Samstag, 19. Oktober 2013

Ein Hauch von Pest


Spontan neige ich ja immer zur Solidarität mit den Ausgebeuteten und Geknechteten dieser Welt. Insbesondere, wenn deren Hungerlöhne vorne und hinten nicht zum Leben reichen. Erst recht dann, wenn sie für ein bisschen mehr Geld zum Leben auf die Straße gehen. Oder gar zum Streik aufrufen.

Aber irgendwo ist Schluss mit meinen Solidaritätsgefühlen, ratzfatz Schluss, aus, vorbei. Es gibt Menschen, die sich ausgebeutet, weil unterbezahlt fühlen, denen wünsche ich nichts als die Pest an den Hals. Nämlich denen, die sich ausbeuten lassen, um ihre Mitmenschen auszubeuten, und die eine bessere Bezahlung fordern, um ihre Mitmenschen noch besser, noch effizienter, noch niederträchtiger ausbeuten zu können und für diesen Ausbeuterjob, bitteschön, angemessen entlohnt werden wollen.

Die Rede ist von den Mitarbeitern der Firma ATOS, einem französischen Unternehmen, das von der britischen Regierung unter Vertrag genommen wurde, um zu prüfen, ob behinderten, chronisch kranken und ähnlich arbeitsscheuen nutzlosen Fressern ein Anspruch auf Sozialleistungen zusteht. Oder ob letztere nur so tun, als wären sie krank oder behindert, Simulantenpack mithin, in Wirklichkeit jedoch - nach "medizinischer" Prüfung samt Expertengutachten ("work assessment") - als "fit for work" deklariert und dem Arbeitsmarkt zugeführt werden können.


Dabei verzeichnet die Firma ATOS bemerkenswerte Erfolge; einer der spektakulärsten war die Weigerung, einem im Endstadium krebskranken Mann und dessen betreuender Ehefrau staatliche Benefits auszuzahlen, weil der Dahinsiechende - nach eingehender "medizinischer" Prüfung - als rüstig genug eingestuft wurde, um fit for work zu sein. Er hätte ja bloß ein bisschen in die Hände zu spucken brauchen! Bedauerlicherweise hat sich der todkranke Mann den Wiedereingliederungsbemühungen entzogen, indem er vor wenigen Tagen verstarb,

"Hm... smartly presented... simuliert da schon wieder einer?"

- und zwar, wie die hinterbliebene Ehefrau betont, "nicht nur an Krebs, sondern an den Schikanen seitens ATOS, die ihn seiner Würde beraubt hatten".

Die Liste an Fehlentscheidungen ließe sich beliebig verlängern, denn die von ATOS-Mitarbeitern verursachten Missbrauchsfälle sind mittlerweile Legion (20 Prozent) und umfangreich dokumentiert. Ebenfalls dokumentiert sind die zunehmenden Suizide ("It isn't suicide: it's murder") bei psychisch kranken Menschen, die von ATOS-Mitarbeitern für kerngesund und arbeitsfähig erklärt werden und sich dem Stress weiterer Prüfungsverfahren entziehen, indem sie ihrem Leben ein Ende bereiten - eine besonders perfide, weil nachhaltige Simulantenstrategie.

Jedenfalls, die ATOS-Mitarbeiter wollen streiken. Für bessere Bezahlung. Kriegen bloß Mindestlohn. Fühlen sich ausgebeutet. Sind es höchstwahrscheinlich auch. Machen ja auch nur ihren Job. Von irgendwas muss man schließlich leben, nicht wahr, und sei es von so einem Knochenjob: Wir attestieren kranken Menschen die Krankheit weg und zerstören Leben. Wir lassen uns ausbeuten, um andere auszubeuten. Um für einen Hungerlohn andere Menschen in Not, Hunger und Tod zu treiben. Machen wir gerne weiterhin, aber nur, wenn wir mehr Geld dafür kriegen. Sonst streiken wir.

Wie, ihr droht mit Arbeitsniederlegung? Um für ein paar Pfund mehr noch wirkungsvoller zu treten nach jenen Menschen, denen ihr die letzten paar verbliebenen Pfund wegnehmt? Für so eine Drecksarbeit wollt ihr die Arbeit niederlegen? Und erwartet Solidarität? Die Pest an den Hals, die reine Pest und nichts als die Pest!

Andererseits.

Wenn ihr die Arbeit wirklich niederlegen und sie niemals wieder aufheben würdet, wenn ihr diese Drecksarbeit zu verrichten euch weigern würdet, kompromisslos, und sie für kein Geld der Welt wieder aufnehmen würdet, wenn ihr euch stattdessen andere Jobs suchen und keine finden würdet, wenn ihr darüber verzweifelt, krank und depressiv würdet, wenn ihr dann von einem unterbezahlten rückgratlosen Systemknecht geknechtet würdet, der euch schwarz auf weiß bescheinigt,


- dass ihr kerngesund, arbeitsfähig und halt nur zu faul zur Jobsuche wärt, und ihr, Auge in Auge mit dem Systemknecht, ihm die Pest auf den Hals wünschen würdet, die reine Pest und nichts als die Pest - dann könnten wir über Solidarität reden.

Vorher keinesfalls.

1 Kommentar:

  1. Mir fiel dazu gerade die Bezeichnung "Henkersknechte" ein.

    cu
    renée

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