen ghanaischen Traders zahlen zu lassen, nur weil sie kollektiv vergessen haben, ihn zu kontrollieren?"
Natürlich wäre das nicht fair, leuchtet jedem ein, war ja auch nur eine rhetorische Frage zum Zwecke der Bauernfängerei, die jedoch bei der sprichwörtlichen Bauernschläue der Schweizer sich eigentlich erübrigt hätte.

Abgerundet wird der geniale Plan mit einem bewährten Rundumschlag-Geschoss aus den Jahren 2008/2009; ein Griff in die argumentative Mottenkiste - nur leicht rezyklisiert - genügt:
"Die Grundlagen des Kapitalismus stehen auf dem Spiel ... Eine Pleite des UBS Bonuspools in einer Zeit größerer globaler und wirtschaftlicher Instabilität würde in verschärftem Maße das angeschlagene Verbrauchervertrauen gefährden ... Ein Zerstören der Finanzindustrie hätte weitreichende und dramatische Folgen."
Chunsch druus? Häsch dees? Was, nonig? Guet, letzschder Versuch:
"Die Botschaft an die Schweiz ist simpel: Bevor ihr an dem UBS Bonussystem irgend etwas ändert, müsst ihr es erst mal retten. Ich vertraue fest auf die Schweizer, dass sie das Richtige tun werden."
Zusätzliche freiwillige Spenden aus der Schweizer Bevölkerung sind übrigens hochwillkommen. Irgendwie muss eine Bank ja zusehen, wie sie zu ihrem Geld kommt.

PS.:
Ein Blick in den Kommentarbereich von Bloomberg.com lehrt, dass Wall Street Banker noch schlichteren Gemütes sind als gemeinhin vermutet. Mehr als der Hälfte der Kommentatoren entgeht der Premium-Sarkasmus-Charakter des Artikels von Jonathan Weil; sie nehmen die boshaften Botschaften des Autors 1:1. Andererseits ist ihnen das kaum zu verargen, denn die Trennlinie zwischen Satire und Realität ist in diesem Fall hauchdünn: Sämtliche "Argumente" zur "geplanten" UBS-Bonus-Rettung wurden 1:1 aus den Jahren 2008/2009 übernommen, als es um die Rechtfertigung von Banken-Bailouts und gigantischen Bonuszahlungen in den USA ging.

Da lacht der Rest der Wall Street.

(Bild: Julia La Roche via BusinessInsider)

Mittwoch, 21. September 2011

Regelverstöße



Es ist in den vergangenen Stunden ein wenig ungemütlich geworden in der New Yorker Wall Street - allerdings nicht für die dort residierenden Banker, sondern für die dort protestierenden Menschen. Wer gegen das verstößt, was gemeinhin als 'Recht und Ordnung' gilt, wird kurzerhand verhaftet, sprich: in Handschellen gelegt und über die Straße in Polizeiautos geschleift. Selber schuld. Was müssen die Protestler auch gegen das herrschende Recht verstoßen?

Rechtsverstöße und damit Gründe zur Verhaftung gibt es viele; am schwerwiegendsten dürfte das Ausbreiten einer Schutzplane über mitgebrachte Kommunikationsgeräte (Laptops etc.) sein. Angeblich um die Geräte gegen den Regen zu schützen, was natürlich nichts als eine dumme Ausrede ist, denn die New Yorker Polizei weiß es besser: In Wirklichkeit sind diese Schutzplanen nämlich zelt-ähnliche Gebilde, und Zelten ist auf Wall Street verboten. Klar? Klar.


Ebenfalls verboten ist auf Wall Street der Gebrauch einer Hupe oder eines hupen-ähnlichen Gerätes. Hat da so ein dahergelaufener Protestler einfach gehupt? Verhaften, und zwar sofort. Als hupen-ähnliches Gebilde ist im übrigen ein Megaphon anzusehen, dessen Gebrauch zur Verhaftung führt.

Ebenfalls verboten ist das Beschriften des Bürgersteiges mit Kreide. Vandalismus, klar? Führt zur Verhaftung.

Ebenfalls verboten ist - nicht nur auf Wall Street, sondern im ganzen Land - das Tragen einer Maske in der Öffentlichkeit, wenn es in Gruppen von mehr als zwei Personen geschieht. Deshalb ist das Tragen einer Maske auf Wall Street ein Grund zur Verhaftung. Schließlich haben wir Mitte September und nicht Ende Oktober, und Halloween ist das eine und Wall Street das andere.


Apropos "Männer in Anzügen" (siehe Bild, "men in suits"):

Der Protest #occupywallstreet ist gewiss (noch) keine Massenbewegung, was ihr gern zum Vorwurf gemacht wird von Leuten, die es gern größer, schneller, potenter und erfolgreicher hätten. Letzte Hochrechnungen haben ergeben, dass die verbliebenen paar hundert Aktivisten auf der Straße von einer zahlenmäßig weit überlegenen Protestbewegung abgehängt wurden, nämlich der im Internet hyperaktiven Bewegung #diss-occupywallstreet. Das sind Leute, denen es Freude bereitet, die Wallstreet-Demonstranten zu dissen, was die klappernde Tastatur hergibt.

Und nein, das sind keine bösen Republikaner, sondern rechtschaffene Liberale und Linke, deren kollektive Stänkerei auf das immer gleiche Credo hinausläuft: "Es sind die falschen Leute, die gegen das Richtige protestieren!" Die falschen Leute? Was ist an den überwiegend jungen Aktivisten falsch? Eben das. Dass sie so jung sind. Und so naiv. So unbedarft. So idealistisch und politisch unerfahren. Und so schrecklich amateurhaft, dass es einem ganz peinlich wird. Verpeilte Kiddies halt. Vor allem aber - wie die schon aussehen! So hippiemäßig gestylt. Alle im Freizeitlook. Kann ja keiner ernst nehmen! Und sich dann beschweren über das Blackout in den Medien! Selber schuld! Was müssen Protestler auch gegen die herrschende Kleiderordnung verstoßen? Zieht euch erst mal was Ordentliches an, dann werdet ihr auch ernstgenommen!

Ja, so war es schon immer - Kleider machen Leute. Im Blog der britischen Tageszeitung Guardian wurde über #occupywallstreet berichtet unter der Überschrift "Over-educated, under-employed and angry"; also die jungen, gut Ausgebildeten mit den schlechten Arbeitsmarktchancen, die wütend sind und deshalb auf Wall Street protestieren. In Freizeitklamotten. Nee, ihr Kiddies, so wird das nix - geht nach Hause und schmeißt euch erst mal in Schale, am besten in euren guten Anzug, ihr wisst schon, den ihr immer bei euren erfolglosen Bewerbungsgesprächen tragt. Weil, sonst kommt eure message einfach nicht rüber.

Wie, ihr seid der Meinung, eine message bedürfe keines dress codes? Ach Kiddies, ihr müsst noch viel lernen. Es ist nämlich so: Um gegen den Kapitalismus zu protestieren, müsst ihr euch als erstes seiner Logik und seiner Kleiderordnung unterwerfen. Nur so verschafft ihr euch Respekt. Bestimmt wird euch dann auch keiner mehr von der Straße weg verhaften. Eigentlich ist alles ganz einfach, Kids: Ihr müsst euch nur an die Spielregeln halten.


(Bildquelle: 1, 2, 3: Tim O'Reilly, 4: John Stuttle, Guardian)

Montag, 19. September 2011

Taschengeld gestrichen


Wer frei von niederen Instinkten ist, der werfe den ersten Stein.
Da ich aus Prinzip keine Steine werfe, bin ich auch nicht frei von niederen Instinkten. So weit logisch, oder?

Also ist es auch logisch, dass ich mich eines schadenfrohen Grinsens nicht erwehren konnte, das mich überwältigte, als ich heute folgendes las:
"Die Bonuszahlungen bei der UBS AG Investment Bank sind möglicherweise in Gefahr, nachdem das Unternehmen einen Verlust von 2,3 Milliarden Dollar hinnehmen musste infolge von etwas, was von der Bank als nicht-autorisierter Handel umschrieben wurde."
Au weia. Die Ärmsten. Keine Bonuszahlungen! Als Strafe dafür, dass irgendwer irgendeinen Mist gebaut hat! Das trifft hart. Das kann jeder nachvollziehen, der schon mal das ungute Gefühl hatte, für eine Bankenkrise zahlen zu müssen, die er selbst gar nicht verursacht hat.

Nicht wahr, es fühlt sich gar nicht gut an, bluten zu müssen für etwas, was von jemand anderem an die Wand gefahren wurde? Ist jetzt ganz dumm gelaufen, Jungs. Da müsst ihr durch. Wir fühlen mit euch.
Cry me a river.


Wall Street mit Gesicht



Impressionen von Wall Street, New York City, 17. September 2011


Fünf Minuten Slow Motion nach Einbruch der Dunkelheit.
Gesichter, Gefühle, Menschen.

Sonntag, 18. September 2011

Legoland bald abgebrannt


Hat jemand noch den Durchblick
im nichtendenden Tauziehen
in der nichtendenden Eurofinanzkrise?
Ich nicht.
Doch Hilfe naht:


Felix Salmon erklärt, wie der Laden läuft.
Vielleicht nicht hundertprozentig schlüssig,
aber wesentlich unterhaltsamer als das,
was im Fernsehen kommt.

Samstag, 17. September 2011

Take the bull by the horns



Seit drei Stunden (15 Uhr Ortszeit) strömen immer mehr Menschen zur New Yorker Wall Street.


Vielen steht das Erstaunen ins Gesicht geschrieben, dass sie nicht die einzigen sind, denen der Ausverkauf ihres Landes so gewaltig stinkt, dass sie den Weg hierher gefunden haben.

Nicht nur die Stimmung ist gehoben.

Ein Anfang ist gemacht. Wie es weitergeht, weiß keiner.
Wie das halt so ist bei Anfängen.

(Erste Bilder via Flickr/occupywallstreet.org. Hier gibt es einen Livestream von Wall Street, leider von grauslig schlechter Übertragungsqualität.)

Update:






Freitag, 16. September 2011

Verlustgeschäft


Hey, das ist Krisenporno vom Feinsten!

Also, es gab da so eine Art Unfall, oder besser Zwischenfall, oder na ja, halt so ein Vorkommnis bei der Schweizer UBS Bank; nichts Besonderes, kann ja jedem mal passieren:

Ein Finanzhändler der UBS hat mal eben eine Investmentsumme von zwei Milliarden Dollar in den Sand gesetzt. Um präzise zu sein: Der sogenannte "Verlust" beläuft sich auf zwei Milliarden Dollar, was - wenn Lieschen Mop das über den investment-für-dummies-Daumen hochpeilt - auf ein Portfolio etwa zehnfachen Umfanges schließen lässt, also mal locker 20 Milliarden. Da muss das Lieschen sofort an den Woody denken, der gesagt hat, ein Investmentberater sei einer, der dir beim Anlegen deines Geldes hilft, und zwar so lange, bis es weg ist. So gesehen, war dieser UBS-Finanzfifi ein ganz ausgekochter high-profile-Profi.

Jedenfalls, zwei Milliarden gingen da - einsfixdreizehn - über die Wupper. Weg waren sie. In Finanzkreisen sagt natürlich kein Mensch "gingen über die Wupper", sondern es heißt "Verlust". Okay. Hat also einer zwei Milliarden Dollar verloren. Ja, Herrgott, dann muss ja ein anderer die zwei Millis gefunden haben, oder? Wer zum Teufel war der glückliche Finder? Oder ist "finden" gar nicht das richtige Pendant zu "verlieren"? Stimmt, in Investmentkreisen sagt man: Der eine verliert, der andere gewinnt. Ja, und? And the $2-billion-winner is? Wo in drei Teufels Namen ist die Kohle?

Ernsthaft. Wo ist das verdammte Geld geblieben? Ich finde, das ist eine durch und durch legitime Frage. Aber kein Mensch stellt sie. Scheint keinen zu interessieren. Alle fragen nur: Wie konnte das passieren? Was ja keine uninteressante Frage ist, denn um zwei Milliarden durchzubringen, muss einer schon am ganz großen Rad gedreht haben. Wie sonst soll der Kerl unterm Radar der Risikokontrolle durchgeschlüpft sein, bitte, bei einer Schweizer Bank? Sollte die berühmte 'Schweizer Präzisionsarbeit' nur sprichwörtlich, aber keinesfalls wörtlich zu verstehen sein? Oder wäre es angemessener, wegen dessen Präzisions-Geniestreichs vor dem verknackten "rogue trader" den Hut zu ziehen?

Bei letzterem handelt es sich übrigens, wie man hört, um den typischen "netten Kerl" von nebenan. Guter Schulabschluss. Guter Job, gleich von der Universität weg bei der Top-Bank gelandet. Schickes Loft in der Londoner Innenstadt. Hobbies: Fotografie, Radfahren, edle Weine. Stets umgänglich und freundlich. Hat gern Parties gefeiert, manchmal bisschen zu laut, aber wenn ein Nachbar sich beschwert hat, gab's ein Fläschchen Champagner und alles war gut.

Und jetzt - im Knast. Tragisches Ende einer steilen Finanzkarriere? Och nö. Ich vermute mal, er kriegt so zwei, drei Jährchen, schreibt während des Absitzens seine Memoiren oder irgendeinen Investment-Thriller - "Inside Job im Back Office" wäre ein bestseller-verdächtiger Buchtitel -, dann kommt er wieder raus und lässt sich auf den Bermudas nieder, führt von dort aus einen wie geschmiert laufenden Hedge Fund und alles wird gut.

Wo, zum Teufel, war jetzt noch mal das Geld?


Donnerstag, 15. September 2011

Härte gegen den harten Kern


Neue Studien sind immer gut, besonders früh morgens zum Wachwerden.
"Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass der Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit schwieriger wird."
Schwieriger als wann?
"In einer Studie kommt sie zu dem Schluss, dass mit dem Aufschwung..."
Welchem Aufschwung?
"...die besser qualifizierten Arbeitslosen zwar wieder Stellen bekämen."
Aber?
"In den Jobcentern blieben aber jene zurück, bei denen sich eine Integration in den Arbeitsmarkt selbst in weiter Zukunft nicht abzeichne."
Jene? Etwa die sogenannten schwer vermittelbaren Arbeitslosen? Sind das nicht jene, die schon immer zurückblieben? Dumpf entsinne ich mich einer nicht mehr ganzen neuen, jedoch nicht wirklich alten Studie aus demselben Haus, die zu dem Befund gekommen war,
"...Arbeitsagenturen und Jobcenter konzentrierten sich auf die Betreuung leicht vermittelbarer Arbeitsloser und vernachlässigten Jobsucher mit geringeren Chancen am Arbeitsmarkt."
Ein Befund, der das für Hartz-IV zuständige Bundesagentur-Vorstandsmitglied Heinrich Alt seinerzeit "erstaunt" und weshalb er den "Vorwürfen" widersprochen hat.

Zurück zur neuen Studie. Was machen wir jetzt mit "jenen"? Jenen "Zurückgebliebenen"? Den vernachlässigten Sorgenkindern der Bundesagentur? Jenen, die sich partout nicht integrieren lassen (wollen), obwohl doch zu ihrer Integration so viele Mittel aufgewendet werden, doch leider vergeblich! Was machen wir mit denen?

Ganz einfach: Wir machen "jene Zurückgebliebenen" schon mal vorsorglich ein bisschen schlecht. Wozu haben wir eine neue Studie? Also geben wir "jenen" erst mal einen neuen, leicht despektierlich klingenden Namen: "dieser harte Kern". Alles weitere fügt sich dann von selbst:
"Das BA-Vorstandsmitglied Alt sagte der 'Süddeutschen Zeitung', dieser harte Kern mache etwa 20 Prozent der rund zwei Millionen Arbeitslosen im Hartz-IV-System aus..."
20 Prozent, aha, eigentlich eine noch überschaubare Zahl, wo ist das Problem? Hier:
"...benötige aber 80 Prozent der Mittel."
Kommt uns ziemlich teuer, dieser "harte Kern".

Geht da vielleicht noch was?


Nicht dass es nachher wieder heißt, die seien vernachlässigt worden.

Mittwoch, 14. September 2011

The Bank is on Fire


Es gibt nichts, was sich nicht vermarkten, sprich: zu Kohle machen ließe. Das gilt für den Kunstmarkt genau wie für alle anderen Märkte. Man - also, der Künstler - muss nur den richtigen Zeitgeist treffen, und schon rollen die Dollars.

Wie trifft einer nun den richtigen Zeitgeist? So:

(zum Vergrößern Link anklicken)

Was auf den ersten Blick aussieht wie eine brennende Tankstelle, ist in Wirklichkeit eine brennende Filiale der Chase Bank in Los Angeles (Öl auf Leinwand). Also, nicht dass die Chase Bank wirklich in Brand gesetzt worden wäre - das wäre ja ein Akt des Terrorismus oder zumindest der politischen Brandstiftung; vielmehr hat der kalifornische Künstler Alex Schaefer sich eines Tages gegenüber der Chase Bank hingesetzt und angefangen zu malen. Dabei muss ihn der Götterfunke der Inspiration angefacht haben, und er fing an zu zündeln. Bis die Bank lichterloh brannte. Auf der Leinwand, versteht sich.

(zum Vergrößern Link anklicken)

Es dauerte nicht lange, da kam die Polizei, beäugte misstrauisch Schaefers verdächtiges Treiben und stellte die in solchen Momenten einzig korrekte Frage: "Sind Sie ein Terrorist?" Weil der Befragte sich nur im künstlerischen Sinne als Brandstifter verstand, antwortete er wahrheitsgmäß: "Nö." Und weil Polizisten es lieben, wenn Verdächtige die Wahrheit sprechen, ließen sie ihn in Ruhe weiter malen. Gedacht hat er sich: Wenn hier einer des Terrorismus verdächtig ist, dann ja wohl die quasi-kriminelle Bank mit ihren betrügerischen Finanzgeschäften. Gesagt hat er das natürlich nicht. Wer will sich schon unnötigen Ärger aufhalsen durch lautes Aussprechen von Wahrheiten? Dann schon lieber ein visuelles Statement in Gestalt eines Ölbildes, denn, so Schaefer, "it's a long way from painting a visual metaphor of the banks to actual terrorism".

Da auch Künstler nicht von Luft, Liebe und der Kunst leben, sondern allenfalls vom Verkauf ihrer Kunst, bot Schaefer seine brennende Bank auf Ebay feil. Und damit niemand auf die Idee käme, er sähe die Chase Bank als Einzeltäter an, stellte der schaffensfrohe Künstler bei Ebay gleich noch eine zweite Bank in Flammen ein, die Bank of America. Und war gespannt, was jetzt passieren würde.

Es passierte dies:

(zum Vergrößern Link anklicken)

In kürzester Zeit schnellten die Kaufgebote von 920 Dollar nach oben - Verkaufspreis nach beendeter Auktion: 25.200 Dollar ("Chase Burning", 28x22). Die abgefackelte "Bank of America" (8x6) brachte es nur auf 3.601 Dollar, ist aber auch viel kleinformatiger gehalten, so dass sich die Versteigerungserlöse - als Preise umgerechnet auf bemalte Quadratzentimeter - die Waage halten und der Künstler sich über seine beiden Verkaufsschlager freuen kann.

Neidlos freue ich mich mit dem geschäftstüchtigen Künstler, muss allerdings zugeben, dass ich "Chase Burning" gern bei mir an der Wand hängen hätte, mir dies aber bei solchen Mörderpreisen nicht leisten kann. Also warte ich geduldig, bis Schaefer auf den Merchandising-Trip kommt (tun sie ja früher oder später alle) und in die Kleinkunst-Produktion geht, sprich: preiswerte T-Shirts mit brennenden Banken bedruckt. Auf diese Weise könnte er - dem herrschenden Zeitgeist hinterhermalend - zum Millionär werden und ich hätte mein kleines Scherflein beigetragen.

Obwohl, wenn ich mir's recht überlege (schließlich will ich ja auch mal zu Geld kommen): Der Künstler könnte mir die Weiterbearbeitungsrechte an seinem Oeuvre abtreten, und dann nehme ich Pinsel und Ölfarbe und male in das Bild eine Menschenkette hinein, alle bewaffnet mit Wassereimern, um den Brandherd ein für allemal zu löschen. Einen Titel für das neugeschaffene Kunstwerk hätte ich bereits: 'Bail-out für Banken - die freiwillige Feuerwehr lässt grüßen'. Frühe Kaufangebote nehme ich ab sofort entgegen.

Dienstag, 13. September 2011

Lasst sie doch erfrieren



Doug Hardman
Musiker
wohnsitzlos
spielt Klavier im Wald
am 3. September 2011:
A Whiter Shade of Pale
(Procol Harum 1967)

Er spielt nicht nur Klavier im Wald, sondern lebt auch dort:

Doug Hardmans Tipi-Zelt

Er ist weder Romantiker noch Hippie noch ein Künstler, der zu seiner Inspiration die Natur und die Einsamkeit sucht. Im Gegenteil, Doug hat viel Gesellschaft: Etwa 70 Menschen leben in der Zeltstadt ("tent city") im Wald außerhalb von Lakewood, New Jersey, eine Autostunde von New York City entfernt. Manche von ihnen leben dort schon seit vier Jahren, andere seit ein paar Monaten.


Sie bezeichnen die Zeltstadt als ihr Zuhause.


Auch wenn es in ihrer Zeltstadt
weder Elektrizität noch fließendes Wasser gibt.
Sie haben gelernt, ohne zu leben.

Sie haben eine Gemeinschaftsküche gebaut...


...ein Waschhaus...


...und Toiletten:


Letztes Jahr haben sie drei Holzhütten zum Übernachten gebaut, um die Zeltstadtbewohner sicher über den Winter zu bringen. "Wir haben niemanden von uns verloren letzten Winter", sagt der Zeltstadtgründer Steve Brigham stolz, "und keiner von uns ist krank geworden."

Das könnte sich im kommenden Winter ändern. Nachdem die Stadtverwaltung von Lakewood auf die Holzhütten aufmerksam wurde - nicht etwa durch einen Besuch vor Ort, sondern durch eine Fernsehsendung - schickte sie ein Abrissteam in den Wald und ließ die Übernachtungshütten zerstören.


Laut einem UN-Bericht vom August 2011 stellt das Verhalten der USA, ihren Bürgern den Zugang zu Wasser und einem Grundstandard an sanitärer Hygiene zu verwehren und wohnsitzlose Menschen zu kriminalisieren, eine Verletzung der Internationalen Menschenrechtserklärung sowie des Internationalen Abkommens über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grundrechte dar.


"Unsere Community ist zu einem lebenden Protest geworden.
Wir protestieren gegen die Heuchelei des politischen Systems.
Dieses System war für uns Menschen gedacht -
und genau das ist es nicht."

(Bildquelle: via BusinessInsider)

Montag, 12. September 2011

Sound of Silence


Viel wurde geschrieben anlässlich der Feiern zum Zehnjährigen des 11. September 2001, "the day that changed everything".

Auch dies:
Viele Analytiker haben die Beobachtung gemacht, dass - obwohl bin Laden schließlich getötet wurde - er doch einige größere Erfolge errungen hat in seinem Krieg gegen die USA.
'Wiederholt hat er (Osama bin Laden) darauf hingewiesen, der einzige Weg, die USA aus der muslimischen Welt zu vertreiben und ihre Übergriffe abzuwehren, bestehe darin, die Amerikaner in eine Serie kleiner, aber teurer Kriege zu verwickeln, die sie letztlich in den Bankrott treiben würden,' schreibt Eric Mangolis. In seinen Worten: 'Die USA auszubluten.'
Die Vereinigten Staaten, zuerst unter George W. Bush und dann unter Barack Obama, rannten Hals über Kopf in bin Ladens Falle... Grotesk aufgeblähte militärische Ausgaben und suchtartige Schulden... dürften das bösartigste Vermächtnis jenes Mannes sein, der glaubte, die Vereinigten Staaten besiegen zu können - erst recht wenn wir mitansehen, wie zynisch diese Schulden ausgenutzt werden von der extremen Rechten, unter einer Decke mit dem Establishment der Demokraten, um vollends auszuhöhlen, was noch übrig geblieben ist von Sozialhilfeprogrammen, Bildung, Gewerkschaften und - ganz allgemein - den noch bestehenden Einschränkungen von privatwirtschaftlicher Tyrannei.
Zitiert nach dem neugeschriebenen Vorwort von Noam Chomsky zu seinem (jetzt neu aufgelegten) Buch 9-11: Was There an Alternative?




Gestern sang, spielte und weinte
Paul Simon The Sound of Silence
während der Gedenkfeier an Ground Zero
in New York City.

Samstag, 10. September 2011

Empörung do Brasil



Völlig überraschend und ohne die geringste Vorwarnung ist ein weiteres Land von einem international grassierenden, nur schwer heilbaren Bakterienstamm infiziert worden: Brasilien! Wer hätte das gedacht? Womit keiner gerechnet hatte: Auf den Straßen Brasiliens toben die Indignados.

Am 7. September, dem Unabhängigkeitstag Brasiliens, zogen allein in Sao Paolo zeitgleich fünf Demonstrationszüge durch die riesige Stadt; in der Hauptstadt Brasilia waren 25.000 Protestierende auf den Beinen. Über die ganze Woche gab es in 35 Städten des Landes entsprechende Veranstaltungen. In Rio de Janeiro wird für den 20. September zu einer Großdemonstration aufgerufen; sie soll an der Plaza de Cinelandia stattfinden, einem historischen Ort ziviler Protestbewegungen.

(Nur am Rande: An jener Plaza de Cinelandia hatte der amerikanische Präsident Obama, anlässlich seines Brasilienbesuches im März 2011, eine historische öffentliche Rede halten wollen, aus der jedoch nichts wurde, weil es im Vorfeld zu Protestveranstaltungen gekommen war wegen Obamas Kriegseinsatz in Libyen; worauf Obama sein geplantes Bad in der Menge gefährdet sah und es vorzog, die Rede hinter verschlossenen Türen zu halten. Nichts peinlicher als die weltweite TV-Übertragung einer Lichtgestalt am Rednerpult, wo statt jubelnder Massen plötzlich schimpfende Demonstranten in die Optik geraten.)

Zentraler Angriffspunkt der Protestbewegung ist die politische Korruption in Brasilien sowie die in korrupten politischen Systemen übliche Straffreiheit für käufliche Politiker. Folgerichtig lautet einer der Protestslogans "El lugar de los políticos corruptos es la carcél" (korrupte Politiker gehören in den Knast).


Die Organisatoren betonen, unabhängig von allen Parteien und Organisationen zu kämpfen und sich explizit an der Bewegung 15M in Spanien zu orientieren. Teilnehmer an den Demonstrationen werden aufgefordert, sich die Gesichter schwarz zu bemalen und stilisierte Trauerkleidung zu tragen, um der Demütigung und Beschämung Ausdruck zu verleihen, die gegenüber einer korrupten politischen Klasse empfunden wird.

Die spanische Tageszeitung El Pais berichtet darüber. Der Autor bringt sein Erstaunen über "die unvorhersehbar große Zahl an Demonstranten" zum Ausdruck und schließt mit den Worten: "...obwohl - wie die politischen Analytiker hervorheben - was wirklich letzten Endes zählt, ist, dass endlich Feuer gefangen wurde (el fuego ya ha prendido)." Ein schöner Schlussatz.

Interessanterweise war es derselbe Autor in El Pais, der vor exakt zwei Monaten mit großem Erstaunen in derselben Zeitung die Frage stellte: "Warum gibt es in Brasilien keine Indignados? (Por qué Brasil no tiene indignados?)", und weiter: "Nicht wenige politische Analytiker und Politblogger fragen sich dies." Sinnigerweise war jener Artikel eingebettet in die Rubrik 'Politische Analyse'. Damals war der Autor aus dem Befremden nicht herausgekommen, wieso die Bevölkerung eines derart flächendeckend korrupten Landes "nichts als Apathie" an den Tag lege und "nicht die geringste Reaktion des Protestes" zeige. Der politische Analytiker hatte seinerzeit eine erstaunte Frage nach der anderen abgefeuert:

"Warum erwachen die Leute auf der Straße nicht aus ihrem Todesschlaf?"

"Warum nehmen sie sich nicht ein Beispiel an der Bewegung der Indignados?"

"Warum mobilisieren sie sich nicht über die sozialen Netzwerke?"

"Warum bleibt dieses Land stumm angesichts allgegenwärtiger Korruption?"

"Sollten jene recht haben, die behaupten, die Brasilianer seien nun mal ein friedliebendes Volk und habe nichts mit Protesten am Hut, ein Volk, das in Zufriedenheit leben möchte und arbeitet, um zu leben, und lebt, um zu arbeiten?"
In anderen Worten: Erst war der Autor erstaunt, dass sich nichts bewegt, und jetzt ist er erstaunt, dass sich etwas bewegt. Vermutlich gehört das Erstaunen zum Job einen politischen Analytikers.

Ist aber letzten Endes wurscht. Weil, was wirklich zählt, ist, dass endlich Feuer gefangen wurde. Auch wenn keiner damit gerechnet hatte. So ganz ohne Vorwarnung und zur allseitigen Überraschung. Die einen kämpfen, die anderen staunen. Muss wohl so sein.
Viva Brasil!



(Bildquelle: Daniela Barbosa, exame.abril)