Montag, 5. September 2011

Arm, dumm, wertlos


Neuerdings geht's aber auch Schlag auf Schlag. Bilde ich mir das nur ein oder werden die Einschläge tatsächlich immer dichter? Jedenfalls, so viel steht fest, bei mir werden die Momente immer dichter, wo ich unterm Tisch krieche auf der Suche nach meiner Kinnlade. Letztere folgt immer häufiger der Schwerkraft, wenn mal wieder ein reaktionärer Zeitgenosse unter dem Deckmantel des Konservativismus faschistisches Gedankengut in den öffentlichen Raum emittiert.

Ich meine, man ist ja einiges gewohnt in Deutschland, so mit einem Sarrazin und Konsorten. Wo schon mal die konservative Zunge ausrutschen darf und hinterher war's gar nicht so reaktionär gemeint; wobei mittlerweile - oder täusche ich mich? - es hinterher durchaus so gemeint sein darf, wie's vorher von der Zunge gerutscht war - also, so ganz ungeniert eben und frisch von der Leber weg, und ein Blatt vor den Mund muss ebenso wenig genommen werden wie Rücksicht auf irgendwelche Randgruppen, die längst durch den gesellschaftlichen Rost gefallen sind und deswegen keine Rücksicht mehr verdienen. Speziell Randgruppen, die längst gar keine Randgruppen mehr sind, sondern auf dem besten Weg, die Mehrheit der Gesellschaft abzubilden.

Und damit hinüber nach Amerika und "the poor people". Wie, poor people? Hey, aber die sind doch gar nicht arm! Diese 43 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, können in Wirklichkeit gar nicht arm sein, denn 99,6 Prozent von ihnen besitzen - Achtung, Kinnlade festhalten - einen Kühlschrank! Womit bewiesen ist (siehe Video), dass ein Kühlschrankbesitzer nicht arm sein kann, denn sonst besäße er ja keinen Kühlschrank. Vermutlich gehört heutzutage bereits zur Mittelschicht, wer sich Klopapier leisten kann.

Dass einer von 'denen da unten' trotz seines - sicherlich stets üppig gefüllten - Kühlschrankes arm ist, wird dabei gar nicht abgestritten, allerdings nicht weil er hungert, sondern weil er in Wahrheit - Kinnlade bitte anschnallen - arm im Geiste ist:
"Die Vorstellung, die wir von armen Leuten haben, hungernd und in ärmlichen Verhältnissen lebend, ist nicht akkurat. Viele von ihnen besitzen viele Dinge - was ihnen fehlt, ist der Reichtum an Geist (richness of spirit)."

Nie war es so einfach wie heute, seiner Verachtung für die Unterschicht freien Lauf zu lassen. Hier wird vorgemacht, wie's geht: einfach die Taktik der Entmenschlichung anwenden. Denn Menschen, die es nicht wert sind, als menschliche Wesen respektiert zu werden, sind viel leichter abzuwerten. Genauer, zu entwerten; sie nicht nur als Trash zu bezeichnen, sondern auch als Trash zu behandeln.

Sitzt die Kinnlade wieder fest? Okay. Nun zur neuesten Folge aus der Serienproduktion Human Trash Disposal, deutsch: Wie entsorge ich menschlichen Müll? An der Verachtungsschraube wurde dramaturgisch noch ein wenig gedreht; herausgekommen ist, im salonfähigen Gewand konservativer Vernunft, unverhüllt faschistische Gedankentiefe in der Onlinezeitschrift American Thinker. Die Überschrift sagt alles:
"Die Armen zum Wählen zuzulassen ist unamerikanisch."
Warum unamerikanisch? Weil die armen Leute Amerika schaden. Dem reichen Amerika.
"Ihnen (den Armen) das Wählen zu erlauben ist in etwa so, wie Kriminellen Einbruchswerkzeuge auszuhändigen. Es ist zutiefst antisozial und unamerikanisch, die nichtproduktiven Segmente der Bevölkerung zu ermächtigen, unser Land zu zerstören."
Man beachte - neben der verächtlichen, elitären Haltung gegenüber Armen - den entmenschlichenden Sprachgebrauch ("nonproductive segments of the population"), mit dessen Hilfe die Verächtlichmachung gleich viel leichter von der Hand geht.
"Wenn diejenigen, die der Gesellschaft zur Last fallen, zur Teilnahme an Wahlen aufgerufen werden, dann hilft man damit nicht den Armen. Vielmehr hilft man damit den Armen, sich an anderer Leute Geld zu vergreifen (help themselves to others' money)."
Interessant. Wenn es als unamerikanisch gilt, sich an anderer Leute Geld zu vergreifen, wüsste ich auf Anhieb eine ganze Reihe von Leuten, denen die Teilnahme an Wahlen verboten gehört, und das wären gewiss nicht die Armen. Im Gegenteil. Diesen Leuten das Wählen zu erlauben läuft auf nichts anderes hinaus, als großen Segmenten der Bevölkerung das Bailout-Geld aus der Tasche zu ziehen, bis diese verarmen und infolgedessen zu arm im Geiste sind, um noch zwischen ihrem Kühlschrank und der Wahlurne unterscheiden zu können und deshalb vom Wählen abgehalten werden müssen.

Wenn derart antisoziale Hasstiraden von geistig verarmten Zombies in einer angesehenen, als konservativ geltenden Zeitschrift ungeniert ausgespeit werden können, ist es zur offenen Menschenhatz nicht mehr weit. Das gern zitierte 'Let them eat cake' wäre dabei noch eine Verniedlichung des rhetorischen Status quo in den einschlägigen Kreisen. Hier wird unverblümt gefordert, ganze Bevölkerungsgruppen aus der Gemeinschaft auszugrenzen, ja auszustoßen.

Gemessen an der aktuellen Misere in Amerika und der absehbaren Entwicklung handelt es sich wohl bald um die Bevölkerungsmehrheit. Irgendwann wird's brenzlig für die verbleibende Minderheit. Da helfen dann auch keine Armenhäuser, Obdachlosenasyle und Arbeitslager mehr. Vielleicht doch lieber erschießen?

15 Kommentare:

  1. Horrorautor Stephen King hat mal unter dem Pseudonym "Richard Bachmann" eine Reihe besonders trivialer Romane veröffentlich, darunter einige social fictions: Todesmarsch und Menschenjagd. Stilistisch mögen sie fastfood sein, aber die darin beschriebenen Szenarien sind heute erschreckend nah an der Wirklichkeit.

    Das von Dir verlinkte video und der Hinweis auf american thinker haben mich an diese Krankenhausschmöker erinnert... heute gruselts mich doppelt!

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  2. Nicht gruseln! Dagegenhalten!

    "Es ist zutiefst antisozial und unamerikanisch, die nichtproduktiven Segmente der Bevölkerung zu ermächtigen, unser Land zu zerstören."

    Und jetzt alle: 'So rum wird ein Schuh draus!'

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  3. Habe mir den Artikel von American Psycho, eeeh Thinker(das ist der Roman an den ich hier denken musste...) + Kommentare angetan(wo findest Du nur immer solches Zeug?).
    Ich möchte jetzt wirklich nicht eine ganze Nation über einen Kamm scheren, aber ich empfinde seit länger schon eine solche tiefgründige Verachtung gegenüber den USA und fast allem für was sie stehen, gleichzeitig aber tun mir viele Menschen dort so unglaublich Leid.
    Immer wenn ich denke, es kann nicht schlimmer kommen, werde ich vom Gegenteil überzeugt.

    Ich bin ratlos - woher kommt solche kranke Denkweise? Das sind doch Soziopathen...
    Woher dieser Hass? Warum? Was muss einem Menschen passieren, dass man so denkt? Ich begreife es nicht.
    Der Mensch an sich ist nicht schlecht sondern gut. Daran glaube ich ganz fest.

    Guter Kommentar:
    "You folks who agree with this asinine article will be the first ones to bitch when you lose your job and can't get unemployment insurance, health insurance and food stamps after your guys get rid of any support for the poor. You'll also still be paying taxes when you scrape up enough for a new pair of shoe's for your job search. Karma's fun to watch.
    You people need to be slapped silly."
    (aber ganz feste, damit das Hirn wieder in die richtige Position rutscht!"

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  4. Ein sehr guter Kommentar, den Du da zitierst! Ja, die scheinen förmlich drauf zu warten, endlich mal ganz martialisch in den Hintern getreten zu bekommen -sie betteln nachgerade darum.

    Ich denke aber, diese Unterschichtenverachtung ist nichts spezifisch US-amerikanisches. So etwas kannst Du aus dem Mund von David Cameron (Großbritannien) fast täglich hören. Den feinen Herrn Sarrazin (Deutschland) hatte ich ja schon erwähnt. Mag sein, dass es zwischen den einzelnen Ländern noch graduelle Unterschiede gibt; substantiell läuft es überall aufs Gleiche hinaus.

    Warte nur, bis die Armut hierzulande ähnliche Dimensionen annimmt wie in Amerika - dann kommen sie auch hier aus ihren Löchern gekrochen und lesen uns Geschichten aus dem Wörterbuch des Unmenschen vor.

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  5. Jetzt aber mal langsam hier! So arm können die doch gar nicht sein, wenn die noch nicht Hungers gestorben sind!

    Offensichtlich haben wir nichts aus dem vergangenen Jahrhundert gelernt.
    Man sollte vielleicht einen einfachen Test einführen: Wenn man etwas über bestimmte Menschengruppen sagt, dann sollte man die Menschengruppe mal durch das Wort "Juden" ersetzen. Wenn man danach bei dem Satz irgendwie ein komisches Gefühl bekommt: Fresse halten! Und am besten darüber nachdenken, warum einem mulmig wird.

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  6. @Amike: Ganz ähnlich habe ich neulich auch argumentiert.

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  7. @ Rainer: Was die Armut oder den Test angeht?

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  8. @Amike: Ich meinte den Test.

    @Frau Mop: Ich verbitte mir das...;-)

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  9. Mich wundert der mist da nicht.
    Die USA haben sich gegründet auf die moral und den geist der puritanischen pilgerväter. Wer ein wenig koloniale geschichte der nordamerikanischen staaten kennt, weiß woher diese feste überzeugung "arm ist trash" kommt.
    Gerade in dem schlichten weltbild der calvinisten zeigte sich gottgefälligkeit in wirtschaftlichem erfolg. Wer nicht reich wurde, der hatte es halt mit gott verschissen, war der (kurz)schluss.

    Und wer es mit gott versch*n hatte, den wollte man auf keinen fall in der nähe haben, der könnte einen ja anstecken...

    Gruß bel.

    Rainer, gibs zu: du hast nicht den test gemeint;-)

    @amike. ja den test kenn ich, wenn ich das aber sage, kommt prompt der satz: das könne man nicht vergleichen.
    Was mach ich dann? Den deppen auf die schuhe kotzen? Irgendeine konstruktive idee?

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  10. @Mrs. Mop: ja, ich fürchte, dass Du Recht hast. Die Unterschiede sind nicht mehr groß, sind aber noch da. Mir kommen manche Amis aber so dermaßen verblödet aber auch hasserfüllt vor, z.B. Michelle Bachman oder Sarah Palin, gerade eben auch Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Ich bin mir sicher, würde eine "öffentliche Person" bei "uns" so einen Müll verzapfen, wäre sie erledigt. Für immer. Nicht in den USA...

    http://www.buzzfeed.com/mjs538/the-10-craziest-michele-bachmann-quotes(hier fehlen noch die "besten")

    aaah ja, hier sind sie doch alle: http://politicalhumor.about.com/od/republicans/a/michele-bachmann-quotes.htm


    @Amike, das Problem ist aber, dass solche Menschen NIEMALS ein komisches Gefühl bekommen. So fühlen die nicht. Bitte lese mal die Definition von "Soziopath" bei Wikipedia :-). Dir wird etwas aufallen, bin mir sicher(das passt nämlich zu den meisten Politikern!).

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  11. @bel: "Rainer, gibs zu: du hast nicht den test gemeint;-)"

    Es ist ja nicht so, daß es wichtig wäre. Meine Antwort ist aber: Doch!

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  12. @bel, Amike
    Hier ist ein brillianter Videokommentar von dem brillianten Cenk Uygur zu dem Artikel im American Thinker ("Stinker" wird die Zeitschrift inzwischen in amerikanischen Blogs genannt) und der Forderung, den Armen das Wählen zu verbieten.

    Es gibt, gottlob, auch in Amerika noch "unverblödete" (Amike), "nicht-gottgefällige" (bel) Menschen, die etwas zu sagen haben und dies auch tun. (Hm, okay, in diesem Fall handelt es sich um einen Amerikaner türkischer Herkunft.)

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  13. Jetzt hab ich Amike mit Amató verwechselt. Mönsch. Tschuldigung!

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  14. Macht nichts!(mein "richtiger" Name ist Alex, wenn Dich der Strich bei Amatō nervt ;-))

    Schönes Video, danke! Sehr sympathisch, der Cenk Uygur. :-)
    Es gibt viele wunderbare Menschen in Amerika, zum Glück. Leider haben aber gerade diese klugen und vernünftigen wenig oder keine Macht - die öffentliche Meinung wird von denen mit Geld beeinflusst(wie z.B. die Koch Brüder + FOX "News" usw.).
    Und Geld verdirbt den Charakter, das wissen wir doch alle. ;-)
    Und da viele Amerikaner nicht so gut gebildet sind(das liegt aber auch an ihrem Bildungssystem) glauben sie diese Lügen. Ich habe dort mal eine zeitlang gelebt, Mrs. Mop( in Kalifornien). Zum Glück noch vor dem 9/11, es war aber oft wirklich erschreckend, Dinge wie der alltägliche Rassismus(mir war bis dahin nie klar, dass ich eine Weiße bin ;-)) und eben auch die schlechte Bildung vieler Amerikaner/damit verbundene Vorurteile, gerade bei denen, die eigentlich "bessere" Schulabschlüsse hatten. Was mir gut gefiel, war die bei vielen sehr ausgeprägte Bereitschaft, Lebensmittel/Kleidung zu spenden usw. Ich habe auch eine zeitlang in London gelebt- damals schon(98-99) gab es so viele junge Menschen, die nach Essen gebettelt haben. Schlimm...

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