Freitag, 17. Dezember 2010

Neues aus der Anstalt


Das Flachland hat mich wieder in seinen Klauen. Schade eigentlich - denn im Nachhinein betrachtet, hat so eine winterliche Zwangsisolation doch ihr Gutes. Hört man nämlich nach längerem sinnlosen Kämpfen auf, sich gegen sie zu wehren, macht sich - nach anfänglicher Resignation - große innere Ruhe breit.

Diesen Punkt erreichte ich gestern abend kurz vor Mitternacht, als ich draußen unter einer Pergola stand, der Schneesturm über die Höhen tobte und mir immer mal wieder eine Gischt aus eisigen Teilchen ins Gesicht wehte, die Schneemassen kontinuierlich wucherten und die paar Gebäude allmählich unter ihnen zu verschwinden schienen. Dort oben ruft kein Mensch nach Räumfahrzeugen oder Streusalz, und ob das da drüben einmal eine Straße oder ein Gehweg oder eine Wiese war, interessiert auch keinen.

Ich stand also unter der Pergola und hörte dem wilden Schneien zu - mit anderen Worten, ich lauschte der absoluten Stille. Spürte, wie sich in mir ein Hebel umlegte, verstand zunächst gar nicht, was da passierte, so sehr hatte ich mich bereits an dieses sorgenvolle Wie-komm-ich-bloß-nachhause-Rumgestresse gewöhnt. Dann trat ein Mitarbeiter des Krankenhauses nach draußen, stellte sich neben mich, rauchte seelenruhig eine Zigarette, sog genüsslich die kalte Luft ein und schwieg.

Eine ganze Zeitlang schwiegen wie gemeinsam den Schnee an und der Schnee schwieg uns an - es könnte eine Ewigkeit gewesen sein, vielleicht waren es auch nur fünf Minuten. Endlich sagte er, nach einem langgezogenen Seufzer: "Ja." Mehr nicht. Eine weitere kleine Ewigkeit verstrich.

Auf einmal hatte ich das sichere Gefühl, eines tiefen Einschnittes in mein Leben gewahr zu werden, hätte allerdings nicht beschwören können, ob es sich nicht doch um eine grandiose schneebedingte Halluzination handelte und hätte - wäre ich nach dem Unterschied zwischen beidem gefragt worden - vermutlich geantwortet, dass es keinen gibt und falls doch, mir dies völlig wurscht sei. Gefragt hat mich aber keiner; nur der Mann neben mir stieß einen zweiten befriedigten Seufzer aus: "Ja." Lange Pause. Und dann: "Hier oben gehen die Uhren anders."

In dem Moment war der Hebel endgültig umgelegt. Ich fügte mich der großen Ruhe. Alles andere war sehr, sehr weit weg.

Physisch wohlbehalten, jedoch mit leichtem mentalem Hangover kehrte ich ins Land der genormten Uhren zurück. Irgendwie habe ich den heutigen Tag sehr verlangsamt verbracht. Irgendwie merke ich auch, dass es im Flachland schwierig ist, die angemessenen Worte zu finden für die große Ruhe auf den schneeverwehten Berghöhen. Es will alles nicht so recht passen. Aber es wirkt nach. Passt schon, irgendwie.

5 Kommentare:

  1. So ähnlich ist es am Meer - bei Ebbe im Watt.

    Hach ja. Bald wieder. Unbedingt.
    Und am besten mal im Winter. Mit viel Eis und Schnee und Wind und so.

    Hach ja.

    Einen schönen 4. Advent wünsche ich...

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  2. Tolles Kontrastprogramm, habe ich leider noch nie erlebt. Bin Landratte.
    Danke.

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  3. Ich habe sofort an Thomas Mann (Zauberberg) gedacht.
    Hans Castorps Schneeskifahrt und Rückkkehr.

    Der verschneite Berghof und die Dehnung der Zeit, dort oben.

    All das steht mir vor Augen.
    Herzlichen Dank.
    S. Zeitblom

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  4. Die "Dehnung der Zeit": Das ist, in nur drei Worte verpackt, das, was ich erlebt habe. Diese drei Worte sind so stark, dass ich mich beim Lesen fast physisch wieder an jenem Ort von vorgestern abend fühle. Danke.

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  5. ich habe dieses gefühl sehr oft - z.b. im zug, wenn ich längere strecken fahre[n muß] und bücher lese und auch im wartezimmer beim arzt, wenn ich ja 'nix dafür kann', daß es länger dauert.. eigentlich immer, wenn mir durch äußere gegebenheiten meine handlungsfreiheit zumindest im gewissen maße [und durchaus halb 'freiwillig'] abgenommen wird.

    [ich hoffe, es stört nicht, wenn ich wellenhaft durchkämme?]

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