Sonntag, 16. August 2009

Risse im Planeten

Wie komme ich jetzt auf tektonische Verschiebungen? Ganz einfach: Heute vormittag den Balkon geputzt, der es nötig hatte, nachdem er gestern Abend Opfer einer spontanen Grillveranstaltung geworden war. Beim privaten Putzen höre ich gern Radio. Vorausgesetzt, es gibt gerade ein interessantes Thema. Das war heute morgen der Fall, es kündigte sich ein dreistündiges 'Sonntagsfeuilleton' an mit dem Schwerpunktthema Camping.
'Unterwegs mit Sack und Pack - Camping' hieß die Sendung, und es wurde eine kleine Kulturgeschichte des Zeltes versprochen. Klang schon mal gut. Der ganze Facettenreichtum des Zeltens sollte ausgeleuchtet werden, einschließlich einer Campingzeitreise ins Jahr 1959, einem aktuellen Einkaufsabenteuer vor Beginn einer Wüstenzelttour sowie einer Reminiszenz an die frühen Nomaden und Viehzüchter, deren Heim das Zelt war. Ein kulturgeschichtlicher Rundumschlag also. Bei so etwas ist gut putzen. Weiter hieß es vielversprechend in der Vorschau:
Wir sprechen mit einem Tourismussoziologen, einem Krimiautor und einem "Ostalgie"-Camper. Und schließlich erfahren Sie bei uns, warum das "urbane Camping" der neueste Trend ist.
Speziell der letzte Satz ließ mich aufhorchen; ich stellte schon mal die Putzrequisiten bereit. Urbanes Camping. Neuester Trend. Natürlich dachte ich sofort an die aus allen Nähten platzenden Tent Cities in Südkalifornien, wo immer mehr obdach- beziehungsweise arbeitslos gewordene Menschen sich unhäuslich einrichten, notdürftig, ohne fließend Wasser und Toiletten. Urbanes Camping im Jahr 2009 assoziiere ich mit ebendiesem Notstand. Das nun gleich als neuesten Trend über den Äther zu verkaufen, erschien mir frivol, aber vielleicht erwartete mich im Sonntagsfeuilleton, dem 'Kulturmagazin für Morgengenießer', ein handfestes Stück Satire. Ich persönlich finde ja, Feuilleton ohne Satire ist wie dünner Kaffee am Sonntagmorgen.

Jedenfalls - die Sendung begann, das Putzen begann, die Neugierde stieg. Dann lief die Sendung, ebenso das Putzen, die Neugierde lief mit und sagte, wart's ab bis zum Ende der Sendung, dann bringen sie bestimmt den Knaller mit den Zeltstädten. Drei Stunden sind lange. Nachdem der Balkon fertig war, habe ich während des Radiohörens ein Stück Wohnung nach dem anderen abgearbeitet. In der letzten halben Stunde schließlich - beim Fensterputzen - erfahre ich, was in Deutschland unter Urban Camping zu verstehen ist: ein der Erholung dienender Großstadtzeltplatz namens Tentstation nahe dem Berliner Hauptbahnhof, selbstverständlich mit fließend Wasser und Toiletten, außerdem Beachvolleyball und Kinderbastelstunden.
Okay. Nach dem Stopfen dieser Bildungslücke war die Sendung zu Ende und der Kelch der Obdachlosen-Zeltstädte am Hörer vorübergegangen. Weshalb sollten auch bei einer Kulturgeschichte des Zeltens die fernen Tent Cities erwähnt werden, wo es doch in Deutschland gar keine Zeltstädte gibt? Es gibt ja noch nicht mal eine Rezession in Deutschland, und wenn es eine gegeben haben sollte, dann ist die jetzt vorüber. Sagen alle. Muss ich jetzt nichts verlinken, trötet einem eh aus jedem medialen Rohr entgegen. Andererseits, auch in Amerika wird derzeit lautstark die angeblich endenwollende Krise besungen, und trotzdem haben sie Zeltstädte, Tendenz steigend.
Nach drei langen Stunden endete das 'Kulturmagazin für Morgengenießer' - 'feuilletonistisch, unterhaltend, ausgeschlafen' - mit den prophetischen Worten:
Wenn die Welt Risse bekommt, dann ist ein Zelt immer noch die sicherste Behausung.
Da mag etwas dran sein. Es kommt wohl auf den Blickwinkel an. Und auf die Erdbebenstärke.

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