Samstag, 10. März 2012

Schwabinggrad in Bankfurt


Ah, es riecht nach Frühling.

Kaum steigen die Temperaturen und regt sich zaghaftes Knospen, liegt ein Zauber von Zuversicht in der Luft und der Mensch fällt dem törichten Glauben anheim, alles könnte irgendwie gut werden. Weil - so denkt der frühlingshungrige Mensch - ab einem bestimmten Punkt die ganze Malaise keinesfalls mehr schlimmer und daher nur besser werden kann. Schließlich macht der Frühling es uns vor, also macht der Mensch es sich ebenfalls gern vor; dabei in seiner Zuversicht vergessend, dass alles, was schlecht läuft, stets noch schlechter laufen kann. Ähnlich einem Naturgesetz, dem ja auch der Frühling folgt, insofern als jedem hoffnungsgeschwängerten Frühling absehbar die nächste beschissene Kältewelle folgt.

Jetzt aber erst mal Frühlingsgefühle.

Die wird man ja wohl noch haben dürfen, dachte sich gestern auch IMF-Chefin Lagarde und frohlockte angesichts des griechischen PSI-Deals: "Es riecht nach Frühling!", im Verbund mit euphorischem Schnuppern der griechischen Regierung, allen voran des griechischen Finanzministers Venizelos, der befriedigt von einem "guten Tag" trötete, welcher "alle Erwartungen übertroffen" habe. Wessen Erwartungen, ließ er dabei offen, was im Überschwang von Frühlingsgefühlen schon mal vorkommen kann. Weil, sonst hätte er ja hinzufügen müssen, dass die griechische Bevölkerung erwartungsfroh noch mehr Arbeitslosigkeit, noch mehr Gehaltskürzungen, noch mehr Armut, noch mehr Hunger, noch mehr Obdachlosigkeit, kurz: noch mehr Rezession entgegenblickt. Siehe oben, jedem Frühling wohnt der Zauber der nächsten Kältewelle inne.

Derweil die einen vom Frühling schwelgen, ziehen die anderen, die Fröstelnden, sich warm an: "Greece is saved, Greeks are bankrupt." Griechenland ist gerettet, nur die Griechen sind bankrott, weshalb letztere sich abgewöhnt haben, um Hilfe zu rufen. Vielmehr sehen sich die ums Überleben kämpfenden Griechen veranlasst zu dem kollektiven Aufschrei: "Hört endlich auf uns zu retten!"

Schwabinggrad Ballett, 9. März vor der EZB in Frankfurt

Die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU-Kommission schnürt die Rettungspakete, von denen unsere Kronzeugen sagen: "Stop saving us!" Es ist ein Regime, das der griechische Ökonom Yanis Varoufakis "Bankrottokratie" nennt: Um zu verschleiern, dass die europäischen Banken sich verspekuliert haben und pleite sind, inszeniert die Troika ein großes Schuld-und-Sühne-Spektakel, in dem "die Griechen" die Rolle der reuigen Sünder und "die Deutschen" die der gestrengen Finanz-Zuchtmeister spielen sollen.
Das Schwabinggrad Ballett ist ein Hamburger Künstlerkollektiv, ein "mobiles Einsatzkommando von AktivistInnen, das immer dort mit politischen Aktionen, Performances oder auch als Demo-Marsch-Kapelle in Erscheinung tritt, wo sich der urbane Raum zum öffentlichen Verhandlungsort wandelt", um "jenseits ritualisierter linker Protestformen unerwartete Situationen herzustellen".

Letzteres ist dem Schwabinggrad Ballett gestern abend grandios gelungen: Bei einbrechender Dunkelheit und kalten, auf einen lauen Frühlingstag folgenden Temperaturen legte das Künstlerkollektiv eine unkonventionelle Polit-Performance hin, die alles bot, wonach das Herz sich jenseits ritualisierter linker Protestformen sehnt - Aufklärung im Agitprop-Stil, Aktionskunst, ruppige Live-Musik, Gesang, Videos aus Athen (auf große Leinwand projiziert und bissig kommentiert). Anfang Februar hatte die Künstlergruppe zehn Tage lang in Athen das Geschehen verfolgt, "um dort die Dinge, die das Gemeinwesen betreffen, auf der Straße zu suchen und die aktuellen Krisenproteste mit eigenen Aktionen zu begleiten".
Demonstranten, die die "Kakerlaken"-Strategie anwenden, ältere Damen, die Polizisten und Politiker beschimpfen, die "Generation 500 Euro", die Stadtteilversammlungen, in denen die Leute Selbsthilfe organisieren, das Stunde-Null-Gefühl, das bald-kommt-der-Aufstand-Gefühl, die Debatten und Depressionen: Wir tragen unsere Eindrücke vom Kampf der griechischen Bevölkerung mit dem Spardiktat dorthin, wo man über das Land zu Gericht sitzt.
- nämlich vor die Europäische Zentralbank in Frankfurt. Obwohl es bitter kalt war, lag ein Hauch von frühlingshafter Aufbruchstimmung in der Luft; eine Ahnung davon, was politische Aufklärungs- und Protestkultur zu leisten vermag, wenn sie ausgetretene Pfade verlässt und man sich von ihr überraschen, überrumpeln und einfangen lässt: kalte Füße, warmes Herz und waches Hirn. Stehender Applaus.

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