Samstag, 12. November 2011

Let it roll


Ein anderes Wort für einen Nagel, der von einem rollenden Stein auf den Kopf getroffen wird? Antwort: Matt Taibbi, Kolumnist bei dem amerikanischen Magazin Rolling Stone.

Matt Taibbi antwortet auf die notorische Frage "Was wollen die eigentlich?" - gern kopfschüttelnd und verständnislos gestellt - mit einem Artikel, den er überschreibt:
"How I stopped worrying and learned to love the OWS protests"
Taibbi ist sich nicht zu schade einzugestehen, dass er die Occupy-Bewegung anfangs kritisch beäugt und seinem Bedürfnis nachgegeben hatte, sich von ihr - wenn auch wohlwollend - zu distanzieren.
At first, I misunderstood Occupy Wall Street.

The first few times I went down to Zuccotti Park, I came away with mixed feelings. I loved the energy and was amazed by the obvious organic appeal of the movement, the way it was growing on its own. But my initial impression was that it would not be taken very seriously by the Citibanks and Goldman Sachs of the world. You could put 50.000 angry protesters on Wall Street, 100.000 even, and Lloyd Blankfein is probably not going to break a sweat. ... Yell and scream all you want, but he and his fellow Frankensteins are the only ones who know how to turn the machine off.

That's what I was thinking during the first weeks of the protests. But I'm beginning to see another angle.
Je mehr Taibbi zu der Bewegung Tuchfühlung aufnahm, desto weniger interessierten ihn Fragen wie jene, wofür oder wogegen die Aktivisten auf der Straße eigentlich seien oder wann diese sich endlich bequemen würden, einen konkreten, klar umrissenen Forderungkatalog zu präsentieren (die allseitige Forderung nach Forderungen ist auch hierzulande unüberhörbar).
Occupy Wall Street was always about something much bigger than a movement against big banks and modern finance. It's about providing a forum to people to show how tired they are not just of Wall Street, but enerything. This is a visceral, impassioned, deep-seated rejection of the entire direction of our society, a refusal to take even one more step forward into the shallow commercial abyss of phoniness, short-term calculation, withered idalism and intellectual bankruptcy that American mass society has become. If there is such a thing as going on strike from one's own culture, this ist it.
Das ist der Nagel: die herrschende Kultur in aller ihrer Deformation und Kaputtheit zu 'bestreiken' und den Versuch einer anderen Lebensform (ich habe das neulich ein 'soziales Experiment' genannt) dagegen zu setzen. Das mag als Entwurf schlichter klingen, als es manchem lieb ist, ist aber nun mal so.
They (OWS) don't care what we think they're about, or should be about. They just want something different.
In anderen Worten: Die Bewegung, die Camps, der belagerte öffentliche Raum existiert, weil er existiert. Occupy existiert, um zu existieren. Nicht mehr (zunächst), aber auch nicht weniger.

Das war jetzt der Nagel. Und wo ist des Nagels Kopf? Hier:
People don't know exactly what they want, but as one friend of mine put it, they know one thing: FUCK THIS SHIT! We want something different: a different life, with different values, or at least a chance at different values.
Und genau das probieren wir einfach aus. Mit unglaublich viel Pannen, Bauchlandungen, Fehlzündungen; mit unglaublich viel Erfolg und Befriedigung, sonst würde es uns alle hier bei kälter und unwirtlicher werdenden Umständen nicht halten.
People want to go someplace for at least five minutes where no one is trying to bleed you or sell you something. It may not be a real model for anything, but it's at least a place where people are free to dream of some other way for human beings to get along, beyond auctioned "democracy", tyrannical commerce and the bottom line.
Es macht Freude, das zu lesen, weil es Freude macht, sich verstanden zu fühlen.

Matt Taibbi schließt mit den Worten:
Eventually the Occupy movement will need to be specific about how it wants to change the world. But for right now, it just needs to grow. And if it wants to sleep on the streets for a while and not structure itself into a traditional campaign of grassroots organizing, it should. It doesn't need to tell the world what it wants. It is succeeding, for now, just by being something different.
That hits the nail on the head.
Oder: Occupy-Naachel uff de Kopp getroffe (wie der Frankfurter sagt).


8 Kommentare:

  1. sehr schön frau mop,ich danke dir. genau deswegen liebe ih occupy, auch wenn ich aktuell physisch nicht present sein kann.

    AntwortenLöschen
  2. seh ich ähnlich. Die Bewegung soll zunächst bewegen (die grauen Zellen, den Arsch vor die Tür...).

    Und der ist auch richtig:
    "But for right now, it just needs to grow."

    In der Zeitung "Die Welt" wurde eine ganze, komplette Seite der Bewegung zuteil. In den Medien ist sie jetzt sicherlich angekommen, nur bei den Menschen noch nicht. Wäre schön, wenn mehr wüssten, was los ist.

    AntwortenLöschen
  3. "abyss of phoniness, short-term calculation, withered idalism and intellectual bankruptcy ... " - diese "herrschende Kultur in aller ihrer Deformation und Kaputtheit zu 'bestreiken' ..."

    Irgendwie war klar, daß die Änderung, die wir brauchen, eine ganz und gar große sein muß. Ich war bisher ratlos, wie sie anfangen könnte, aber wenn ich bemerke, wie meine guts auf solche Sätze reagieren, löst sich die Ratlosigkeit auf.
    Ich weiß vielleicht dadurch noch nicht mehr, aber es macht wieder mehr Freude, am Leben zu sein.

    Great hug!
    Good night, and good luck.

    AntwortenLöschen
  4. Nennen wir das Kind doch beim Namen: es geht um nichts anderes als um die Freiheit. Ihr wollt im Camp eine Küche, also organisiert ihr die. Dafür wollt ihr keinen Antrag mit fünf Durchschlägen bei irgendeiner Behörde stellen und dann irgendwelche Hygienevorschriften einhalten. Ihr wollt selbstbestimmt und eigenverantwortlich die Dinge in die Hand nehmen und frei entscheiden.
    Ich finde es gut, dass ihr bisher noch keine Forderungen aufgestellt hat. Denn ich befürchte, dass ihr - um zu diesen Forderungen zu kommen - euch eine Struktur geben müsst, die euch wiederum eure Freiheit ein Stück nimmt. Eine Forderung kann nicht mehr die 99% vertreten, sondern immer nur einen Teil und genau deren Freiheit wird genommen. Das ist zwar seltsam, aber auch der freie Akt, Aufgaben und Verantwortung auf andere zu delegieren, bleibt ein Akt des Freiheitsverzichtes.
    Vielleicht sollte eure Botschaft lauten: nehmt euch eure eigene Freiheit wieder zurück! Und ihr macht in eurem Camp nichts anderes, als einen möglichen Weg aufzuzeigen, wie es gehen kann!
    Und jeder kann etwas ändern. Statt das Geld zur Bank zu tragen, kann man ja im Freundes- oder Nachbarschaftskreis fragen, ob jemand Geld braucht und einen Privatkredit gewähren. Klar, das ist ungewöhnlich und ein Risiko, aber das Risiko ist nicht mehr größer als es zur Bank zu bringen :)
    Es gibt den besten Film aller Zeiten, er heißt Life of Brian. Da gibt es diese geniale Szene, als er nackt am Fenster steht und seinen Anhängern die Botschaft verkündet: "Ihr seid alle Individuen!" und die Meute blökt zurück: "Ja, wir sind alle Individuen!" So ist für mich occupy - ihr lebt die Lösung vor und wir sehen es, verstehen es aber nicht ;-)

    AntwortenLöschen
  5. @ Marc

    ganz so ist es ja auch nicht, frau mop dokumentiert das hier doch ausführlich. sind doch auch ausreichend forderungen dabei!

    n8
    hoffe ihr habt ausreichend wärmeflaschen im schlafsack!

    AntwortenLöschen
  6. @Marc,
    das mit Lösungen vorleben funktioniert so nicht. Unserer Gesellschaften haben sich stark verändert. Die Entwicklung (Fortschritt) ging mit dem rücksichtlosen Ausbeuten des Planeten einher, das Dorfleben von früher mit funktionierenden Strukturen lässt sich nicht auf die Metropolen übertragen. Das Camp ist kein "Aussteigermodell". Es soll in erster Linie aufklären, informieren und die Menschen erreichen damit sich etwas verändern kann. Es geht nicht mal nur um die Banken und ihre absurden Geschäfte, es geht um alles, um unsere Zukunft.

    AntwortenLöschen
  7. @KL
    Es ist wie das Betreten von Neuland. Unbekannt, und doch auf merkwürdige Weise vertraut. Wie eine ferne Erinnerung, dass selbstorganisiertes Leben eigentlich das Selbstverständlichste der Welt ist. Wir haben es uns nur völlig abtrainieren lassen. Und jetzt lernen wir es neu, mit all der damit verbundenen Mühsal, aber eben auch einer großen Bereicherung.

    Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wohin die Reise gehen wird, habe meine Entscheidung mitzumachen aber noch keine Minute bereut. Es fegt mein bisheriges Leben und meine alten Gewohnheiten kolossal durcheinander, und was dabei heraus kommt, ist mit einem Wort: belebend.

    @Marc
    "Ich finde es gut, dass ihr bisher noch keine Forderungen aufgestellt hat. Denn ich befürchte, dass ihr - um zu diesen Forderungen zu kommen - euch eine Struktur geben müsst, die euch wiederum eure Freiheit ein Stück nimmt."

    Absolut. Ich nehme diese Forderung nach Forderungen als einen (teils manipulativen) Druck von außen wahr, dem sich zu beugen ich keinerlei Notwendigkeit sehe, geschweige denn ein Bedürfnis. Etwa so, als ob mich jemand ins Klo einsperren will, obwohl ich gar nicht muss :).

    @spinne
    He, zum jetzigen Zeitpunkt sind Wärmflaschen strategisch tausendmal sinnvoller als Forderungen ;)!

    AntwortenLöschen
  8. @ mrs mop

    magst recht haben u.ich nehme meine anfängliche forderung nach forderungen hiermit zurück (die ohnehin überflüssig weil längst integriert)u.verbleibe mit den wärmsten empfehlungen an die occupanten. wenn ich könnte, würde ich wirklich gerne anreisen u. ganz ohne forderungen dafür aber mit nem förderlichen sack voll heißen sachen. ich hab hier aber noch ein paar unangenehme gerichtstermine u. leide zudem an einem noch unangenehmeren knock out.time will show..
    keep steady!

    AntwortenLöschen