Samstag, 8. Januar 2011

Schillernde Zeit



Eins steht fest: Jobsuche essen Zeit auf.

Wenn es nur die Zeit wäre - nicht nur die Zeit, sondern auch das Zeitgefühl ist kurzzeitig auf der Strecke geblieben. Zu meinem großen Erstaunen habe ich grade eben festgestellt, dass bereits Samstag ist, und hätte doch beschwören können, dass heute Freitag ist. Wo ist bloß dieser eine Tag geblieben?

Wenn es nur der Tag wäre - nicht nur der Tag, sondern das Gefühl für Jahreszeiten hinkt gewaltig hinterher. Seit heute früh frage ich mich: Wo ist bloß der Winter geblieben? Ich saß auf dem Fahrrad und musste absteigen, um mir ein paar viel zu warme Klamotten vom Leib zu reißen, sonst hätte mich ein frühlingshafter Schweißausbruch ereilt. Stieg also ab, lehnte das Rad an eine gerade herumstehende Litfaßsäule, warf Mütze, Schal, Handschuhe sowie Anorak von mir und dabei einen Blick auf den dicken runden Werbeträger, wo in dicken bunten Farben ein Volksmusikkonzert angekündigt wurde.

Inmitten all der volkstümelnden Buntigkeit klebte, notdürftig drangepappt, ein ehemals weißes, inzwischen reichlich verschmuddeltes Din-A-4-Blatt. Auch dieses schien sich irgendwie ans Volk zu richten, wenn auch anders - je nachdem, wie man Volk definiert. Offenen Mundes blieb ich stehen und las. Las einmal, zweimal, dachte nach über das, was ich las, las ein drittes Mal, während die Zeit verstrich, ich sie vergaß, aus ihr herausfiel und vermutlich just zu diesem Zeitpunkt den Samstag zum Freitag machte, ohne es zu merken.

Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit fing ich an, das Blatt von der Litfaßsäule abzupuhlen. Teils aus Mitleid, denn das Dokument mit dem Text aus einer anderen Zeit hätte den nächsten Regenguss bestimmt nicht überstanden, jedenfalls nicht so heil, dass irgend jemand aus dem vorbeilaufenden Volk es noch hätte entziffern können. Teils aber auch aus dem Bedürfnis, die Zeit für einen Augenblick anzuhalten, und sei es nur, um jenen Augenblick festzuhalten, in dem ich die Zeit aus den Augen verloren hatte.

Außerdem, so ein Blog ist ja auch eine Art Litfaßsäule, irgendwie. Passt.

28 Kommentare:

  1. upps, unerwartet mein lieblingszitat vom Fritze! ist das schön. Leider wird das demetriusfragment ja von den bühnen immer links liegen gelassen. Zu unrecht.
    bel

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  2. Hallo,

    also ich weiss nich so recht was ich mit meinem neuzeitlichen Demokratieverständnis damit anfangen soll. Irgendwie bleibt bei mir der unschöne neben Geschmack selbsternannten elitären Denkens hängen... Aber hey, hat nicht jemand Lust eine Dialektik-Diskussion loszutreten? :)

    LG
    Know-Budy

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  3. Ist gewiss kein leichtverdaulicher Text - ich kann verstehen, wenn er dich irritiert. Hätte er mich auf den ersten Blick nicht (u.a.) irritiert, hätte er mich evtl. gar nicht weiter interessiert. Mittlerweile finde ich ihn überaus anregend, habe allerdings zum besseren Verständnis seines historischen/literarischen Hintergrundes hier nachgelesen.

    Wobei ich keine Ahnung habe, wie du dein "neuzeitliches Demokratieverständnis" definierst (z.B. "neuzeitlich"=plebiszitär? - dann ist der Text natürlich eine glatte Ohrfeige).

    Und zum Stichwort "elitäres Denken" fallen mir ungezählte (neuzeitliche ;)! ) Blogartikel ein, die sich mokieren über die sog. "dumme breite Masse", der die momentan dilettierende Regierungskoalition ihre (gewählte!) Macht verdankt.

    Sind jetzt nur zwei Gedanken auf die Schnelle - würdest du die als (zugegeben etwas grobmotorisch-)dialektische Vorlage akzeptieren? Leg nach, Budy ;)!

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  4. Hach, und wieder weiß ich, warum ich hier so gerne vorbeischaue...Erst rockender Pinguin, jetzt Schiller, aber immer gut. Misch mich jetzt hier auch einfach mal ein. Beim ersten Lesen kam mir ein (mutmaßlich) ähnlicher Geschmack wie Budy...die Masse kann nicht entscheiden...okay, klingt grenzwertig. Aber "er muss dem Mächtigen, der ihn bezahlt, um Brot und Stiefel seine Stimme verkaufen". Das ist doch schon absolut aktuelle Lebenswirklichkeit???

    @Mrs. Mop: Ich drücke immer noch die Daumen...hilfts? ;-)

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  5. immerhin hat Mrs. Mop das Blatt als ganzes von der Säule abgekratzt, was ich auch viel authentischer finde als wenn sie sich nur den Inhalt gemerkt und dann einfach wiedergegeben hätte. Aber wie kam die Wahrheit zu der Werbung auf die Litfaßsäule, wo sie doch keinerlei (fast) Beachtung findet? Jetzt ist sie weg(genommen) und woanders zu finden, oder war sie mal hier und mal dort und das Treffen ganz belanglos, vom Ernst Litfaß und dem Friedrich Schiller...
    Ich muss raus, die Sonne scheint, jetzt und hier!

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  6. Mit "er" war ja der "Bettler" gemeint - allein darüber könnte ich stundenlang nachdenken, denn wer war jetzt (damals) mit "Bettler" gemeint? Bestimmt nicht, oder nicht nur, der Bettler im Wortsinne...

    "...hilft's?" Glaub' schon...;).

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  7. @Kaluptikus
    Poetisch wär's ja, wenn der unbekannte Zettelkleber eines Tages hier vorbeikäme und uns erklärte, was ihn seinerzeit angetrieben hat.

    Lang lebe Litfaß...;)

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  8. OoOh, ob mir das mit dem `Zeit anhalten´ gelingt... Aber gut, dann will ich mal repriorisieren und nehme sie mir:

    Ich bin ein Freund von basisdemokratischen Ansätzen. Auch das Konzept der Liquid-Democrazy :) sagt mir zu.

    Nach deiner Leseempfehlung fühle ich mich in meiner Vermutung bestätigt, nicht über genügend literarische-historisches Hintergrundwissen zu verfügen, um "Demetrius" richtig einordnen zu können. Und wer von den potenziellen Zettel-Lesern kann das? Das wiederum bestärkt mich in meiner skeptischen Haltung, keinem Zitat zu trauen, dass ich nicht selbst aus dem (literarisch-historischen) Zusammenhang gerissen (und hier: in einen neuen gestellt) habe.

    Stellt sich mir die Frage; was macht dieser Text heute hier in unserer Zeit an deiner Litfaßsäule²? Und was kann diesem Textfragment aktuelle Bedeutung oder gar universelle Gültigkeit verschaffen? Was will der/die wild plakatierende damit aussagen oder beim geneigten Leser erreichen?

    Betrachte ich nun Sapiehas Reaktion auf des Krongroßmarschalls vorausgegangen Zuruf:
    "Es sind so gute Schlüsse durchgegangen.
    o gebt Euch! Um des andern Guten willen,
    Was man beschlossen, fügt Euch in die Mehrheit."

    , dann deute ich das als Wut, Ohnmacht und vielleicht sogar Resignation eines der Mehrheit unterliegenden.

    Unsere größtenteils passiv "gewählten" Dilettanten lösen ähnliche Gefühle bei vielen Menschen aus. Doch was ist die Lösung?

    Wut, Ohnmacht, Resignation, verkürzte Generalkritik...? Ist dein Fund eine "epische Kurzschlussreaktion"? :)

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  9. "epische Kurzschlussreaktion?" - wow, der Begriff ist mir neu, bisher kannte ich nur die "epische Kurzform", aber gut, könnte eine solche Reaktion gewesen sein, wobei das "Epische" ja schon wieder ein höchst schillernder Begriff ist, ebenso wie das Wort "schillernd" im gegebenen Kontext...meine Güte...;)

    "Was macht dieser Text heute hier in unserer Zeit an deiner Litfaßsäule²?" Der hängt da als Denkstoff. Nur als Beispiel (siehe Antwort auf Juschi): die Sache mit dem Bettler.

    Der hängt da keinesfalls als Lösung. Er beinhaltet ja auch (aus meiner Sicht) keine Lösung; und eine Lösung für die "...Wut, Ohnmacht und vielleicht sogar Resignation eines der Mehrheit unterliegenden" weiß ich erst recht keine.

    Vielleicht so: Ich mag es einfach, wenn Gedanken in Bewegung versetzt werden.

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  10. So fremdartig mutet dies nicht mehr an, wenn man sich den zeitlichen und historischen Kontext bewusst macht.

    Der Text stammt aus Schillers Todesjahr 1805. Obwohl der Napoleonische Eroberungskrieg erst unmittelbar bevor stand, war Europa doch schon in den 25 Jahren zuvor ein Tollhaus gewesen. Krieg folgte auf Krieg und der Adelsstand war überall die in Frage stehende gesellschaftliche Klasse. Der amerikanischen folgte die französische Revolution. Hierauf folgten die Gewaltherrschaft der Jakobiner, mit der die Revolution ihre Kinder frass und der Kaiser Napoleon. Ganze Länder gingen unter, wie Savoyen, Venedig oder Polen, andere verdoppelten ihre Fläche, wie Preussen. In Frankreich war der König nebst Frau und Mätresse guillotiniert worden, in Schweden vom fiel er einer Adelsverschwörung zum Opfer und Maria I. von Portugal wird für wahnsinnig erklärt und entmündigt.

    In Deutschland spielt man einerseits heile Welt und krönt den Österreicher Franz Joseph Karl von Habsburg als Franz II in Frankfurt zum deutschen Kaiser. Der Revolution in Frankreich wird mit Koalitionen und Truppen begegnet. Ganz West- und Süddeutschland werden zu Truppendurchmarschgebieten. Schließlich gewinnt Frankreich gegen jeden einzelnen der Verbündeten und lässt sich alle linksrheinischen Gebiete abtreten.

    Die Antwort auf das Auseinanderbrechen der alten gesellschaftlichen Werte waren bis dahin Aufklärung und Freimaurerei gewesen. Letzte war sehr verbreitet und versuchte eine Grundlage einer Gesellschaftsreform von innen und oben zu legen, verbunden mit einer Adelsreform. Dies war auch der Grund für die Ermordung des Schwedenkönigs, der Freimaurer war. Auch Schiller, Goethe, George Washington, Blücher, Friedrich der Große und der Marquis de La Fayette waren entweder selber Freimaurer oder aber diesen gedanklich nahe stehend. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz, Humanität" lautete das Motto der Freimaurer und nicht umsonst fällt die Nähe zu den Idealen der Französischen Revolution auf.

    Dies erklärt beispielsweise auch, weshalb der französische Adlige Marquis de La Fayette auf eigene Kosten ein Expeditionsheer zusammen stellte, um die amerikanische Freiheitsbewegung zu unterstützen.

    Doch die Aufklärung allein und die Freimaurerideale konnten ganz offensichtlich nicht die Antwort sein auf die rasanten Entwicklungen der Zeit.

    Wenn man sich fragt, worauf das Schillerzitat gemünzt sei, enthüllt sich rasch der Zusammenhang. Ab 1794 war Schiller mit Goethe befreundet, zu der Zeit tobte bereits der Jakobinerterror. Beide zusammen entwarfen als Antwort auf die gesellschaftlichen Zustände die Weimarer Klassik mit, die später in den Klassizismus mündete und u.a. auch durch die Schinkelsche Architektur ihren Ausdruck fand.

    Goethe und Schiller (seit 1799) lebten in Weimar wie in einer Parallelwelt. Sie ereilten nur vereinzelte kleine Nachbeben, während ringsum in Europa alles in Scherben fiel. Schiller ging es erstmals finanziell gut, er war geadelt worden und befand sich in dichterischem Wettstreit vor allem mit Goethe. Soldaten sah man in Weimar nicht.

    Diesen Ausspruch hat ein freimaurerischer Aufklärer getan, der, enttäuscht vom Volk, sich der Klassik zugewandt hatte. Und in der hatte "das Volk" kein Wahlrecht.

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  11. das demetriuasfragment habe ich 1 mal auf der bühne gesehen, und mich dann mit dem stück unter anleitung eines großen literaturwissenschaftlers beschäftigen können/dürfen.
    Es spielt im 17. jahrundert im wahlkönigtum polen, das den angeblichen letzten erben Ivans IV unterstützt, der den zarenthron im nachbarland rußland beansprucht.
    Die zitierte stelle stammt aus einer diskussion im polnischen parlament.

    Schiller zieht paralellen zwischen dem revolutionären Europa der zeitenwende 18. auf 19. Jh und Rußland und Polen im 17. Jh.
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    Die Mehrheit?
    Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
    Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen.
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    ich möchte die ersten zeilen mit folgendem zitat von Heiner Müller kommentieren:
    ____10 deutsche sind immer dümmer als 1 deutscher. _________
    Was die mehrheit will ist nicht immer klug, sonst hätten wir nicht schwatzgelb. Mehrheiten kommen oft schnell durch versprechungen und unsinn zusammen, Die auswirkung erkennt nur der verstand, siehe Zitat.
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    Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?
    Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
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    Das beschreibt doch ganz gut die prekarisierung und das daraus folgende desinteresse an politik. Der arme ist so sehr damit beschäftigt, sein eigenes leben zu organisieren und im griff zu halten, dass er nicht mehr in der lage ist, für übergeordnete interessen, die auch seine lage ändern würden, zu kämpfen. Der kampf ums alltägliche dasein nimmt zu sehr in anspruch. Für politisches engagement ist keine zeit und keine kraft mehr da.

    Oder wie der große BB es schon sagte: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
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    Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
    Um Brot und Stiefel seine Stimm verkaufen.
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    Seine stimme kann man im polnischen feudlasystem wie auch im antiken Rom verkaufen. Stimmenkauf schaffte also mehrheiten. Heute kauft man direkt keine stimmen mehr, sondern gleich die abgeordneten. Wer‘s nicht glaubt, lese:

    http://www.fr-online.de/politik/meinung/lobbyisten-an-der-macht/-/1472602/4636128/-/index.html

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    Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
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    Natürlich war Schiller kein „heutiger“ demokrat, was er damit sagen will ist, dass man die interssen, die eine mehrheit verfolgt abwägen soll, d.h. warum wird etwas mehrheitsfähig, und bei wem? Ist das dann für die allgemeinheit gut?
    Soll dann wirklich jede stimme dann gleich zählen, oder sollen z. B. stimmen, nach ihren partikularen interessen gewichtet werden? Das waren übrigens fragen, die die aufklärer und die frühen demokraten beschäftigten.

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    Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
    Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.
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    Genau.
    Wenn nicht konsens, vernunft und weitsicht mitentscheiden, dann ist das ganze nur auf kurzfristige vorteile für wenige angelegt, Und kurzfristige vorteile für wenige haben langfristige nachteile für alle.


    Gruß bel

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  12. Und noch ein nachtrag zu
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    Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
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    Ich finde moderne interpretationen am theater immer gut.
    Und sehr modern lässt sich das interpretieren mit koalitionszwang und gewissensverpflichtung der abgordneten.

    Wo früher das zweite bei den entscheidungen im vordergrund stand, wird heute auf koalitionszwang gedrängt. So stimmen frakionen geschlossen ab, obwohl sie sich nicht im geringsten einig sind. Ich erinnere nur an die unsäglichen abstimmungen zur hartzreform.
    Beschlüsse kommen also nicht mehr demokratisch mehrheitlich durchdie einzelnen abgeordneten zustande, sondern zwangsweise verordnet durch sogenannten koalitionszwang, den die leithammel der parteiinteressen ausrufen.

    Gruß bel

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  13. @Diddlasbadscher,
    informative historie.

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  14. Wenn es sich formal um Polen handelt, um das es geht, hat das Ganze natürlich einen didaktischen Zweck. Denn Polen war ja als Staat nach den drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 untergegangen und somit zu diesem Zeitpunkt eine Fiktion.

    "Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
    Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."

    Wobei Polen sicher eher nicht deshalb untergegangen ist, weil das Paralament da eine Quatschbude gewesen wäre oder die Mehrheit der Polen das so gewollt hätte - ganz im Gegenteil. Zuvor war Polen übrigens erst in Personalunion von den Sachsen-Königen geführt worden, die sich kaum um Polen scherten und war später Adelsrepublik, in der der Adel sich gegenseitig schwächte.

    Die Idee zur Teilung Polen-Litauens ging vor allem von den preussischen Königen aus und hatte den strategischen Hintergrund, dass das vom übrigen Preussen abgeschnittene Ostpreussen schwer zu verteidigen war. Zumindest die erste und die dritte Teilung basierten auf einer Einigung des Preussenkönigs mit dem Zaren.

    Erst mit Napoleon 1806 gab es wieder so etwas wie einen unselbstständigen polnischen Staat. Der Wiener Kongress stellte im Hinblick auf Preussen und Polen die Verhältnisse der zweiten Teilung wieder her und schuf Polen formal wieder, jedoch war der Zar in Personalunion König von (Ost-)Polen, so dass ab 1831 Ostpolen als Russisch-Polen russische Provinz wurde.

    Das blieb dann für über 80 Jahre so. Erst 1916 erschien Polen als Erfindung des deutschen Generalstabes als Regentschaftskönigreich Polen wieder auf der Landkarte.

    Daher steht zu vermuten, dass das Stück eher eine Abrechnung mit der Französischen Revolution war, die letztlich im Blutbad geendet hatte. Das Stück wurde vermutlich deshalb gedanklich nach Polen verlagert, da in Deutschland ja die Franzosen unterwegs waren und der Habsburger Kaiser und damit das Reich von ihnen besiegt..

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  15. @bel
    Ergänzendes zum "Bettler":

    Die von dir gezogenen Parallelen zur "Prekarisierung" in der Jetztzeit finde ich naheliegend und einleuchtend. Fand ich bereits gestern, als ich mit dem Beutestück in der Tasche davonradelte: Natürlich, mit dem Bettler ist der Arme gemeint, der so sehr mit seinem Existenzkampf beschäftigt ist, "dass er nicht mehr in der lage ist, für übergeordnete interessen, die auch seine lage ändern würden, zu kämpfen."

    Dann fing der Bettler in der Tasche an, in meinen Gedanken herumzurumoren. Wer ist ein Bettler? Ein Bettler muss nicht notwendigerweise bloß der Arme sein, sondern einfach derjenige, der bettelt. Zum Beispiel einer, der bettelt: Lass mich bitte, bitte teilhaben am 'großen Spiel'; lass mir bitte, bitte meine Illusionen von Wohlstand und Sicherheit; lass mich bitte, bitte dort bleiben, wo ich bin; lass mich bitte, bitte nicht abstürzen.

    Mit anderen Worten: Womöglich findet sich eine große Anzahl (gar eine "Mehrheit"?) von "Bettlern" in jenen prekären Zwischenschichten, die sich (noch) verzweifelt zur Mittelschicht zählen, es vielleicht längst nicht mehr sind oder bald nicht mehr sein werden.

    So interpretiert, würde ein passender schwarzgelber Schuh aus dem um sich greifenden Bettlerphänomen.

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  16. Aus diesem Text heraus zu lesen, dass der Bettler Verstand hat, dürfte schwierig sein.

    "Verstand ist stets bei wen´gen nur gewesen."

    Das hört sich wohl doch mehr nach Bildungselite an. ;)

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  17. Und noch ein letztes zur geschichtlichen Einordnung.

    Zunächst einmal war Schiller Arzt, aber auch Historiker, so dass man annehmen darf, dass ihm keine grösseren Schnitzer passiert sind. Da dem Stück ja eine Botschaft inne wohnt, muss man sicher vor allem auch auf das abstellen, was im damaligen aufgeklärten Bürgertum an Wissen vorhanden war.

    Das augenfälligste ist sicher, dass in dem Stück polnische Adlige Anspruch auf den Zarenthron erheben. Das muss damals einfach der Witz schlechthin gewesen sein, denn "Polen" war fast immer den Einflüssen der verschiedenen sie umgebenden Mächte ausgeliefert. Sei es den Russen, Schweden, Sachsen, Österreicher, Osmanen oder Preussen. Es ist also seit 400 Jahren praktisch immer genau umgekehrt gewesen.

    Es gab da zwar einmal um 1700 herum einen minderjährigen kurländischen Herzog mit Anspruch auf die polnische Krone, die bis zur Volljährigkeit jedoch von einem schwedischen Statthalter verwaltet wurde. Der verstarb jedoch unmittelbar nach seiner Hochzeit mit einer russischen Prinzessin. Vielleicht ist das einer der historischen Aufhänger.

    Ausserdem gab es schon seit 1386 gar kein eigentliches "Polen" mehr, sondern eine Personalunion Polen-Litauen, die ab 1569 auch in eben diesen Staat mündete, da die Thronlinie ausgestorben war. Zunächst war diese Union recht erfolgreich gegen die deutschen Ritter und als Staat dann auch gegen die Russen und Ukrainer (1610 Besetzung von Moskau), rieb sich dann aber an Mongolen und OSmanen auf. Polen-Litauen wurde beherscht von livländischen, kurländischen und vor allem litauischen Hochadligen, viele mit deutschen Wurzeln. Polen war im Übrigen Adelsrepublik, obwohl es fast nur polnischen Landadel gab und im wesentlichen keine Herzöge und Grafen.

    Und nur Adlige waren im Sejm vertreten! Der Adel bestimmte vor allem die Aussenpolitik, hatte viele Rechte - wesentlich mehr als zu der Zeit das englische Parlament. Darunter war auch das Recht, den König zu wählen. Deswegen wird oft von der polnisch-litauischen Adelsrepublik gesprochen.

    Im polnischen Sejm gab es im übrigen das Einstimmigkeitsprinzip, das liberum veto, mit dem einzelne Angeordnete jede Mehrheitsentscheidung zunichte machen konnten. Das blockierte Jahrzehnte lang jeden Reformansatz, über 25 Jahre lang wurde kein einziges Gesetz verabschiedet. - Dies noch ein Punkt, bei dem das Stück und die Realität einander diametral entgegen stehen.

    Der litauisch-polnische Adel befand sich jedoch wie oben schon gesagt, in dem Dilemma, dass vor allem Russen und Schweden herein zu regieren versuchten, aber auch Preussen und Österreicher. Deswegen und mangels geeigneter inländischer Kandidaten wurden oft Ausländer zu Königen gewählt und politischer Schutz bei den Franzosen gesucht. Ab 1697 war August der Starke von Sachsen zugleich auch König von Polen und Großfürst von Litauen. Es gab viele Wirren, so auch den polnischen Thronfolgekrieg, an dem auch Frankreich und Österreich beteiligt waren und Russen und Österreicher schließlich wieder den Sachsen zum König machten. Erst 1763 endete die Personalunion Sachsen-Polen mit dem Tod Friedrich August II. von Sachsen.

    Und erst 1764 wurde mit Stanislaus Poniatowski II. ein polnischer Adeliger auf den Thron gewählt, offenbar wegen seiner guten Beziehungen zum russischen Zarenhof. Doch das erwies sich als zweischneidiges Schwert, da es zu einer Abhängigkeit von Russland führte. 1772 erfolgte die erste polnische Teilung. 1795 war Polen vorerst von der Landkarte verschwunden.

    Viele Ereignisse dieses polnischen Dramas waren damals ziemlich sicher weit bekannt, weswegen man sie sicher gut in einem Lehrstück benutzen konnte.

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  18. @mrs. mop

    schöne interpretation von bettler.
    - für mich als frühneuzeitler ist bettler natürlich immer zuerst wie er im lexikon steht, derjenige, der nix hat und seine lebensunterhalt mit almosen bestreitet.
    Doch das ist heute zu kurz gegriffen, deshalb gefällt mir die idee vom bittsteller, die du da ausführst ganz gut.


    Natürlich kann man Fritze auch nur ganz konkret im zeithistorischen interpretieren: revolution, polnische teilungen, krieg und für verschwörungstheoretiker freimaurer und dazu noch ein paar jesuiten... etc.

    Aber wie gesagt, das theater ist ein bisschen mehr, als nur das aufsagen von geschichtswissen; es ist auch mehr als ein historiendreiteiler im abendlichen TV. Und ein historiendrama schreit nach aktueller interpretation, ist es doch gerade als moderne interpretation der vergangenhait geschrieben. Natürlich hat Fritze seinen spaß daran gehabt seine zeit in ein geschehen 200 jahre vorher zu verpacken, aber er schreibt eben keine geschichte, sondern ein theaterstück.

    Oder würden wir sonst nicht immer wieder vor einem gut inszenierten Shakespearestück stehen und mit augen und ohren "glotzen"?

    Ich empfehle daher mal gern Gotscheff-Inszenierungen eines Klassikers.

    Nichts anfangen konnte ich dagegen mit der vielgelobten Emilia am DT. Das war glattgebürsteter Lessing für alphamädels und binärbohèmebuben. Alles was politisch sein könnte, raus, nur noch das gekreisch der emotionen.

    Gruß bel.

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  19. Man, macht echt Spaß, euch "zuzulesen"...da lassen sich immer neu Denkansätze finden, die mich sicher noch in ruhigen Minuten beschäftigen. Nur noch ein Einwurf zur "Bettlerfigur": M.E. ist ein Bettler ja auch (ob freiwillig oder nicht, sei hier dahingestellt) Almosenempfänger und insofern von der Wohltätigkeit anderer abhängig...wie frei kann man sein, wenn man, im übertragenen Sinne natürlich, die Hand nicht beißen darf, die einen füttert...wenn auch mit Wohlstandsmüll...

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  20. @bel
    Binärbohemebuben...neiiin!...eigentlich wollte ich gerade müde ins Bett fallen, jetzt sitze ich hellwach auf der Gardinenstange und amüsiere mich...Binärbohemebuben...ha! :)

    @Juschi
    Immer schön bissig bleiben...;)

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  21. Janäisklar, für die einfach gestrickten ist eben alles, wasse nich verstehn, Verschwörungstheorie.

    Die Freimaurer sind weit verbreitete Realität und Gesellschaftsströmung gewesen und -wie oben erwähnt- ein Versuch, die (Adels-)Gesellschaft von innen zu reformieren.

    Das ist -im Gegensatz zur Theorie, dass die Illuminaten nach ihrem Verbot bis in die Jetztzeit weiter existieren- erwiesene Realität.

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  22. Ich bitte, auf herabsetzende Bemerkungen zur Person zu verzichten.

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  23. Danke dass du klar gestellt hast, dass man nicht einfach Leute Verschwörungstheoretiker nennt, wenn einem selber das Wissen um die Zusammenhänge fehlt.

    *****

    Abgesehen davon ist auch die Inhaltsangabe von @bel falsch gewesen.

    Kinder, wenn man nicht alles selber macht.

    In Schillers Stück geht es um den falschen Zaren an der Schwelle des 16. zum 17. Jahrhundert, den Pseudodimitri I., der behauptete, der jüngste Sohn Iwans des Schrecklichen zu sein, aber angeblich ein entlaufener russischer Mönch war.

    Literarisch ist es sozusagen der Vorläufer von "Boris Godunow", der praktisch als Vormund des wahnsinnigen Zaren und Sohnes von Iwan regierte.

    Der Pseudodimitri stiftete eine Menge Verwirrung, wenig mehr ist historisch verbürgt. Dass die Polen tatsächlich die Finger im Spiel hatten, ist jedoch eher unwahrscheinlich, da zur selben Zeit Polen selbst nahezu in Chaos und Anarchie versank.

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  24. freimaurerei mag im 18 Jh im adel weit verbreitet gewesen sein, da war sie aber mehr so eine esoterische Ritual- und Karnevalsveranstaltung des Antikatholizismus für die sich für aufgeklärt haltenden principes. Ging es ans eingemachte, dann wurde man doch wieder lieber ganz adelig absolut und die logen schließen.

    Lebensalltag war die freimaurerei in der "fahrenden zunft". Freimaurergesellschaften boten gerade für Künstler, die oft von engagement zu engagement reisten und für fahrende handwerker die ideale anlaufstelle. Kam man in einer neuen stadt an, ging man zuerst zur ansässigen Loge, oder nahm mit einem bruder verbindung auf. Dort war dieses netzwerk von ungemein praktischem nutzen, für alles was alltag und organisation betraf.

    Meine inhaltsangabe ist natürlich komplett falsch, weil: - das hat der diddelsbadscher dann ja so eloquent wie es ihm möglich ist berichtigt, wir sollten alle danken,dass wir ihn haben,-

    also weil : der Demetrius hieß auf russisch Dimitri, das müssen wird dem Schiller schon anlasten, dass der das da eingedeutscht hat;
    und Ivan IV ist eigentlich Iwan Groszny, der 4. seines namens, wenn man die zählung richtig von Kiew aus beginnt, -
    und Boris hab ich auch aus daffke weggelassen, denn der spielt im 1. Akt keine Rolle,
    und was da ein veto bekommt, ist das Ansinnen Polens für Demetrius, ach nee Dimitri, eine armee aufzustellen um dessen thronansprüche durchzusetzen. Bei Schiller glaubt der Demetrius (wie konte mir das schon wieder passieren?) übrigens dass er der sohn vom Iwan ist,(wie konnte Schiller das passieren?) das erfährt man, wenn man das stück am stück statt inhaltsangaben liest, aber das macht mühe, deshalb lassen wir das auch mal kurz weg.

    Ansonsten war bei Diddelsdings alles richtig und bei bel natürlich alles verschwörungstheorie.

    bel (verschwörerisch wispernd ab):
    Manmanman, benenn dich doch um in nermberscher dippelschisser... und schreib nicht soviel aus irgendwelchen wikis ab.

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  25. Huch.

    Das Beleidigungsverbot scheint hier nur für manche zub gelten.

    Gut, man kann sich schon mal um 80-100 Jahre "verschätzen", mal das eine, mal das andere über Freimaurer erzählen, gerade eben ausgedacht natürlich, man kann auch aus echt-falschen Zaren mal eben Zarenthtonsinhaberinteressenaten machen, mal kurz "vergessen", dass da noch ein Zar war, der ausgerechent Boris Godunow hiess und keiner Adelslinie folgte, weswegen erst diese Unsicherheit aufkam, man kann natürlich auch Polen zu Russen machen und umgekehrt, Heere und Parlamentsdebatten frei erfinden. Watt, @bell!

    Und dann kommste hier trotzdem mit nur Chuzpe anstatt Ahnung an und pieselst den Leuten in die Stiefel. Nettes Kärlchen bist, Bua.

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  26. Ach und noch was, @ Bello

    "das erfährt man, wenn man das stück am stück statt inhaltsangaben liest"

    Du hast natürlich recht, wenn du sagst, dass man deine Angaben überprüfen muss und nicht einfach glauben, was du von dir gibst. Unverzeihlich von mir, wie konnte ich nur. *g*

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  27. @ bel

    Einer, der sich wie du in die Nähe von Theaterwissenschaften rückt ("oho, mein Prof hats gesagt!"), dem gegenüber aber weder korrekte Orts- , Zeit, noch Inhalts- oder Interpretationsangaben machen kann noch welche zum historischen Hintergrund und obendrein seinen "Auftritt" hier damit krönt, Leute, die ihn dabei erwischen, persönlich anzumachen - solche Leute sprechen einfach für sich.

    Du weisst ja sicher, wie das Geräusch ist, wenn aus Luftballons die Luft abgelassen wird - pfffffffft. Ciao - Bello.

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  28. Es reicht. Röhrende Platzhirsche sind hier unerwünscht.

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