Samstag, 27. August 2011

Lasst sie doch absaufen


Das Chillen bringt es mit sich, dass man sich - intensiver als normalerweise - mit Naturkatastrophen beschäftigt. Auch solchen, zu denen es vermutlich gar nicht kommen wird; die aber im Vorfeld so dramatisiert werden, dass die New Yorker Bevölkerung seit Tagen nicht mehr das Haus verlässt, die U-Bahnen stillgelegt und die Regale in den Supermärkten leergefegt sind.

Stichwort: Hurricane-Apokalypse. Sturmflutgefahr.


Die wilde Irene ist unterwegs entlang der amerikanischen Ostküste.

Aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Bevölkerung seiner Stadt hat der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg heute einen umfassenden Evakuierungsplan vorgelegt: In allen nahe am Wasser gelegenen Wohngebieten (das sind in New York City sehr viele) werden die Bewohner aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Die Farbe Orange bedeutet höchste, die Farbe Gelb ziemlich hohe Überflutungsgefahr, Grün bedeutet: Aufpassen, Gefahr im Verzug.

Dass die Gefahr einer Sturmflut am Wasser hoch ist, leuchtet ein. Umso mehr leuchtet ein, dass die Gefahr einer Sturmflut auf oder inmitten des Wassers, nämlich auf einer Insel, am höchsten ist. Man staunt daher nicht schlecht, wenn man auf der Karte New York City Hurricane Evacuation Zones unter all den vielen gelben und orangefarbenen Evakuierungszonen einen großen weißen Tupfen mitten im Gewässer liegen sieht, scheinbar unberührt von aller Überschwemmungsgefahr, umgeben von lauter gelben, orangefarbenen und grünen Ufergebieten der Bronx, dem Stadtteil Queens und dem La Guardia Airport - alles dicht, alles stillgelegt, alles evakuiert.


Das muss eine magische Insel sein! Wehrhaft und erhaben gegen die Tsunamis dieser Welt, mit übernatürlichen Kräften ausgestattet gegen das Unheil, welches aus dem Wasser droht. Dort muss es sich gut leben lassen, denkt man sich, wer möchte nicht augenblicklich auf dieses gesegnete Eiland fliehen, bevor Irene die Stadt heimsucht? Überhaupt, fragt man sich, wieso evakuiert der Bürgermeister - der Einfachheit halber - nicht gleich die umliegenden Ufergebiete komplett auf diese Insel? Wäre logistisch, geografisch und sicherheitstechnisch doch am naheliegendsten, oder? Wo es doch auf dieser Insel scheinbar nichts zu evakuieren gibt?

"Rikers at night"
Flickr/alamagordo via Mother Jones

Man denkt, man fragt, man staunt. Und überlegt sich, wieso sämtliche New Yorker Stadtteile akribisch gekennzeichnet sind mit Alarmfarben, Stadtteil- und Straßennamen sowie den über die gesamte Stadt verteilten Evakuierungszentren. Nur diese eine Insel nicht. Hat die denn keinen Namen? Liegt über dieser Insel gar ein Fluch?

Damit kommen wir dem Rätsel ein Stück näher. Mayor Bloomberg hat nämlich über diese Insel den weißen Fluch des Schweigens verhängt. Es handelt sich um Rikers Island, der Gefängnisinsel von New York City, gelegen im East River. Geschätzte Zahl der dort Inhaftierten: um die 13.000, darunter viele jugendliche, psychisch kranke und Untersuchungshäftlinge, die erst noch eines Verbrechens überführt werden müssen.

"Lasst sie doch absaufen!", steht mit unsichtbarer Tinte über dem großen weißen Tupfen auf Bloombergs Evakuierungsplan geschrieben. Anders sind seine selektiven Notfallmaßnahmen nicht zu interpretieren und auch nicht die Verärgerung, mit der Bloomberg reagierte, als er auf der Pressekonferenz auf den weißen Fleck mit dem darauf befindlichen "Hochsicherheitstrakt" angesprochen wurde. Der Rest sind Erinnerungen.

Ungute Erinnerungen an den Hurricane Katrina und den Horror, dem die damaligen Gefangenen des Orleans Parish Prison in New Orleans ausgesetzt waren:
Eine Kultur der Verwahrlosung und Vernachlässigung offenbarte sich in den Tagen, bevor Katrina losbrach, als der Sheriff erklärte, die Gefangenen würden dort bleiben, "wo sie hingehörten".
Damals stieg das Flutwasser stetig am, die Stromversorgung war unterbrochen, komplette Haftgebäude lagen im Dunkeln. Die Gefängnisbeamten verließen fluchtartig ihre Posten und ließen Häftlinge in ihren verschlossenen Zellen zurück, von denen einige bis zur Brust in Abwasser- und schlammverseuchtem Wasser standen; tagelang lebten sie ohne Essen, ohne Wasser, ohne Belüftung und blieben - dort, "wo sie hingehören"?

Lasst sie doch absaufen. Sind eh mehrheitlich Arme, Schwarze und Latinos, die auf Rikers Island einsitzen, mehrheitlich wegen (des Verdachts auf) Kleinkriminalität wie zum Beispiel Drogenbesitz oder Trunkenheit am Steuer; 80 Prozent Untersuchungshäftlinge, 25 Prozent psychisch Erkrankte. Durchschnittliche Dauer der abzusitzenden Haftstrafe: 40 Tage. (Quelle: GothamGazette)

Haftstrafen? Bestrafen wir sie durch Ertränken! Sind ja schließlich Kriminelle, oder? Es muss ja auch nicht gleich zum Schlimmsten kommen. Ein paar Tage ohne Essen, ohne Trinkwasser, ein wenig Verwesungsgefühl im Klärschlamm, ein bisschen Horror im Dunkeln - Strafe muss sein. Sollen doch froh sein. Endlich mal Abwechslung, endlich mal Action im Hochsicherheitstrakt. Bravo, Bloomberg.

4 Kommentare:

  1. Das haut ja richtig rein und tut weh. Warum berichten die Qualitätsmedien darüber nicht?
    Weil sie nicht können, nicht wollen oder gar eingebettet sind? Oder sind sie verängstigt darüber, dass einige im Lande berechtigt den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der kriminellen Vereinigung U.S.A politisch einfordern? Oh....nein das reicht, ich habe erst mal "fertig".

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  2. Hervorragend recherchiert Frau Mop.

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  3. Ohne anzubiedern, aber so stelle ich mir guten Journalismus vor. Beispielhaft, Mrs. Mop, weiter so!
    I wish you money, wine and holidays...;-)...
    und natürlich endlich mal eine Festanstellung bei einer guten Zeitung!!!

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